Z Orthop Unfall 2024; 162(02): 115-117
DOI: 10.1055/a-2255-0964
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

Interview mit Dr. med. Gudula Keller zum Thema Klima und Gesundheit: mehr Nachhaltigkeit in der orthopädischen Praxis

Susanne Meinrenken

Frau Dr. Keller, Ihre Praxis für Orthopädie trägt das Logo „Initiative Nachhaltige Praxis – Gesundheit und Klimaschutz verpflichtet“: Wie ist es dazu gekommen?

Antwort von Dr. med. Gudula Keller: Wir haben uns Anfang 2020 als regionale Initiative ärztlicher Kollegen verschiedener Fachgebiete Gedanken gemacht, wie wir unsere Arbeit im Sinne der Klimaschutzziele des Pariser Abkommens nachhaltiger gestalten können. Daraus ist eine 10-Punkte-Checkliste entstanden, die eine Handreichung für Praxen auf dem Weg zur Verminderung ihres CO2-Ausstoßes ist [1]. Wer sich hier aktiv beteiligt, kann dies mit dem o. g. Logo kenntlich machen. Außerdem verstehen wir uns als regionales Netzwerk klimagesunder Arztpraxen im Praxennetzwerk von KLUG e. V. [2].

Warum sollte man sich gerade in einer Arztpraxis für Nachhaltigkeit und Klimaschutz einsetzen?

Wie im einleitenden Text beschrieben, trägt der Gesundheitssektor relevant zu den Treibhausgasemissionen bei – also sollten alle in diesem Bereich Verantwortlichen zu mehr Klimaschutz beitragen. Es geht dabei auch darum, viele Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Hier haben die ambulant tätigen Ärzte in mehr als 100000 Praxen in Deutschland, ca. 44% der deutschen Ärzteschaft, durch ihren direkten Zugang zum Patienten als „Arzt des Vertrauens“ das Potenzial, große Teile der Bevölkerung zu erreichen. Denn viele Patienten kommen ja gerade zu uns, weil sie das Gefühl haben, aus Gesundheitsgründen ihren Lebensstil ändern zu müssen, und sind offen für Tipps zu Bewegung und Ernährung. Hier können wir Ärzte entscheidend dazu beitragen, den Menschen die Co-Benefits, also die gegenseitigen Vorteile von Klimaschutzmaßnahmen und Gesundheitsförderung, klarzumachen. Wege mit dem Rad zu erledigen, sich in der Natur zu bewegen und z. B. zu gärtnern, nützt der Gesundheit ebenso wie es Klima und Artenvielfalt schützt. Gerade die Planetary Health Diet, die auf wissenschaftlicher Grundlage Ernährungsgesundheit innerhalb der bestehenden planetaren Grenzen aufzeigt, bietet einen Ansatz, der von vielen Menschen angenommen wird [3]. Aber natürlich ist es auch entscheidend, die eigene Arbeit in der Praxis hin zu mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu verändern.

Und welche konkreten Möglichkeiten gibt es hierfür in der Arztpraxis? Wo gibt es Probleme?

Medikamente und Einkaufsmaterialien verursachen mehr als 80% der gesamten Treibhausgasemissionen einer Praxis. Und damit sind wir schon bei den Problemen: Denn als Praxisinhaber hat man zwar den Einkauf und die Verordnungen in der Hand, aber kann die Lieferketten der Produktanbieter nicht beeinflussen. Auch wenn das Thema langsam im Bewusstsein der Industrie angekommen ist [4], muss man noch immer viel Zeit und Energie in die Recherche nachhaltiger Anbieter investieren; einige Beispiele für solche Hersteller sind im einleitenden Text genannt. Hier ist tatsächlich das Ziel, ohne großes Nachdenken auf klimaschonende Produkte zurückgreifen zu können, die diesen Namen auch verdient haben.

Lässt sich trotzdem etwas erreichen?

Ja, trotz dieser Probleme lassen sich im Bereich Medikamente effektiv und einfach Maßnahmen umsetzen, z. B. indem man Medikamente sparsam verordnet und unnötige Vorratshaltung im Badezimmerschränkchen der Patienten vermeidet. Auch Produktproben der Pharmaindustrie in Kleinstverpackungen sind nicht zielführend. Für orthopädisch-unfallchirurgische Praxen weniger relevant, aber in der Allgemeinmedizin erheblich: Dosieraerosole enthalten Treibhausgase und haben eine vielfach schlechtere Klimawirkung im Vergleich zu Pulverinhalatoren [5]. Beim Materialeinkauf spart man neben CO2-Emissionen auch bares Geld, wenn Produkte in Großkanistern (z. B. Sonografiegel) eingekauft und Einwegmaterialien (z. B. Handschuhe, Papierrollen, Nierenschalen, Trinkbecher) nur verwendet werden, wenn es unbedingt nötig ist. Hier lohnt es sich, mit dem Praxisteam gemeinsam Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Mobilität von Patienten und Mitarbeitenden verursacht ca. 10% der CO2-Emissionen einer Arztpraxis. Hier lässt sich relativ einfach durch Nutzung von ÖPNV, Jobticket für Mitarbeitende und Zugreisen zu Kongressen und Seminaren gegensteuern. Und auch die Praxisfinanzen kann man in den Blick nehmen, vor allem, wenn man neu anfängt und nachhaltig orientierte Versicherungen und Banken als Partner wählt. Im Rahmen meiner Arztpraxis kann ich auch leicht auf Ökostrom umstellen und meine Website sowie E-Mail bei einem nachhaltigen Anbieter hosten.

Gibt es Maßnahmen, die speziell für die Orthopädie oder auch Unfallchirurgie sinnvoll sind?

