Gesundheitswesen 2023; 85(04): 223-224
DOI: 10.1055/a-2050-6442
Editorial

Editorial

Enno Swart
1   Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg Medizinische Fakultät, Magdeburg, Germany
,
Holger Gothe
2   Lehrstuhl Gesundheitswissenschaften/Public Health, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, TU Dresden, Dresden, Germany
3   Abt. Information und Kommunikation (IK), Hochschule Hannover Fakultat III Medien Information und Design, Hannover, Germany
,
Peter Ihle
4   PMV forschungsgruppe, University of Cologne, Köln, Germany
› Author Affiliations

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Liebe Leserinnen und Leser,

nach gut einem Jahr können wir nun das zweite AGENS-Supplement der GESU vorlegen. Auch dieses Heft ist durch eine Vielfalt von methodischen und inhaltlichen Beiträgen gekennzeichnet, die die Breite des Handwerkszeugs und der Anwendungsgebiete der Sekundärdatenanalyse zeigen. Nach Berichten vom vergangenen, erneut digitalen, AGENS-Methodenworkshop im Februar 2022 und einem Sachstandsbericht aus einer AGENS-Projektgruppe zur wissenschaftlichen Nutzung von PKV-Leistungsdaten folgen acht Beiträge zur Nutzung von Sekundärdaten, GKV-Daten und anderen Datenquellen, in verschiedenen Anwendungskontexten. Abschließend werden in einem Positionspapier Überlegungen zur künftigen Ausgestaltung des sich im Aufbau befindenden Forschungsdatenzentrums Gesundheit präsentiert.

Schüssel et al. berichten aus dem Innovationsfondsprojekt BURDEN 2020, in dem erstmals für Deutschland eine regionalisierte Krankheitslastberechnung mit Hilfe von GKV-Daten vorgenommen wurde, die als Planungsgrundlage für Bereiche wie Prävention, Versorgung oder Bedarfsplanung verwendet werden können. Es wird berichtet, wie für Erkrankungen aus sieben Krankheitsgruppen die Krankheitshäufigkeiten bis auf die Ebene der Bundesländer und Raumordnungsregionen systematisch ermittelt wurden und wie Methoden und Ergebnisse in einer Datenbank zur umfangreichen Nutzung durch die wissenschaftliche Community bereitgestellt werden. GKV-Daten bieten sich für diese Zwecke besonders an, weil sie wegen ihrer hohen Fallzahl eine regionale Disaggregierung und teilweise Schweregradschätzungen ermöglichen.

Epping et al. vergleichen Prävalenzen von Herzinfarkten in GKV-Abrechnungsdaten und aus Surveys und liefern damit wichtige Erkenntnisse zur Validität der in GKV-Daten enthaltenen diagnosespezifischen Informationen. Nach der Parallelisierung einer Versichertenstichprobe und der DEGS-Survey-Teilnehmer:innen bzgl. Geschlecht, Alter und Berufsbildungsabschluss sind kaum signifikante Unterschiede in der Herzinfarktprävalenz zwischen Krankenkassendaten und in Eigenangaben aus Surveybefragungen festzustellen. Verbliebene Unterschiede lassen sich nach Einschätzung der Autor:innen durch Ungenauigkeiten in der Berufsklassifikation der GKV-Daten bzw. Erinnerungsfehler bei selbstberichteten Krankheiten erklären.

In einem Beitrag zur internen Validierung von GKV-Daten untersuchen Reitzle et al. Algorithmen zur Differenzierung von Typ-1- und Typ-2-Diabetikern in GKV-Abrechnungsdaten. In GKV- Daten stellt die Definition und Abgrenzung erfahrungsgemäß eine besondere methodische Herausforderung dar. Zur Definition werden ambulante und stationäre Diagnosen sowie solche aus Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ebenso wie Antidiabetikaverordnungen herangezogen und mit Angaben aus den Disease-Management-Programmen auf Versichertenebene verglichen. Die Autor:innen schlussfolgern, dass sich bereits anhand weniger Merkmale wie Diagnosen, Arzneimittelverordnungen und dem Alter die Mehrzahl der Personen mit Diabetes einem Typ zuordnen lassen. Anwendungsgebiete des noch weiter zu validierenden Algorithmus werden z. B. in der Diabetes-Surveillance gesehen.

Eine weitere krankheitsspezifische Analyse aus einem Innovationsfondsprojekt legen Makowski et al. vor. Sie untersuchen die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Diagnostik und Therapie von Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit auf Grundlage von Sekundärdaten sowie den Einfluss des biologischen Geschlechts auf kurz- und langfristige Therapieerfolge. In der quer- und längsschnittlich angelegten Analyse wird sowohl die Qualität der Versorgung, ausweislich der dokumentierten Leitlinienadhärenz, wie auch der mittelfristige Outcome (Überleben, Fortschreiten der Krankheiten) untersucht. Die Autor:innen schlussfolgern, dass derartige diagnosespezifische Analysen mittels GKV-Daten geeignet sind, Versorgungsdefizite zu erkennen und Ansätze zu deren Verringerung aufzuzeigen.

