Z Geburtshilfe Neonatol 2024; 228(02): 135-136
DOI: 10.1055/a-2195-4245
Kommentar

Wie „süß“ darf es denn in der richtigen Position sein?

Gastkommentar zur S2k-Leitlinie Betreuung von Neugeborenen in der Geburtsklinik (AWMF-Register-Nr. 024–005)
Guido Stichtenoth
1   Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
› Author Affiliations

Dieser Titel pointiert die Hauptdiskussionspunkte der in dieser Ausgabe abgedruckten AWMF-S2k-Leitlinie 024–005 Versorgung von Neugeborenen in Geburtskliniken [1], die umfassend überarbeitet veröffentlicht wurde [2]. Acht Fachgesellschaften haben sich an deren Erstellung unter der Federführung der GNPI beteiligt. Entsprechend des vorgeschriebenen Procederes waren zwei Delphi-Runden erforderlich, bevor ein endgültiger Konsens erreicht wurde.

Um die Leitlinie praxisgerechter zu erstellen, wurden übersichtliche Tabellen eingefügt. Verglichen mit anderen unlängst erschienenen Leitlinien ist sie jedoch mit 18 Seiten ohne Literaturanhang noch relativ kurz formuliert. Es werden alle wichtigen und kritischen Fragen rund um die Geburt des gesunden Neugeborenen angesprochen.

Während der Konsensfindung gab es um die neu abgefassten Abschnitte zur Ausstattung der Erstversorgungseinheiten und die damit verbundene personellen Anforderungen wenig Diskussion. Im Gegensatz dazu wurden die Grundsätze des neonatalen Blutzucker-Screenings und der Lagerung und Überwachung des Neugeborenen im Kreißsaal heftig diskutiert. Hier galt es, eine Balance zwischen Vorgaben für einen überschaubaren Screening-Aufwand und der Höhe des damit verbundenen Risikos zu finden. Der Hintergrund ist die Uneinigkeit unter den nationalen und internationalen Fachgesellschaften darüber, welche Neugeborenen wann ein Blutzuckerscreening erhalten sollen. Dies wird durch jüngste Publikationen bestätigen [3] [4]. Auch ist nicht sicher, ab welcher Schwelle einer Hypoglykämie interveniert werden muss. Die Leitlinie steht für Neugeborene mit unterschiedlichen Risiken für Hypoglykämie. Darunter Reifgeborene, späte Frühgeborene aber auch hypertrophe Neugeborene diabetischer Mütter. Bei diesem Thema überschneidet sich die dargestellte Leitlinie mit der AWMF-Leitlinie 024–006 [5]. Da Leitlinien sich – nach Auffassung der Autoren – nicht widersprechen sollten, hat man die Autoren der AWMF-Leitlinie 024–006 aufgefordert, in der nächsten Überarbeitung die Risikogruppen genauer, z. B. anhand von Symptomatik und Geburtsgewicht, zu definieren, um so eine Reduktion der erforderlichen Blutzuckerkontrollen zu erreichen. Die Grundlage einer S2k-Leitlinie bleibt die Notwendigkeit, einen Konsens zu erreichen. Dieser wurde aber hinsichtlich des Blutzuckerscreenings, orientiert an Gewichtsperzentilen für hypo- und hypertrophe Neugeborene, nur schwerlich erreicht. Glücklicherweise wurden in diesem Themenbereich inzwischen Daten für eine bessere Evidenz erarbeitet. Die neuseeländische Arbeitsgruppe um Deborah Harris hat mit Hilfe von Glukosesensoren Blutzuckerwerte klinisch unauffälliger Neugeborener erhoben und so gezeigt, dass die 10. Perzentile der Blutzuckerwerte nach 4 Tagen von bis dahin 46 auf 70 mg/dl ansteigt [6]. In der AWMF-Leitlinie 024–005 wurde explizit darauf hingewiesen, dass bei Einhaltung der AWMF-Leitlinie 024–006 viele unnötige Blutzuckerkontrollen vermieden werden können. Dies wurde in einer praxisorientierten Tabelle, die Risikofaktoren, Symptome und Maßnahmen samt dem Ende der Blutglukosebestimmungen aufführt, zusammengefasst.