Ein großer Hebel ist, Doppel- und Dreifachuntersuchungen speziell bei MRT- und CT-Diagnostik zu vermeiden. Die Bildgebung ist z. B. oft schon zu lange her, bevor der Rückenschmerzpatient den Termin beim Neurochirurgen oder Schmerztherapeuten für eine periradikuläre Spritzentherapie oder auch eine Operationsindikation bekommt. Dann müssen neue Aufnahmen gemacht werden. Um diese zu vermeiden, bedarf es einigen organisatorischen Geschicks – aber wenn das funktioniert, kann hier viel Energie und damit CO2-Ausstoß gespart werden. Wie bereits im einleitenden Text dargestellt, sind zudem klimafreundliche Veränderungen im Operationssaal sowie bei Verwendung bestimmter Materialien in unserem Fachgebiet sinnvoll. Neben diesen Maßnahmen ist aber auch zu bedenken, wie wir Ärzte die Patientenversorgung auch an ein Klima mit zunehmend heißeren Tagen anpassen. Speziell für Orthopädie und Unfallchirurgie heißt das z. B.: Hitze begünstigt Wundheilungsstörungen und Wundinfekte. Das muss praxisorganisatorisch bedacht werden; also sollten verschiebbare Eingriffe bei gefährdeten Patienten und vulnerablen Gruppen während heißer Perioden nicht durchgeführt werden. Insbesondere in Praxen ohne Kühlmöglichkeit sollten z. B. gelenk- und wirbelsäulennahe Injektionen verschoben werden. Patienten nach invasiven Eingriffen und mit versorgten Wunden sollte nahegelegt werden, sich in kühlen Gebäuden aufzuhalten.

Und an welcher Stelle müsste es mehr Unterstützung für die Praxen geben?

Wir in den Praxen können viel Papier sparen, wenn wir die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen nutzen, also Labor- und Röntgenbefunde sowie Arztbriefe konsequent digital übermitteln. Dies verbraucht jedoch durch die notwendigen Serverkapazitäten sehr viel Energie. Hier muss aus meiner Sicht das Bundesgesundheitsministerium nachsteuern und die Digitalisierungsoffensive mit der Nationalen Klimaschutzinitiative verbinden, indem z. B. die gematik oder DiGA-Anbieter zur Nutzung regenerativer Energiequellen verpflichtet werden. Berufsverbände und andere berufsständige Organisationen allerdings haben die Wichtigkeit des Themas bereits erkannt und unterstützen uns: Als wir angefangen haben, uns mit dem Thema zu beschäftigen, mussten wir bspw. feststellen, dass praktisch keine brauchbaren Informationsmaterialien verfügbar waren. Mittlerweile aber bietet u. a. der Virchowbund seit 2022 eine sehr gute Checkliste „Nachhaltige Praxis“ mit Beispielwerten zur CO2-Einsparung pro Woche an [6].

Lässt sich der Erfolg denn wirklich messen?

Die Frage der Messbarkeit von Nachhaltigkeitsmaßnahmen ist gar nicht so einfach. Wir haben als Initiative Nachhaltige Praxis gemeinsam mit der Stiftung Wilderness International einen CO2-Rechner speziell für Arztpraxen entwickelt, der ziemlich detailliert ist, aber auch anzeigt, wo die größten Emissionen der Praxis generiert werden sowie Tipps zu Einsparungen gibt. Am Ende ermöglicht das Programm eine Kompensationsoption über eine Spende zum Erwerb von Wildnisschutzgebieten [7]. Am Universitätsklinikum Heidelberg läuft bspw. das Projekt KliOL zur Entwicklung eines CO2-Rechners für Krankenhäuser unter besonderer Berücksichtigung der Lieferketten mit dem Ziel, 6000 Tonnen CO2-Äquivalente am UKHD innerhalb der 3-jährigen Laufzeit einzusparen. Der kostenlose Rechner ist bereits einsetzbar [8].

Wenn sich ein niedergelassener Arzt für mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz in seiner Praxis interessiert – wo erhält er weitere sinnvolle Informationen für die Umsetzung?

Auf der Internetseite der Kassenärztlichen Bundesvereinigung finden Praxen zum Thema Klimaschutz vor allem Hinweise zu Hitzeschutzmaßnahmen mit Schulungsmaterial für Praxen [9]. Auch bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit KLUG e. V. gibt es viele Informationen und Materialien [10]. Die Planetary Health Academy bietet Bildungsangebote für alle Gesundheitsberufe unter dem Leitsatz „vom Wissen zum transformativen Handeln“ an [11]. Zum Thema Nachhaltigkeit in der (chirurgischen) Praxis gibt es inzwischen zahlreiche informative Publikationen z. B. [12] [13]. Wer möchte, kann auch ein Qualitätssiegel Nachhaltige Praxis erwerben [14].

Welche Möglichkeiten gibt es, auch die Mitarbeitenden hin zur nachhaltigen Praxis gut einzubinden?

Mittlerweile gibt es tatsächlich Kursangebote zur zertifizierten Fortbildung als Praxis-Nachhaltigkeitsmanager für MFAs, Kosmetiker und PTAs sowie bald für Pflegefachkräfte bei der AGN-ZukunftsAkademie [15] oder zum greenviu Nachhaltigkeitsmanager [16]. Auch die Bundesärztekammer hat ein Musterfortbildungscurriculum „Klimawandel und Gesundheit“ mit 48 Unterrichtseinheiten entwickelt, das als Wahlmodul für die Aufstiegsfortbildung „Fachwirt/-in für ambulante medizinische Versorgung“ durch die Landesärztekammern anerkannt werden kann [17].



Publication History

Article published online:
22 March 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany