1 Einleitung

Noch vor wenigen Jahren wurde der weltweite Siegeszug der liberalen Demokratie gefeiert. Für Fukuyama (1992), den prominentesten Verfechter der Idee, dass die Geschichte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auf ihren Endpunkt zuliefe – freie Märkte und Demokratie –, bestand Anfang der Neunzigerjahre das einzig verbleibende Gefahrenpotenzial in Revolten einer gelangweilten Mittelklasse („Last Man“). Sonst schienen alle Gegner bezwungen und die Idee der Demokratie alternativlos. Doch seit einigen Jahren wird deutlich, dass der Siegeszug der Demokratie nicht triumphal ausfällt. Giddens spricht von einem „Paradox der Demokratie“, weil der Zustand der Demokratie in ihren Kernländern weniger optimistisch stimmt, als dies ihre globale Ausbreitung vermuten ließe:

In most Western countries, levels of trust in politicians have dropped over the past years. Fewer people turn out to vote than used to, particularly in the U.S. More and more people say that they are uninterested in politics, especially among the younger generation. Why are citizens in democratic countries apparently becoming disillusioned with democratic government, at the same time as it is spreading around the rest of the world? (Giddens 2000, S. 11).

Die Antwort auf dieses Paradox liegt, so das folgende Argument, in der wachsenden sozialen Ungleichheit in den etablierten Demokratien des Westens. Während die Einkommensungleichheit zwischen Staaten weltweit sinkt und eine größere Anzahl von Ländern ein Entwicklungsniveau erreicht, das demokratieförderlich ist, nimmt die innerstaatliche Ungleichheit zu. Auch in den meisten OECD-Staaten wächst seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Ungleichheit. Soziale Ungleichheit, so wird im Folgenden gezeigt, beschädigt das Ansehen der Demokratie und das Vertrauen in die Politik.Footnote 1 Darüber hinaus wirkt sich ein Mangel an sozioökonomischen Ressourcen negativ auf konventionelle und unkonventionelle politische Partizipation aus. Wenn Teilen der Bevölkerung die Mittel zur Teilhabe fehlen oder sie die Hoffnung aufgegeben haben, durch politisches Engagement und kollektives Handeln die eigene Situation verbessern zu können, ist der egalitäre Kern demokratischer Herrschaft bedroht, der nach der gleichen Berücksichtigung aller Interessen verlangt (Dahl 1998, S. 177–178).

Dieser Aufsatz besteht aus drei Teilen. Der nächste Abschnitt dokumentiert die wachsende Einkommensungleichheit und -rigidität in einer Mehrzahl der OECD-Staaten. Anschließend werden für 17 westeuropäische Länder die sozioökonomischen Voraussetzungen politischer Partizipation analysiert. Dabei zeigt sich, dass Wahlen weiterhin das verlässlichste Instrument sind, eine sozial nur gering verzerrte politische Teilhabe zu gewährleisten – doch die Wahlbeteiligung sinkt fast überall, und je ungleicher ein Land ist, desto niedriger fällt sie aus. Andere Formen des politischen Engagements, so wird im dritten Abschnitt gezeigt, sind stärker noch als Wahlen sozial verzerrt. Im darauf folgenden Schritt wird untersucht, welche Faktoren die Unterschiede in der Demokratiezufriedenheit und im Vertrauen in Politiker und Parteien erklären. Sowohl individuelle Merkmale wie politisches Interesse, Bildung und Einkommen als auch Variablen auf der Makroebene wie die wirtschaftliche Dynamik, die Einkommensverteilung sowie der Grad, zu dem ein politisches System konsensorientiert ist, beeinflussen das Ansehen von Politik und Demokratie: Je ungleicher ein Land ist, desto geringer sind Institutionenvertrauen und Demokratiezufriedenheit. Der vierte Abschnitt resümiert die Ergebnisse.