Reichlich Diskussion gab es zum Thema unerwarteter Todesfälle im Kreißsaal. So nimmt die Leitlinie den Begriff des sudden unexpected postnatal collapse (SUPC) neu auf. Dieses Vorgehen ist zeitgemäß, denn die SUPC-Definition beschreibt eine Gruppe scheinbar gesunder Neugeborener in der ersten Lebenswoche mit Apgar-Werten ≥7 und einem Gestationsalter >35 Schwangerschaftswochen, von denen ein großer Teil am ersten Lebenstag vom plötzlichen Tod/unerwarteten lebensbedrohlichen Ereignis betroffen ist. Die Inzidenz wird international mit 1,6–5/100000 Geburten beschrieben. Anderson et al. fanden in einer Analyse von 41 Mio. Geburten in den USA aus den Jahren 2004–2013 mit 37624 SIDS-Fällen im ersten Lebensjahr 616 SUPC-Fälle, von denen 11% am ersten Lebenstag eintraten und 50% fatal endeten [7]. SUPC findet also im Kreißsaal und in der Geburtsklinik vor unseren Augen statt und wir brauchen Strategien, diesen zu vermeiden. Die hierzu vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten haben Assoziations- und Risikofaktoren herausgearbeitet, mit denen der SUPC in Verbindung zu stehen scheint. Mit Primipara, Erschöpfung der Mutter, Bonding in Bauchlage und Verlegung der Atemwege werden einige benannt. Dazu gibt es Hinweise, dass ein maternales Alter ≥35Jahre, ein Body-Mass-Index >25 kg/m² und eine Geburtsuhrzeit zwischen 21:00 und 9:00 Uhr weitere Risikofaktoren sein können [8]. Eine japanische Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass in solchen Fällen selbst die Pulsoxymetrie keinen hundertprozentigen Schutz bietet [9]. Die Autoren dieser Leitlinie konnten im Delphi-Prozess einen Konsens für den Hinweis auf den SUPC mit den dazugehörigen Risikofaktoren und Überwachungsmaßnahmen erreichen.

Neben den dargestellten Themen wurden auch sozialpädiatrische Themen in die Leitlinie aufgenommen. So wurde eine Hilfestellung zur Detektion von Eltern mit Schwierigkeiten bei der Versorgung von Neugeborenen eingearbeitet und eine Forderung zur Reduktion der Sprachbarrieren, auch ggf. mit elektronischen Medien, bei Vorsorgen erhoben.

In den ersten Monaten der Anwendung wurde eine leichte Verunsicherung der Eltern hinsichtlich der Empfehlung zur Fluoridprophylaxe reflektiert. Wenn in den ersten 4 Lebenswochen nur die Gabe von Vitamin D ohne Fluorid stattfindet, empfiehlt die Leitlinie nun jenseits der Neonatalperiode die Hinzugabe von Fluorid.

Interessant war die Gender-Diskussion der Delphi-Runde um die ausschließliche Verwendung der weiblichen Berufsbezeichnungen. Das Autorenteam hat sich bewusst für den weiblichen Stil entschieden, um einerseits den Lesefluss zu verbessern und andererseits zu berücksichtigen, dass die angesprochenen Berufe überwiegend von weiblichen Personen ausgeübt werden. Einige Vertreter*innen der beteiligten Fachgesellschaften äußerten sich über den Stil befremdet.

Für die nächste Leitliniendiskussion sammeln wir bereits neue Themen. So soll das HBsAG-Screening im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorgen nun bereits zu Beginn einer Schwangerschaft erfolgen, um einen Therapiebeginn vor der 28. SSW zu ermöglichen [10].

Leitlinien unterliegen somit einem ständigen Wandel.



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Article published online:
12 April 2024

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