In dem Beitrag von Achstetter et al. werden die Validität und Vergleichbarkeit (mit GKV-Daten) von Leistungsdaten privater Krankenversicherungsunternehmen untersucht. Diese Daten werden bislang selten in der Versorgungsforschung wissenschaftlich genutzt. Es zeigt sich, dass sich Besonderheiten dieser Daten und die Unterschiede zur GKV in abweichenden Begrifflichkeiten, in der Datenerfassung und -validität der Abrechnungsdaten sowie in der Nichterfassung von nicht zur Erstattung eingereichten Belegen bestehen. Diesen Problemen sollte zukünftig mehr Aufmerksamkeit und systematische Bearbeitung geschenkt werden, um die Versorgung der mehr als 10% in Deutschland privat krankenversicherten Bürger:innen besser abbilden zu können.

In Fortführung des im vorigen Supplements veröffentlichten Positionspapiers zur Etablierung eines leistungsfähigen Forschungsdatenzentrums Gesundheit konkretisieren March et al. ihre Vision von der Weiterentwicklung des FDZ. Der gesetzliche Rahmen zum Aufbau und Betrieb des FDZ wird im Sozialgesetzbuch und zwei dazu gehörigen Verordnungen zwar abgesteckt, lässt dessen konkrete Ausgestaltung auf der Organisations- und Arbeitsebene aber offen. Daher haben die Autor:innen aus Sicht der Forschung zehn Statements für eine Weiterentwicklung formuliert, die das Potential eines FDZ aufzeigen und Ideen für die weitere zukunftsfähige Ausgestaltung und Entwicklung mit Bestandskraft darlegen.

Bobeth et al. untersuchen in einem Innovationsfondsprojekt für verschiedene Krebsentitäten die Eignung verschiedener datenschutzkonformer Linkageverfahren für eine individuelle Verknüpfung von GKV- und Krebsregisterdaten. Dabei werden Verfahren mit indirekten Schlüsseln mittels der Krankenversichertennummer als direktem Identifikator und Goldstandard validiert. Als Gütekriterien werden Sensitivität, Spezifität sowie Treffergenauigkeit und Treffergüte genutzt. Am besten für das Linkage geeignet ist die Kombination von Informationen zu Entitätsart, Geburtsdatum, Geschlecht und Postleitzahl des Wohnorts der Personen. Die Autor:innen schlussfolgern, dass sich auch ohne eindeutigen Identifikator GKV- und Krebsregisterdaten mit hoher interner und externer Validität auf Individualdatenebene verknüpfen lassen.

Nimptsch et al. widmen sich der Problematik, dass trotz der amtlichen Erfassung aller über das DRG-System abgerechneten Krankenhausfälle bzgl. der zu Lasten der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) in Krankenhäusern der Berufsgenossenschaften (BG) versorgten Verletzungen das stationäre Behandlungsaufkommen nicht vollständig abgebildet wird. Durch die Unterscheidung des Kostenträgers in den Leistungsdaten der BG-Kliniken lassen sich die Schnittmenge der beiden Datenbestände sowie der Anteil der nicht in der DRG-Statistik enthaltenen und damit nicht erfassten Behandlungsfälle quantifizieren. Bei nahezu realisierter Vollständigkeit der DRG-Leistungsdaten ergeben sich größere Erfassungslücken in der Verletztenversorgung, die nach Einschätzung der Autor:innen nur durch die Einbeziehung der GUV-Leistungsdaten der BG-Kliniken geschlossen werden könne.

Infolge der Corona-Pandemie ergaben sich neue Zwänge für ein umfassenderes Monitoring des Pandemiegeschehens selbst wie auch von dessen Einflüssen auf andere Versorgungssektoren. In einem vom Netzwerk Universitätsmedizin geförderten Projekt wurden fünf pandemierelevante Fragestellungen (‚use cases‘) mit GKV-Routinedaten bearbeitet, wie die Prävalenz und Relevanz von Risikofaktoren für einen schweren COVID-19-Verlauf, die Hintergrundinzidenz von Sinusvenenthrombose und Myokarditis, die Häufigkeit und Ausprägung von Post-COVID sowie die Versorgung von Personen mit psychischen Erkrankungen. Daraus werden von Jacob et al. kontextspezifische Handlungsempfehlungen zur Nutzung von GKV-Routinedaten für Pandemielagen abgeleitet mit der Schlussfolgerung, dass GKV-Routinedaten auch im Kontext der Pandemiesteuerung eine schnell verfügbare und valide Datenquelle darstellen.

Wir möchten alle Leser und Leserinnen ermuntern, in Zukunft dieses AGENS-Supplement bei Publikationen in Erwägung zu ziehen, wenn die verwendeten Methoden und die erzielten Ergebnisse Sekundärdatenanalysen zuzurechnen sind. In dem Maße, in dem dieses vergleichsweise neue Format mit perspektivisch bis zu zwei Heften pro Jahr genutzt wird, werden Ihre Arbeiten sichtbar und von der wissenschaftlichen Community wahrgenommen. In diesem Sinne sind wir auf Ihre neuen Manuskripte im Jahr 2023 gespannt. Die Qualität der Beiträge im Supplement wird durch zwei unabhängige Reviewer mit ausgewiesener Expertise in der Sekundärdatenanalyse gewährleistet. Als weiteren Ausblick auf 2023 dürfen wir ankündigen, dass das nächste Supplement einen inhaltlichen Schwerpunkt zum Thema Validierung haben wird.

Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen

Enno Swart und Holger Gothe und Peter Ihle



Publication History

Article published online:
24 April 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany