Psychiatr Prax 2009; 36(5): 205-207
DOI: 10.1055/s-0029-1220374
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Traumatisierungen bei Psychosepatienten: Weitere Argumente gegen das „bio-bio-bio Modell”?

Traumatic Experiences in Patients with Psychosis: More Arguments Against the „bio-bio-bio Model”?Ingo  Schäfer1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
02 July 2009 (online)

Dr. med. Ingo Schäfer

Von Steven Sharfstein, 2005–2006 Präsident der „American Psychiatric Association”, stammen einige pointierte Stellungnahmen. So müsse sich die Psychiatrie als Disziplin fragen, inwieweit sie zugelassen habe, dass „aus dem bio-psycho-sozialen Modell ein bio-bio-bio Modell” geworden sei [1]. Ähnlich provokant erschien auf den ersten Blick Sharfsteins Aussage, Gewalt in der Kindheit habe „denselben Stellenwert für die Psychiatrie wie Zigarettenrauchen für die restliche Medizin” [2]. Vor dem Hintergrund von Studien aus den letzten zwei Jahrzehnten, die den Stellenwert früher Traumatisierungen als bedeutsamen Risikofaktor für spätere psychische Störungen belegen, handelt es sich dabei eher um eine nüchterne Feststellung. Sowohl prospektive populationsbasierte Studien als auch Zwillingsstudien fanden nach Kontrolle weiterer psychosozialer Risikofaktoren, dass alle darin untersuchten psychischen Störungen nach früher Gewalt häufiger auftraten, teilweise im Sinne einer Dosis-Wirkungs-Beziehung. Unter anderem betraf dies Angststörungen, affektive Störungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen [3] [4] [5]. Im Gegensatz dazu waren zum Zusammenhang zwischen frühen Traumatisierungen und psychotischen Erkrankungen lange keine methodisch anspruchsvollen Studien verfügbar.

In den letzten Jahren begann sich dies zu ändern. So wurden inzwischen zahlreiche populationsbasierte Studien publiziert, die Zusammenhänge zwischen traumatischen Erfahrungen in frühen Lebensphasen, zumeist sexueller und körperlicher Gewalt, und späteren psychotischen Syndromen nahe legen (Übersicht bei [6]). Exemplarisch sei die Untersuchung von Janssen et al. [7] genannt. Darin wurde eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe von über 4000 Personen prospektiv im Hinblick auf das Auftreten psychotischer Symptome untersucht. Psychiatrisch unauffällige Personen, die sexuellen Missbrauch oder körperliche Misshandlung in der Kindheit berichteten, entwickelten in dieser Studie im Verlauf von 2 Jahren 7-fach wahrscheinlicher behandlungsbedürftige psychotische Symptome. Dies war auch nach Kontrolle möglicher weiterer Einflussvariablen, wie psychotischen Symptomen in der Familie, Drogenkonsum, Alter und Bildungsstand der Fall.

Mögliche Mechanismen, die zu einer Erhöhung des Psychoserisikos im Sinne einer „erworbenen Vulnerabilität” oder „Sensitivierung” [8] durch frühe Traumatisierungen führen, werden zum einen in den neurobiologischen Folgen traumatischer Erfahrungen vermutet. Dies betrifft etwa Veränderungen verschiedener Neurotransmittersysteme [9]. So ist gut belegt, dass frühe Traumatisierungen zu anhaltenden Veränderungen der neuroendokrinen Stressreaktivität führen, die auch für die Entstehung psychotischer Erkrankungen von Bedeutung sind [10] [11]. Auch direkte Auswirkungen auf das dopaminerge System werden aufgrund von tierexperimentellen Befunden und ersten Humanstudien diskutiert [12]. Zum anderen könnten die kognitiven und emotionalen Langzeitfolgen früher Traumatisierungen zur späteren Entstehung psychotischer Erkrankungen beitragen [13]. So stehen negative emotionale Zustände, geringer Selbstwert und ungünstige kognitive Schemata, die häufig in der Folge früher Traumatisierungen auftreten, im Mittelpunkt neuerer psychologischer Modelle der Psychoseentstehung [14] [15].

