Gesundheitswesen 2023; 85(04): 213
DOI: 10.1055/a-2018-2326
Panorama
Memorandum

Evidenz-Debakel: Wirksamkeitsnachweise für Medizin und „Quacksal-berei“

Kernthesen des neuen Münsteraner Memorandums Evidenzbasierte Medizin

In der Medizin sind Kausalitäts-Annahmen – hinsichtlich der Wirksamkeit von Behandlungsmaßnahmen – von zentraler Bedeutung für die klinische Praxis und für deren Fortschritte. Die moderne wissenschaftsorientierte Medizin*ist genau dadurch charakterisiert, dass sie ihre Diagnostik, Therapie, Prävention, Palliation und Rehabilitation auf ein fortschreitendes und immer systematischer werdendes Wissen um Kausaleffekte und -mechanismen stellt. Dabei stammen die relevanten Wissensbestände auch aus den angrenzenden naturwissenschaftlichen und psycho-sozialen Disziplinen.

Definition/Synonym

*Wissenschaftsorientierte Medizin Diese Bezeichnung für die moderne Medizin ist einerseits aussagekräftiger und neutraler als Schulmedizin (ursprünglich ein Kampfbegriff der Homöopathie) und andererseits realistisch-bescheidener als wissenschaftliche oder wissenschaftsbasierte Medizin. Vgl. Münsteraner Memorandum Wissenschaftsorientierte Medizin. https://muensteraner-kreis.de/?page_id=192.

Mit der somit fundamental wichtigen Frage, unter welchen Bedingungen Kausalitäts-Annahmen vernünftig sind, befasst sich generell die philosophische Spezialdisziplin der Wissenschaftstheorie. Wenn man bedenkt, welchen bedeutsamen Status die Medizin hat, wie vielfältig ihre Teilbereiche sind und welche notorischen Kontroversen um ärztliche Kunst und medizinischen Biologismus geführt werden, ist es erstaunlich, dass sich gegenwärtig eher wenige Wissenschaftstheoretiker (wie Julian Reiss, Jon Williamson und einige andere) mit der Methodik der Begründung speziell medizinischer Kausalitäts-Annahmen beschäftigen. Auch die Öffentlichkeit weiß hierüber zu wenig. Dies, so führt unser Memorandum aus, rächt sich an verschiedenen Fronten, unter anderem bei der Beurteilung von Hokuspokus-Medizin und von relevanten „Evidenzen“, die nicht aus kontrollierten Studien stammen. Beides hat sich auch in Corona-Zeiten als verhängnisvoll entpuppt.

Der Einzug der sogenannten Evidenz-basierter Medizin (EBM) – wie er besonders seit den 1980er Jahren erfolgte – ist und war ein Riesenfortschritt, der medizinische Behandlungen entscheidend auch auf eine empirische Basis stellte: Schluss mit Maßnahmen, die bloß auf subjektiver ärztlicher Erfahrung oder Autorität beruhten, her mit aussagekräftigen klinischen Daten aus kontrollierten Studien.

Doch entgegen den ursprünglichen Vorstellungen der EBM-Pioniere ist es teilweise zu einer Verabsolutierung empirischer Studien und einer Verengung des Evidenzbegriffs gekommen zuungunsten anderer. Das hat mehrere problematische Folgen.

Erstens treten dadurch leicht die generelle und große Bedeutung, die Kenntnis und Verständnis von Kausalmechanismen für den medizinischen Fortschritt haben, in den Hintergrund.

Zweitens lässt sich das gute EBM-Image auch für Studien „kapern“, die bestimmte Behandlungsansätze – bei fundamentaler Inkompatibilität mit grundlegenden Annahmen der modernen Naturwissenschaften – als (schwach oder fraglich) wirksam aus-weisen. Dies entpuppt sich inzwischen als ein problematischer Nährboden für Alternativmedizin.

Drittens wird zum Teil in Ermangelung kontrollierter klinischer Studien von dringlichen Maßnahmen abgeraten, für deren Wirksamkeit und Unschädlichkeit es aber durchaus relevante Evidenzen aus anderen Quellen gibt – so für das Anordnen einer Masken-pflicht zu Beginn der Corona-Pandemie.

Vor diesem Hintergrund fordert der Münsteraner Kreis, dass bei der Beurteilung von Behandlungsansätzen immer auch Plausibilitätsüberlegungen (Stichwort: „Gesamt-evidenz“) einfließen müssen, die sich auch auf Grundkonzepte etwa der Biologie, Biochemie und Physiologie stützen. Im Fall von sogenannter Alternativmedizin muss sich die Wissenschaftsgemeinschaft auf diese wissenschaftliche Gesamtevidenz berufen. Entsprechend sollten Universitäten sinnlosen Studien Einhalt gebieten. Zudem sollte die Politik endlich aufhören, der Alternativmedizin einen (in wesentlichen Teilen lobby-gesteuerten) adelnden Sonderstatus zuzugestehen, der ihre Zulassungs-hürden privilegierend senkt.

Das Münsteraner Memorandum Evidenz-basierte Medizin – Zur Verkürzung des „Evidenz“-Begriffs bei der Beurteilung (pseudo)medizinischer Behandlungen - findet sich unter http://muensteraner-kreis.de/wp-content/uploads/2023/01/Muensteraner-Memorandum-EbM.pdf

Autorinnen/Autoren

Bettina Schöne-Seifert, Münster

Norbert Schmacke, Bremen

Beide Mitglieder des Gremiums Münsteraner Kreis und federführende Autoren des Memorandums


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Publication History

Article published online:
24 April 2023

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