Psychiatr Prax 2024; 51(04): 226-228
DOI: 10.1055/a-2266-6690
Mitteilungen ackpa

Bericht von der ackpa Jahrestagung am 14. und 15.03.2024 in Berlin-Neukölln: Psychiatrie: Ein lernendes System – brauchen wir neue Tätigkeitsprofile?

Karel Frasch

Nach den Begrüßungen durch Gastgeber Olaf Hardt ([Abb. 1]), Geschäftsführenden Direktor Thomas Wüstner, beide Vivantes Klinikum Neukölln, und der Sprecherin von ackpa, Bettina Wilms ([Abb. 2]), Querfurt, erhält der stellvertretende Sprecher, Karel Frasch ([Abb. 3]), Donauwörth, die Gelegenheit, seinen langjährigen Chef und ersten Referenten des Tages Thomas Becker (Seniorprofessor, Uni Leipzig, zuvor 2002–2022 BKH Günzburg / Uni Ulm), in Form einer kleinen Laudatio anzumoderieren. In seinem Vortrag „Profession und Erfahrung“ schlägt Becker einen weiten psychiatrisch-historischen Bogen im Lichte der gesellschaftlichen Strömungen unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungen im angloamerikanischen Raum: In den 1960ern standen sich biologische Psychiatrie und Gemeindepsychiatrie mehr oder weniger unverwandt gegenüber, erst nach und nach und in den USA sehr spät wurden „gemeindepsychiatrische“ Prinzipien wie Gleichbehandlung, Peer Support, Empowerment, Kooperation mit Psychologen und Recovery-Orientierung auch angesichts stark wachsender wissenschaftlicher Basis prominent in Szene gesetzt. Dies resultierte in entsprechenden Leitlinienempfehlungen. Demgegenüber, so Becker, sei in jüngerer Zeit eine „Ökonomisierung des Sozialen“ zu beobachten, was intensiven Austausch mit politischen Entscheidungsträgern erforderlich mache.

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Abb. 1 Olaf Hardt begrüßt die Teilnehmer*innen.
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Abb. 2 Bettina Wilms, Sprecherin.
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Abb. 3 Karel Frasch, stellv. Sprecher.

Den zweiten Vortrag, diesmal online, hielt Herbert Weisbrod-Frey, Heidelberg, Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und ehemaliger Leiter des Bereichs Gesundheitspolitik beim ver.di Bundesvorstand unter dem Titel „Wie viel Professionalität braucht die Psychiatrie? Die Perspektive der Patient*innen“: Die im Gefolge der Psychiatrie-Enquête ausgearbeitete Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) wurde, so Weisbrod-Frey, angesichts mangelnder Sanktionierung regelhaft unterschritten. Der 2016 erteilte Auftrag, eine neue Personalausstattung festzulegen, mündete (ohne dass hinreichend seriöse Daten zur Verfügung standen) in die Vorgaben der Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie PPP-RL, wobei hier entsprechende Sanktionierungen zwar vorgesehen, aber derzeit ausgesetzt sind. Welche Personalbemessung für eine leitliniengerechte Behandlung zugrunde zu legen ist, welche Qualitätsindikatoren zum Zuge kommen und inwiefern die Vorhaltung von Genesungsbegleitern budgetwirksam berücksichtigt wird, dürfte ebenso Gegenstand kommender Sitzungen sein wie die Berücksichtigung komorbider Intelligenzminderungen und die Ausweitung des Regelwerks auf die ambulante Behandlung.

Es folgte ein Referat der Past Präsidentin der Deutschen Ärztlichen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DÄVT) Beate Deckert, Würzburg, zur leider berechtigten Frage, ob die ärztliche Psychotherapie ein Auslaufmodell ist angesichts der zu erwartenden Flut an psychologischen und „Direkt“–Psychotherapeut*innen. Frau Deckert hob das spezifisch „Integrative“ der ärztlichen Psychotherapie hervor, wies aber auch auf die aufwendige Aus- und Weiterbildung hin, die den Arztberuf bei Wunsch, psychotherapeutisch zu arbeiten, im Vergleich zum Direktstudium weniger attraktiv erscheinen lasse. Außerdem herrsche hohe Unsicherheit angesichts teilweise kaum durchschaubarer bundeslandspezifischer Bedingungen und teilweiser Nichtanerkennung von analogen Befugnissen. Die psychologischen Psychotherapeuten seien griffiger organisiert und politisch damit einflussreicher als die sehr divers auftretenden Ärzteorganisationen mit ihren zahlreichen Partikularinteressen.