Während Zusammenhänge zwischen frühen Traumatisierungen und Psychosen in den letzten Jahren zunehmend empirische Unterstützung finden, ist die Häufigkeit und klinische Bedeutung traumatischer Erfahrungen bei Psychosepatienten bereits seit Langem gut belegt. In einer neueren Übersicht fassten Morgan und Fisher [16] 20 Studien zu früher sexueller und körperlicher Gewalt bei dieser Patientengruppe zusammen. Sexueller Missbrauch wurde im Mittel von 42 % der weiblichen und 28 % der männlichen Patienten berichtet, körperliche Misshandlung von 35 bzw. 38 %. Mindestens eine der beiden Formen früher Gewalt berichteten unabhängig vom Geschlecht 50 % der Patientinnen und Patienten. In verschiedenen Studien wiesen betroffene Patienten ein jüngeres Erkrankungsalter auf und profitierten schlechter von rehabilitativen Maßnahmen [17] [18]. Sie zeigten mehr depressive Symptome und Ängstlichkeit [18] [19], mehr Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten [17] und mehr Probleme in nahen Beziehungen [20]. Einer der am häufigsten berichteten Unterschiede betrifft ein signifikant stärkeres Ausmaß von Positivsymptomen bei traumatisierten Patienten, insbesondere von Halluzinationen verschiedener Sinnesmodalitäten [18] [21]. Wiederholt wurde auch berichtet, dass die Inhalte von Wahn und Halluzinationen mit traumatischen Erfahrungen zusammenhingen. So wurden nach sexuellem Missbrauch mehr sexuell getönte Wahninhalte berichtet oder es handelte sich bei imperativen, zu Suizid oder selbstverletzendem Verhalten auffordernden Stimmen, um die der Täter [22] [23]. Andere Untersuchungen fanden subtilere Zusammenhänge. Sie weisen darauf hin, dass Patientinnen und Patienten mit frühen Traumatisierungen akustische Halluzinationen häufiger als feindselig und bedrohlich erleben [24], oder diese mit Schuld- oder Schamgefühlen verbunden sind [25]. Schließlich werden Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die zu einem schweren Verlauf und einer schlechteren Prognose beitragen, bei Patienten mit Psychosen häufig unter- bzw. fehldiagnostiziert [26] [27]. Eine weitere, bei Psychosepatienten erst wenig untersuchte Folge früher traumatischer Erlebnisse, stellen dissoziative Symptome und deren Zusammenhänge mit psychotischem Erleben dar [28] [29].

Aus den genannten Befunden ergeben sich verschiedene klinische Implikationen. So wurde in den letzten Jahren verstärkt gefordert, psychosoziale Behandlungsangebote „traumasensibler” zu gestalten und unabhängig von ihrem jeweiligen Versorgungsauftrag wesentliche Grundprinzipien des Umganges mit traumatisierten Personen zu berücksichtigen [30] [31]. Dies beinhaltet unter anderem die eigenen Strukturen und Arbeitsabläufe daraufhin zu überprüfen, wie viel Sicherheit und Autonomie sie vermitteln und die Gefahr potenzieller Retraumatisierungen konsequent zu minimieren. Ein weiteres wichtiges Element traumasensibler Behandlung stellt die systematische Diagnostik traumatischer Erfahrungen dar [32]. Weiter wurde in den letzten Jahren begonnen auch „traumaspezifische” Interventionen an die Bedürfnisse von Menschen mit Psychosen und anderen schweren psychischen Erkrankungen anzupassen. Dazu zählen Therapieprogramme, die einen Schwerpunkt auf Stabilisierung und den Aufbau von Bewältigungsstrategien setzen [33] [34]. Aber auch mit expositionsbasierten Interventionen liegen im Einzel- [35] und Gruppenformat [36] [37] inzwischen positive Erfahrungen vor. Schließlich stellt die Arbeit mit „dialogfähigen” Stimmen gerade bei traumatisierten Psychosepatienten einen vielversprechenden Therapieansatz dar [38].

Die ätiologische und klinische Bedeutung von Traumatisierungen für einen Teil der Patienten mit psychotischen Erkrankungen wird durch eine wachsende Anzahl empirischer Befunde gestützt. Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig, ihren Beitrag zur Entstehung und Aufrechterhaltung belastender Symptome in klinisch-therapeutische Überlegungen einzubeziehen. Schließlich lässt die wachsende Literatur zur Bedeutung negativer Entwicklungseinflüssen für die Entstehung von Psychosen aber auch Ansätze zur Primärprävention dieser Erkrankungen deutlich werden. Oder, um mit Steven Sharfstein zu sprechen: „Interpersonelle Gewalt, besonders Gewalterlebnisse im Kindesalter, stellen die wichtigste einzelne Ursache psychischer Erkrankung dar, die vermeidbar wäre” [2].

Literatur

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Dr. med. Ingo Schäfer, MPH

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

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