2 Einkommensungleichheit in den OECD-Ländern

Alexis de Tocqueville (1959, S. 323) betrachtete den Überfluss an Land als „wichtigste[n] unter allen glücklichen Umständen“, die die Demokratie in Amerika begünstigten. Das aus seiner Sicht der Demokratie innewohnende Streben nach Gleichheit geriet nicht in Konflikt mit den Besitzverhältnissen, weil Verteilungskonflikte durch die Wanderung nach Westen vermieden werden konnten (Tocqueville 1959, S. 325–327). Doch mit der Besiedlung des ganzen Landes und der Industrialisierung verloren diese glücklichen Umstände an Bedeutung (Dahl 1985). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden für die westlichen Staaten erneut Bedingungen, die den Konflikt zwischen politischer Gleichheit und sozialer Ungleichheit abfederten. Das anhaltend hohe Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahrzehnte, der Ausbau des Sozialstaates und eine keynesianisch geprägte Politik verringerten die Ungleichheit der Einkommen. Mehr noch, eine sozialdemokratische Umverteilungspolitik – in Kontinentaleuropa häufig auch von christdemokratischen Parteien gestaltet – und hohe Lohnzuwächse erschienen nicht etwa als Wachstumshemmnis, sondern als notwendiger Konjunkturmotor (Przeworski 1985, S. 209). Für ein Vierteljahrhundert bestanden Bedingungen, die den Konflikt zwischen wirtschaftlicher Dynamik und Gleichheit aufzuheben schienen. Doch seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts hat dieser Konflikt erneut an Schärfe gewonnen.

In den ersten drei Vierteln des zwanzigsten Jahrhunderts ging die Konzentration der Einkommen in den wirtschaftlich entwickelten Staaten zurück. In dieser Zeit sank übereinstimmend in Australien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Irland, Kanada, den Niederlanden, der Schweiz und den USA der Anteil der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung am Gesamteinkommen (Atkinson u. Piketty 2007, S. 540). Da ein enger Zusammenhang zwischen der Einkommensposition der Topverdiener und der Verteilung der Einkommen insgesamt besteht, lässt sich für diesen Zeitraum von einem Trend zu mehr Gleichheit ausgehen. Muller (1988) zeigt, dass bis in die Siebzigerjahre zwischen Demokratie und Gleichheit eine Wechselwirkung bestand. Je älter die Demokratie in einem Land, desto gleicher war die Einkommensverteilung – und je egalitärer ein Land, desto stabiler die Demokratie. Doch zumindest der erste Zusammenhang gilt seither nicht mehr. Zuerst in den angelsächsischen, dann auch in anderen OECD-Ländern hat die Einkommensungleichheit zugenommen. Betrachtet man die Veränderung des Gini-Koeffizienten (bezogen auf das verfügbare Einkommen nach Steuern und Transferleistungen) zwischen Mitte der Achtzigerjahre und heute, zeigt sich, dass in zwei Dritteln der Länder die Einkommensungleichheit angestiegen ist.Footnote 2 Besonders starke Zuwächse der Ungleichheit finden sich in Deutschland, Großbritannien und den USA.

Diese Befunde bestätigt eine OECD-Studie mit anderer Datenbasis. In der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Länder hat die Einkommensungleichheit zugenommen. In nur fünf von 24 Ländern, für die über einen längeren Zeitraum Daten verfügbar sind, ging die Ungleichheit in den letzten zwanzig Jahren zurück (Frankreich, Griechenland, Irland, Spanien und die Türkei) – zum Teil jedoch von einem hohen Ungleichheitsgrad ausgehend. In allen anderen Ländern nahm die Einkommensungleichheit zu (OECD 2008, S. 27).Footnote 3 Um diese Entwicklung zu bewerten, ist neben der Ungleichheit die Frage entscheidend, wie durchlässig eine Gesellschaft ist. Insgesamt lässt sich in den OECD-Staaten ein erhebliches Maß an Auf- und Abwärtsmobilität feststellen. Doch gilt dies in weit geringerem Maße an den Rändern der Einkommensverteilung. Durchschnittlich zwei Drittel der Personen im niedrigsten Einkommensfünftel und knapp 70% derjenigen im höchsten bleiben über einen Dreijahreszeitraum konstant in ihrer Einkommensgruppe, und die verbleibende Mobilität findet hauptsächlich zwischen benachbarten Gruppen statt. Die Gefahr abzurutschen ist für Bezieher hoher Einkommen ebenso gering wie die Wahrscheinlichkeit von Personen mit niedrigem Einkommen aufzusteigen, sodass die Einkommensungleichheit stabil bleibt (OECD 2008, S. 169–170, Tab. 6.5 und 6.6).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass in einer Mehrzahl der OECD-Staaten die Ungleichheit seit den Siebzigerjahren zunimmt (siehe auch Brandolini u. Smeeding 2008). In Anlehnung an die amerikanische Entwicklung konstatieren Alderson u. Nielsen (2003) für diese Ländergruppe eine „große Kehrtwende“ der Einkommensungleichheit, und Firebaugh (2003) spricht von einer „neuen Geografie der Einkommensverteilung“: Während Einkommensunterschiede zwischen Staaten rückläufig sind, nimmt die innerstaatliche Ungleichheit zu. Um ermessen zu können, was diese Entwicklungen für die Demokratie in den entwickelten Staaten bedeuten, muss der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und politischer Partizipation sowie der Demokratiezufriedenheit geklärt werden. Das ist Gegenstand der folgenden empirischen Analyse.

