ZFA (Stuttgart) 2005; 81(2): 45
DOI: 10.1055/s-2005-836351
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Ende der Einfühlsamkeit

H.-H Abholz1
  • 1Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
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Publication Date:
21 February 2005 (online)

In den letzten zwei Jahren habe ich relativ intensiv in zwei neu erschienenen Psychiatrielehrbüchern gelesen und war irritiert. Das, was mich bisher in kurzgefassten Arztbriefen, Konsiliarbefunden etc. schon irritiert hatte, ich aber auf die dort notwendige Kürze des Textes zurückführte, nämlich ein Ettiketieren mit stark zusammenfassenden Oberbegriffen, die nichts mehr von der individuellen Patientengeschichte übrig lässt, fand ich auch in diesen Büchern wieder. Faktisch geht es dort - neben Befunden und Therapievorschlägen - nur noch um Definitionen, Kombinationen von Befunden als Grundlage von Diagnosen, Unterdiagnosen sowie Muster von Kombinationen zum Ausschluss bzw. Verweis auf andere Definitionen. Der psychisch Kranke, seine Welt, sein Erleben, die sich daraus ableitenden Strukturen des Denkens und Fühlens - gar noch an Beispielen festgemacht - taucht fast nicht mehr auf.

Die „Verwissenschaftlichung” hat - nun auch im „Kernfach der Emotionen” - die Gestalt und Individualität des Patienten verdrängt. Dabei hat es seine Probleme mit höhergradiger Abstraktion: Ein alter Chef von mir - ein sehr ernster Mensch - hat vor Jahren zu dieser Art von Darstellung - bezogen auf Konsiliarberichte der Psychiater und Psychotherapeuten - gesagt: „chronisch latent depressiv bei aggressiv schizoider Persönlichkeit - das sind wir doch hier (im Krankenhaus) alle”.

Ein hoher Grad der Abstraktion erscheint notwendig für die Erarbeitung von Krankheitstheorien und als Operationalisierung bei der Durchführung von Studien etc. Aber - gewissermaßen - als Ersatz für die Beschreibung von Patienten, ein Krankheitsbild - dann noch in einem Lehrbuch - ist dies unzureichend. Als „Versteckte Botschaften” für Studenten lässt sich erkennen: a) Diese Kranken haben keine Individualität (denn das Beschriebene „lebt” nicht, wird nicht durch die Beschreibung lebendig). b) Ich muss nur die vorgegebenen Dinge (also Bausteine der Definition einer Diagnose) finden, dann habe ich das Problem gelöst. Und so erleben wir die Studenten auch: Sie reden gar mit Patienten in dieser Form: „Sie haben Probleme in der psychosozialen Einbettung”.

Ich denke darüber nach, welche Funktion derartige Abstraktionen und das Aussparen einer einfühlsamen Beschreibung eines Kranken haben könnte. Mir fällt ein: Die Nähe und damit die Bedrängung und Bedrohung des Kranken für meine Person wird gemieden. Es ist so ähnlich wie mit den Begriffen, die wir in der Politik ansonsten immer auch hören: Kollateralschaden, Zielgenaues Auslöschen, Wirkfunktion erreichen etc.

Wir verlernen zunehmend, in eigenen Worten und unter Einbeziehung unserer Einfühlsamkeit etwas zu beschreiben, mit Adjektiven auszuschmücken, mit (meist ja unscharfen) Andeutungen etwas oder eine beschriebene Person lebendig werden zu lassen.

Umso mehr hat mich der Text von Frau Weibler-Villalobos in diesem Heft zu einem ganz „technischen Thema”, nämlich zur Ernährung bei Demenz-Kranken, zutiefst beeindruckt. Im zweiten Teil des Aufsatzes wird ganz unspektakulär, so nebenbei, die Welt des Dementen für den Leser erlebbar, wie ich es so in vielen, vielen Publikationen zum Thema nie mehr gelesen habe. Ich habe noch nie so viel vom Menschen mit Demenz gefühlt, nacherlebt - obwohl dies nicht das Thema des Aufsatzes ist!

Damit wird für mich dieser Text - neben seiner inhaltlichen Argumentation - zu einem Mustertext, wie man einmal geredet hat, wenn man Patienten schilderte. Das Problem ist nur - so könnte man einwenden -, dass nicht alles evidence basiert belegbar sein wird. Und damit haben wir unser ungelöstes Problem.

Ihr H.-H. Abholz

Prof. Dr. med. Heinz-Harald Abholz

Facharzt für Allgemeinmedizin

Abt. Allgemeinmedizin

Heinrich-Heine-Universität

Moorenstraße 5

40225 Düsseldorf

Email: abholz@med.uni-duesseldorf.de

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