„Fachkräftemangel – müssen (psychiatrische) Krankenhausträger bescheidener werden?“ fragte der letzte Redner an diesem Vormittag, Paul Bohmke, Geschäftsführer des Pfalzklinikum Klingenmünster, einem psychiatrischen und neurologischen Großkrankenhaus und Träger von Angeboten der Eingliederungshilfe mit insgesamt über 2500 Mitarbeiter*innen. Deutschland verzeichne, so Bohmke, eine (noch) hohe Arztdichte: Derzeit seien etwas über 200 000 Ärzt*innen berufstätig. Die „Baby Boomer“ träten jedoch nach und nach in den Ruhestand ohne für genügend Nachwuchs gesorgt zu haben. Die Nachrekrutierung gestalte sich immer schwieriger und müsse perspektivisch, so Bohmke, mehr durch Ärzte mit ihren spezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten bewerkstelligt werden. Er nannte hierzu auch die Verwendung zeitgemäßer „Tools“ wie soziale Medien, „Corporate Benefits“ und flexible Arbeitszeitmodelle („Zeitwertkonto“, Lebensarbeitszeit, Stipendien bei Bleibezusage). Um am Markt weiterexistieren zu können, führe an ausgeklügelten „Human Resources“-Strategien kein Weg vorbei.

Nach der Mittagspause fand die ackpa Mitgliederversammlung statt. Diese wurde mit einer Gedenkminute an den verstorbenen Ehrenvorsitzenden, Prof. Dr. Manfred Bauer, Offenbach (1937–2024), eröffnet. Verabschiedet werden aus ackpa und dem Geschäftsführenden Ausschuss (GA), dem beide angehört hatten, Margareta Müller-Mbaye, Waldbreitbach, und Michael Berner, Karlsruhe – danke Euch beiden! Als neue ackpa Mitglieder begrüßt werden konnten Stylianos Banatas, Dinslaken, Attila Hirsch, Troisdorf, Deborah Janowitz, Stralsund, Michael Kluge, Glauchau, Raimund Steber, Memmingen, Christian Stoppel, Lutherstadt Wittenberg, und Burkhard Rehr, Geesthacht. Nach Hinweis auf die durch unseren Webmaster und Fotografen Dieter Hoppe modernisierte Website www.ackpa.de erstattete Sprecherin Bettina Wilms den Tätigkeitsbericht des GA: Es bestehen zahlreiche regelmäßige Kontakte zu / Mitgliedschaften in maßgeblichen Organisationen, insbesondere DGPPN (die Sprecherin und ihre beiden Stellvertreter sind Mitglieder des Vorstandes), BDK und APK (Andreas Bechdolf, Berlin-Kreuzberg/Friedrichshain und Christian Kieser, Potsdam), STÄKO (Sylvia Lorenz, Bad Salzungen) und zu politischen Akteuren. Desweiteren sind ackpa-Mitglieder an der Erarbeitung von Leitlinien beteiligt (u. a. Lille Mahler: Psychosoziale Therapien, Martin Schäfer: Bipolare Störungen). Neben der Jahrestagung findet alle zwei Jahre zusätzlich eine gemeinsame Konferenz mit der BDK statt (nächstmalig am 26./27.09.2024 in Magdeburg: „Weiterbildung am Vorabend eines Krankenhaus-Strukturwandels“). Im jeweils anderen Jahr soll eine ackpa online Konferenz auch kurzfristig zu aktuellen Themen zu tagen. Das ackpa Positionspapier wird nach Rekonstitution der Arbeitsgruppe unter Federführung von Olaf Hardt, Berlin-Neukölln und Martin Schäfer, Essen weiterbearbeitet. Nach dem Bericht der Kassenführerin Sylvia Lorenz und dem Ländersprecherupdate beginnt die Planung zu den Symposien (ackpa und ackpa-BDK; Einreichungsdeadline 19.04.) auf dem diesjährigen DGPPN Kongress (27.-30.11.2024), weitere wichtige Termine sind der Workshop des Netzwerks Steuerungs- und Anreizsysteme für eine moderne psychiatrische Versorgung (23.04. in Berlin-Wannsee), NFEP (03./04.06. in Berlin-Herzberge), Bundesambulanztreffen (06.06. in Hamburg) und die nächste ackpa Jahrestagung (13./14.03.2025 in Troisdorf). Anschließend wird Olaf Hardt, Berlin-Neukölln ohne Gegenstimme in den GA gewählt, herzlichen Glückwunsch! Weitere aktuelle Themen sind die leider noch immer nicht erreichte Kassenfinanzierung der Sprachmittlung und der doch recht unterschiedliche Umgang der Kliniken mit den Psychotherapiedirektstudent*innen (BQT III und nachfolgende Weiterbildung).