3 Politische Gleichheit und soziale Ungleichheit

Wie wirkt sich soziale Ungleichheit auf die Demokratie aus? Kaum ein Zusammenhang ist so häufig untersucht worden wie der zwischen individuellen Ressourcen – Einkommen, Bildung, Sozialkapital – einerseits und politischer Partizipation anderseits. Bereits Almond u. Verba (1963, S. 379–384) betonen in ihrer Pionierstudie die zentrale Bedeutung von Bildung für die politische Teilhabe. Spätere Studien bestätigen diesen Zusammenhang und zeigen, dass der Bildungsgrad, aber auch das verfügbare Einkommen die Bereitschaft sowohl zu konventioneller als auch zu unkonventioneller Partizipation steigern (Marsh u. Kaase 1979, S. 115–126; Verba et al. 1978, Kap. 14; Verba et al. 1995, S. 348–350). Mit den einer Person zu Verfügung stehenden soziökonomischen Ressourcen steigt die Wahrscheinlichkeit politischer Partizipation (Brady et al. 1995; Gabriel 2004). In der Forschung herrscht zudem weitgehend Einigkeit, dass sich nicht die Unzufriedenen oder sozial Benachteiligten engagieren, sondern vielmehr ressourcenstarke Bevölkerungsteile (Deth 2009, S. 154).

Obwohl somit eine lange Tradition der vergleichenden Partizpationsforschung existiert, die sozioökonomischen Grundlagen politischer Teilhabe zu untersuchen, lässt sich seit einigen Jahren eine gesteigerte Aufmerksamkeit nicht allein für die individuelle Ressourcenausstattung, sondern für die politischen Folgen der Einkommensverteilung beobachten. Bildungs- oder einkommensarm zu sein bedeutet in egalitären und inegalitären Ländern Unterschiedliches. Für das Interesse an den Folgen einer ungleichen Ressourcenverteilung gibt es zwei Gründe. Zum einen wächst die Ungleichheit in vielen OECD-Staaten, wie oben gezeigt wurde. Das hat insbesondere in den USA zu einer Fülle von Forschungsarbeiten geführt, die die soziale Schieflage politischer Partizipation untersuchen. 2002 setzte die American Political Science Association eine Arbeitsgruppe zum Thema Demokratie und soziale Ungleichheit ein, die bestehende Forschungsergebnisse zusammengetragen hat (Schlozman et al. 2005). Die Schlussfolgerung der Initiatoren lautet, dass in den USA formale politische Gleichheit durch die zunehmende materielle Ungleichheit gefährdet wird:

The scourge of overt discrimination against African Americans and women has been replaced by a more subtle but potent threat – the growing concentration of the country's wealth, income, and political influence in the hands of the few (Jacobs u. Skocpol 2005, S. 1).

Der zweite Grund für das Wiedererstarken der Ungleichheitsforschung ist ein methodischer. Statistische Mehrebenenanalysen erlauben es, den Zusammenhang zwischen individueller Ressourcenausstattung und deren gesellschaftlicher Verteilung einerseits – beispielsweise am Gini-Index gemessen – sowie politischer Partizipation und politischen Einstellungen andererseits zu analysieren. So zeigen beispielsweise Anderson u. Singer (2008), dass die Unzufriedenheit mit dem politischen System insbesondere bei Befragten, die sich selbst als links einordnen, mit dem Grad sozialer Ungleichheit eines Lands steigt. Solt (2008) weist nach, dass in ungleichen Ländern die soziale Verzerrung von politischem Interesse, Diskussionsbereitschaft und der Wahlteilnahme besonders ausgeprägt ist. Schließlich zeigen Uslaner u. Brown (2005) durch einen Vergleich der US-Bundesstaaten, dass soziale Ungleichheit das interpersonale Vertrauen reduziert und dadurch mittelbar die Bereitschaft zu bürgerlichem Engagement sinkt.

Wie sich wachsende soziale Ungleichheit auf die Demokratie auswirkt, ist trotz dieser empirischen Befunde theoretisch umstritten. Aus konflikttheoretischer Sicht wird erwartet, dass mit zunehmender sozialer Ungleichheit eine wachsende Polarisierung politischer Auseinandersetzungen stattfindet und daher die Partizipationsraten aller gesellschaftlichen Gruppen steigen (Brady 2004). Im Gegensatz dazu argumentiert die Theorie relativer Machtdifferenzen, dass politisches Engagement mit wachsender Ungleichheit für alle gesellschaftlichen Gruppen abnimmt, da die Mehrheit der Bevölkerung ihre Einflusschancen negativ bewertet (Goodin u. Dryzek 1980). Ressourcentheoretische Ansätze, die in der Forschung besonders gängig sind, unterstellen schließlich, dass mit größeren sozioökonomischen Ressourcen (vor allem Bildung, Kompetenzen und Einkommen) die politische Beteiligung zunimmt. Wachsende soziale Ungleichheit sollte somit zu geringerem politischen Engagement sozial Schwacher, aber zu mehr Engagement der Ressourcenreichen führen (Schlozman et al. 2005, S. 34–36).

Die folgenden empirischen Analysen untersuchen jene 17 westeuropäischen Länder, für die Daten aus dem European Social Survey vorliegen (siehe Anhang). Für 14 dieser Länder sind die Daten der dritten Welle des ESS aus dem Jahr 2006 entnommen. Griechenland, Italien und Luxemburg haben an der dritten Welle nicht teilgenommen, sodass in diesen Fällen auf die zweite Welle (2004) zurückgegriffen wird. Auf eine Analyse der postsozialistischen Staaten wird verzichtet, da angenommen werden kann, dass politische Partizipation, Institutionenvertrauen und Demokratiezufriedenheit dort von anderen Faktoren als denen beeinflusst werden, die hier im Vordergrund stehen. Stattdessen wird untersucht, welche Folgen soziale Ungleichheit für etablierte Demokratien hat, die zu den wohlhabendsten der Welt gehören.

3.1 Soziale Verzerrung unkonventioneller Partizipation

Während die Einkommensungleichheit in den meisten OECD-Staaten steigt, sinkt bei Parlamentswahlen fast überall die Wahlbeteiligung (Franklin 2004, S. 120). Neuere Studien stellen einen Zusammenhang zwischen beiden Trends fest. So zeigen Anderson u. Beramendi (2008), dass unter sonst gleichen Bedingungen die Wahlbeteiligung in ungleichen Ländern niedriger ausfällt. Dort übersetzt sich soziale Ungleichheit stärker als in egalitären Ländern in politische Ungleichheit. Darüber hinaus weist Kohler (2006) nach, dass eine niedrige immer eine sozial ungleiche Wahlbeteiligung ist, die zu Lasten sozial Schwacher verzerrt ist. Nun ließe sich argumentieren, dass eine sinkende und ungleiche Wahlbeteiligung zu verschmerzen ist, wenn andere Formen politischer Teilhabe diese Trends ausgleichen. In der Abkehr von konventionellen Formen der Partizipation drückt sich, so wird angenommen, weniger Distanz zur Demokratie als Regierungsform als vielmehr eine spezifische Unzufriedenheit mit der Parteiendemokratie aus.