Der zweite Tag unter dem (neuen) Titel „Was braucht die Region?“ (Hintergründe unter https://ackpa.de/kommendekreis/), moderiert von Sylvia Lorenz, wurde eröffnet von Barbara Florange, Klinikdirektorin Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und Geschäftsführerin beim GFO-Verbund Olpe, die zum Thema „Empfehlungen des BMJ zum zukünftigen Umgang mit Unterbringungen in psychiatrischen Kliniken“ sprach. Sie skizzierte die nicht immer übersichtlichen rechtlichen Rahmenbedingungen (UN-Behindertenrechtskonvention, Europa-/Bundesrecht), wobei auch in Ermangelung rechtlicher Handhabemöglichkeiten durch die Behandler mit einer weiteren Zunahme von mehrjährigen Unterbringungen ohne (Zwangs-)Behandlungen zu rechnen sei. Anschließend stellte Olaf Hardt die „sektorübergreifende Behandlung am Vivantes Klinikum Neukölln: Herausforderungen und Hindernisse mit Blick auf die Transformation der psychiatrischen Behandlung mit den Mitteln des Krankenhauses“ vor – und damit auch die zweitgrößte Berliner Klinik, von der wiederum die Psychiatrie mit 194 Betten, 21 StäB- und 94 TK-Plätzen die größte Einzelklinik innerhalb des Hauses ist. Wie bereits beim bunten Vorabend vor Ort erlebt, ist die Migrantenquote in Neukölln sehr hoch. Die Schließungszeiten der entsprechenden Stationen sind überschaubar; durchschnittlich einmal täglich kommt es in der Klinik zu einem Übergriff. StäB, so Hardt, ist besonders im Hinblick auf den in Berlin prävalierenden Pflegekräftemangel eine praktikable Alternative. Nach einer kurzen Pause präsentierte Arno Deister, jahrzehntelanges ackpa Mitglied, DGPPN-Präsident 2017/18 und für die Bundesärztekammer Mitglied der AG PPP-RL des G-BA, erste Zahlen und Eindrücke vom zeitgleich stattgefundenen EPPIK-Abschlusssymposium am Tag zuvor: Aus 29 Kliniken für Erwachsenenpsychiatrie konnte ein plausibler Datensatz generiert worden; allein 70+% der Patient*innen wurden im Cluster 1 („Regelbedarf in allen drei Dimensionen“) verortet. Die entsprechend abgeleiteten Minutenwerte für die unterschiedlichen Berufsgruppen waren im Vergleich zur PPP-RL wenig überraschend weitaus höher, was im Lichte des Fachkräftemangels als große Herausforderung für alle beteiligten Akteure zu werten ist. Hier könnte eine Lösung im Rollout von Organisationsformen im Sinne regional orientierter globaler Krankenhausbudgets (oft unter der Bezeichnung „Regionalbudget“ beschrieben) liegen. Hier zeigt sich eine höhere Personaleffizienz im Hinblick auf die Patientenversorgung. Erfreulicherweise hat diese Perspektive auch in den Empfehlungen der Regierungskommission bereits Niederschlag gefunden. Eine intensive Tagung mit vielerlei brandaktuellen Themen und besonderem Rahmenprogramm geht zu Ende – wir freuen uns auf die nächste!



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Article published online:
08 May 2024

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