Zwei Beobachtungen stützen diese Argumentation. Zum einen ist die prinzipielle Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform weiterhin hoch, auch wenn ihre tatsächliche Funktionsweise kritisch beurteilt wird. Klingemann (2000, S. 266–267) spricht deshalb von „unzufriedenen Demokraten“. Zum anderen kann die Abkehr von der Parteiendemokratie als Ausdruck eines kritischen Bewusstseins der Bürger gelesen werden. Gerade weil sich critical citizens stärker für Politik interessieren und die Nachteile herkömmlicher Politik durchschauen, suchen sie alternative Beteiligungsformen (Norris 1999, S. 269–270). Ihr Engagement verlagert sich von hierarchischen Großorganisationen auf flexible, individuelle Formen politischer Teilhabe wie etwa Bürgerinitiativen oder direkte Politikerkontakte, die in den letzten Jahrzehnten „dramatisch“ zugenommen haben (Topf 1995, S. 52). Eine sinkende Wahlbeteiligung oder die abnehmende Bindung an Parteien erscheinen aus dieser Sicht nicht als problematisch, sondern als (berechtigte) Reaktion auf Defizite der Parteiendemokratie. Was diese Perspektiven allerdings unzureichend berücksichtigen ist die soziale Schieflage, die mit dem Rückgang konventioneller und dem Aufstieg unkonventioneller Beteiligungsformen einhergeht.

Noch immer ist das Wählen die am weitesten verbreitete Form politischer Beteiligung. Auch wenn die Wahlbeteiligung nicht mehr das Niveau der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre erreicht, geben in europäischen Demokratien dennoch durchschnittlich mehr als 70% der Wähler ihre Stimme bei nationalen Parlamentswahlen ab. Alle anderen politischen Beteiligungsformen werden dagegen seltener genutzt (Tab. 1).Footnote 4 Betrachtet man statt der Unterschiede zwischen einzelnen Ländern die zwischen Einkommensgruppen, wird die Diskrepanz der Beteiligungsraten von Personen mit unter- und überdurchschnittlichem Haushaltseinkommen deutlich (Tab. 2). Bei allen im European Social Survey abgefragten Beteiligungsformen steigt die Partizipationsneigung mit wachsendem Einkommen. Der in der untersten Zeile abgetragene Quotient gibt an, inwieweit sich Niedrig- und Hochverdiener in der politischen Partizipation unterscheiden. Je näher der Quotient an eins liegt, desto ausgeglichener ist die Beteiligung. Vor allem an Demonstrationen und Wahlen beteiligen sich Gruppen mit unterschiedlichen Einkommen in ähnlichem Maß.Footnote 5

Tab. 1 Politische Beteiligung in 23 Ländern
Tab. 2 Durchschnittliche politische Beteiligung nach Einkommen gestaffelt

Neben dem Einkommen hängt die Beteiligungsneigung von der Bildung ab. In Tab. 3 sind die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten politischer Partizipation für eine politisch interessierte Frau mittleren Alters angegeben. Variiert wird erst das Einkommensniveau, dann der Bildungsgrad, und schließlich wird deren gemeinsamer Effekt ermittelt. Zugrunde liegt eine logistische Regression, die den Einfluss der Variablen Alter, Geschlecht, Bildung, politisches Interesse und Einkommen auf die Beteiligungswahrscheinlichkeit ermittelt. Auf diese Weise lässt sich der statistisch bereinigte Verzerrungsgrad darstellen, der aussagekräftiger ist als ein direkter Vergleich unterschiedlicher Bildungs- oder Einkommensgruppen. In fast allen Fällen liegt die Partizipationswahrscheinlichkeit von ressourcenreichen Personen höher, wobei Bildung einen stärkeren Einfluss als Einkommen ausübt. Der kombinierte Effekt von Bildung und Einkommen verweist auf ein deutliches Gefälle der Beteiligungswahrscheinlichkeit. Wie beim Vergleich der Einkommensgruppen in Tab. 1 wird auch hier ein Quotient gebildet, der über den Verzerrungsgrad politischer Partizipation informiert. Erneut sind es Wahlen, bei denen sich die Beteiligungsneigung zwischen gering Gebildeten mit niedrigem Einkommen und Gebildeten mit hohem Einkommen am wenigsten unterscheidet. Bei anderen Partizipationsformen bestehen dagegen erhebliche Unterschiede in der Beteiligungswahrscheinlichkeit. Aus dem Verzerrungsgrad lässt sich ableiten, dass der Aufstieg unkonventioneller Beteiligungsformen zu Lasten sozial Schwacher geht, die diese viel seltener nutzen.

Tab. 3 Politisches Engagement in Abhängigkeit von Einkommen und Bildung

Die Critical-citizen-These geht davon aus, dass sich insbesondere politisch gut informierte, aber unzufriedene Bürger für unkonventionelle Beteiligungsformen entscheiden. Sie seien nicht demokratieverdrossen, sondern suchten im Gegenteil intensivere Formen der Teilhabe. Abbildung 1 bestätigt – auf den ersten Blick in Übereinstimmung mit dieser These –, dass die Wahrscheinlichkeit zu wählen mit der Demokratiezufriedenheit steigt. Unzufriedene wählen demnach seltener als Zufriedene.Footnote 6 Allerdings haben die politisch interessierten Unzufriedenen eine höhere Wahlwahrscheinlichkeit als Unzufriedene, die nicht politisch interessiert sind. Sind sie darüber hinaus politisch besonders kompetent, d. h. empfinden sie Politik selten oder nie als zu komplex, steigt die Wahlwahrscheinlichkeit weiter an.

Abb. 1
figure 1

Demokratiezufriedenheit und Wahlwahrscheinlichkeit (Datengrundlage: European Social Survey). Dargestellt wird, wie sich die Wahlwahrscheinlichkeit eines Mannes ändert, dessen Alter, Einkommen, Bildung, Religiosität, Links-rechts-Verortung und Partizipationsverhalten dem Durchschnitt entsprechen, wenn die Demokratiezufriedenheit, das politische Interesse und die politische Kompetenz variiert werden

Der Zusammenhang zwischen unkonventioneller Partizipation und der Wahlwahrscheinlichkeit weckt weitere Zweifel an der Critical-citizen-These (Abb. 2). Je mehr unkonventionelle Partizipationsformen eine Person nutzt, desto wahrscheinlicher ist, dass sie ebenfalls wählt. Zwischen beiden Arten politischen Engagements besteht kein Widerspruch. Die Wahlwahrscheinlichkeit steigt darüber hinaus mit der Annäherung an das Ideal des interessierten und kompetenten Bürgers. Schließlich wird in Abb. 3 innerhalb der Gruppe der politisch Interessierten die Wahrscheinlichkeit verglichen, unkonventionelle Partizipationsformen zu nutzen. Auch hier scheint der dargestellte Zusammenhang die Critical-citizen-These zu stützen, da mit der Demokratiezufriedenheit die Wahrscheinlichkeit unkonventioneller Partizipation sinkt. Doch gegen die These spricht, dass Wähler eher als Nichtwähler und politisch kompetente Wähler häufiger als Durchschnittswähler auch auf alternative Partizipationsformen zurückgreifen. Insgesamt widersprechen diese Ergebnisse der Vorstellung, dass zwischen konventioneller und unkonventioneller Partizipation ein Substitutionsverhältnis besteht und dass eine sinkende Wahlbeteiligung durch das Aufkommen alternativer Partizipationsmöglichkeiten erklärt werden kann. „Kritische Bürger“ wählen nicht nur häufiger als andere, sondern nutzen alternative Beteiligungsformen ebenfalls stärker – ihr Handlungsrepertoire erweitert sich (so schon Marsh u. Kaase 1979, S. 115).

Abb. 2
figure 2

Partizipation und Wahlwahrscheinlichkeit (Datengrundlage: European Social Survey). Dargestellt wird, wie sich die Wahlwahrscheinlichkeit eines Mannes ändert, dessen Alter, Einkommen, Bildung, Religiosität, Links-rechts-Verortung und Demokratiezufriedenheit dem Durchschnitt entsprechen, wenn die Partizipationsstärke, das politische Interesse und die politische Kompetenz variiert werden

Abb. 3
figure 3

Demokratiezufriedenheit und Partizipationswahrscheinlichkeit (Datengrundlage: European Social Survey, 2006). Dargestellt wird, wie sich die Wahlwahrscheinlichkeit eines politisch interessierten Mannes ändert, dessen Alter, Einkommen, Bildung, Religiosität, Links-rechts-Verortung und Partizipationsverhalten dem Durchschnitt entsprechen, wenn die Demokratiezufriedenheit, das Wahlverhalten und die politische Kompetenz variiert werden

Führt man sich die Befunde dieses Abschnitts vor Augen, wird deutlich, weshalb eine sinkende Wahlbeteiligung demokratierelevante Probleme aufwirft. Zwar sind unkonventionelle Beteiligungsformen verbreitet, doch ist bei ihnen die soziale Verzerrung zu Lasten sozial Schwacher besonders ausgeprägt, wie die Beteiligungsquotienten in Tab. 2 und Tab. 3 zeigen. Bei Wahlen ist diese Verzerrung geringer als bei anderen Beteiligungsformen. Je anspruchsvoller das Beteiligungskriterium, desto niedriger ist das Engagement sozial Schwacher. So liegt die Wahrscheinlichkeit, zur Gruppe der besonders Aktiven zu gehören – definiert als diejenigen, die gewählt und mindestens zwei weitere politische Beteiligungsformen genutzt haben –, für Geringverdiener mit geringer Bildung bei einem Viertel der ressourcenreichsten Gruppe. Da Wahlen eine niederschwellige Beteiligungsform sind, sichern sie stärker als andere Arten politischen Engagements gleiche Teilhabe. Allerdings gilt dies nur, solange die Wahlbeteiligung hoch ist. Nimmt die Wahlbeteiligung auch aufgrund wachsender sozialer Ungleichheit ab, verliert jene Beteiligungsform an Bedeutung, die am stärksten die politische Gleichheit der Bürger wahrt.

3.2 Soziale Ungleichheit, Institutionenvertrauen und Demokratiezufriedenheit

Nachdem bisher das Beteiligungsverhalten betrachtet wurde, wird nun untersucht, wie sich soziale Ungleichheit auf das Vertrauen in Parlamente und Politiker sowie auf die Demokratiezufriedenheit auswirkt. Wie sich Abb. 4 entnehmen lässt, weichen die untersuchten Länder sowohl in der Demokratiezufriedenheit als auch im Institutionenvertrauen deutlich voneinander ab. In den nordeuropäischen Staaten und der Schweiz sind Vertrauen und Zufriedenheit besonders ausgeprägt, in Großbritannien, Frankreich, Italien und Portugal sind dagegen Unzufriedenheit und geringes Vertrauen verbreitet. Die durchschnittliche Zufriedenheit aller Befragten mit der Demokratie liegt auf einer Skala von null bis zehn bei 5,4 – das Vertrauen bei 4,1. Beim Spitzenreiter in beiden Kategorien, Dänemark, ergibt sich eine durchschnittliche Demokratiezufriedenheit von 7,5 und ein Vertrauenswert von 6,1. Am niedrigsten sind die Zustimmung zur Funktionsweise der Demokratie (4,4) und das Vertrauen in Politiker und Parlamente (3,4) in Portugal.

Abb. 4
figure 4

Demokratiezufriedenheit und Institutionenvertrauen (Datengrundlage: European Social Survey)

Wie erklären sich diese Unterschiede im Vertrauen und in der Demokratiezufriedenheit? Abbildung 5 zeigt den Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen Institutionenvertrauen und der Demokratiezufriedenheit einerseits sowie der Einkommensverteilung andererseits. In beiden Fällen besteht ein signifikanter negativer Zusammenhang zwischen den aggregierten Daten (Demokratiezufriedenheit: r = −0,72; p = 0,001; n = 17/Vertrauen r = −0,79; p = 0,000; n = 17).

Abb. 5
figure 5

Ungleichheit, Demokratiezufriedenheit und Vertrauen (Datengrundlage: European Social Survey). Dargestellt werden das durchschnittliche Vertrauen in Politiker und Parlamente sowie die durchschnittliche Demokratiezufriedenheit bezogen auf die soziale Ungleichheit eines Landes

Beide Abbildungen legen nahe, dass Kontexteffekte bestehen, die die Einstellung der Befragten beeinflussen. Die Beobachtungen sind nicht unabhängig voneinander, sondern werden durch die Länderzugehörigkeit der Befragten beeinflusst. Eine Regression, die dies nicht beachtet, überschätzt die Signifikanz, weil die Standardfehler die hierarchische Struktur der Daten nicht berücksichtigen. Mit Hilfe des Intraklassen-Korrelations-Koeffizienten (IKK) lässt sich der Anteil der erklärten Varianz der Makroebene an der Gesamtvarianz erfassen (Snijders u. Boskers 1999, S. 16–22). Der IKK für die Demokratiezufriedenheit beträgt 0,102, der für das Institutionenvertrauen 0,07. Das heißt, 10,2 bzw. 7,0% der Gesamtvarianz werden potenziell durch die Makroebene erfasst. Um den Einfluss von Individual- und Gruppenmerkmalen berücksichtigen zu können, wird deshalb im Folgenden eine Mehrebenenanalyse durchgeführt, um Länderunterschiede im Vertrauens- und Zufriedenheitsniveau erfassen zu können. Auf diese Weise wird überprüft, ob neben dem individuellen sozioökonomischen Status auch die Einkommensverteilung oder andere Makrovariablen das Vertrauen in Politiker und Parlamente sowie die Demokratiezufriedenheit beeinflussen.

In einem ersten Schritt (Tab. 4) wird das Vertrauen in Politiker und Parlamente untersucht. Alle Modelle sind Mehrebenenmodelle, bei denen davon ausgegangen wird, dass zwar die unabhängigen Variablen in allen Ländern den gleichen Effekt haben, aber die Regressionskonstante zwischen ihnen variiert (random intercept). Modell 1 betrachtet lediglich Variablen auf der Individualebene. Ein höherer Bildungsgrad und überdurchschnittliches Einkommen, aber auch Religiosität und politisches Interesse wirken sich positiv auf das Vertrauen in Parlamente und Politiker aus. Dagegen vertrauen Frauen, Arbeitslose, Wahlverlierer und diejenigen, die sich ideologisch weit links verorten, weniger als die jeweilige Vergleichsgruppe.Footnote 7 Modell 3 schließt lediglich die Makrovariablen in die Analyse ein. Sie erfassen das Wohlstandsniveau, die wirtschaftliche Dynamik und die Einkommensverteilung sowie Lijpharts Maßzahl für die Konsensorientierung eines politischen Systems. Trotz der wesentlich geringeren Fallzahl auf Länderebene bestehen signifikante Effekte des Wirtschaftswachstums, der Einkommensungleichheit und der Konsensorientierung. Je größer die wirtschaftliche Dynamik und je stärker konkordanzdemokratisch das Land, desto größer ist das Vertrauen in Politiker und Parlamente. Unter sonst gleichen Bedingungen liegt das Vertrauen im Land mit der stärkten Konsensorientierung (Schweiz) einen Prozentpunkt über dem majoritärsten Land (Großbritannien). Mit Powell (2000) lässt sich vermuten, dass in konsensorientierten politischen Systemen eine größere ideologische Kongruenz zwischen Wählern und Gewählten besteht, wodurch das Vertrauen steigt. Der maximale Effekt der Ungleichheit liegt auf einer Elf-Punkte-Skala bei 1,3 Punkten. Werden nun Variablen der Mikro- und Makroebene eingeschlossen, bestätigen sich die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen (Modell 3). Drei der Makrovariablen sind signifikant: Wirtschaftswachstum, Gini-Koeffizient und Lijphart-Index. Bei den Variablen auf Individualebene ergeben sich keine nennenswerten Veränderungen. Im vierten Schritt werden schließlich zwei Interaktionsterme aufgenommen. Zum einen wird untersucht, ob sich das politische System auf das Institutionenvertrauen der Wahlverlierer auswirkt. Dabei zeigt sich: Je konsensorientierter ein politisches System, desto geringer ist der „Wahlverlierereffekt“ (siehe auch Anderson u. Guillory 1997).Footnote 8 Zum anderen wird untersucht, ob sich selbst ideologisch links verortende Befragte in ungleichen Ländern unzufriedener sind. Dies kann im Gegensatz zu den Ergebnissen von Anderson u. Singer (2008) für die vorliegende Ländergruppe nicht bestätigt werden.

Abb. 6
figure 6

Wahlverlierereffekt in Abhängigkeit von der Konsensorientierung des politischen Systems (Erläuterung: Abgebildet sind der marginale Effekt von „Wahlverlierer“ und das 95%-Konfidenzintervall. Die zugrunde liegenden Daten wurde mit der Software von Shacham (2009) berechnet. Sind die Werte des Konfidenzintervalls beide positiv oder beide negativ, ist der Zusammenhang statistisch signifikant.)

Tab. 4 Vertrauen in Parlamente und Politiker in 17 europäischen Ländern

Der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und politischen Einstellungen bestätigt sich, wenn sich der Blick auf die Demokratiezufriedenheit richtet (Tab. 5). Im Ausgangsmodell haben die Variablen auf der Mikroebene den erwarteten Effekt (Modell 1). Mit steigendem Einkommen und politischem Interesse, höherer Bildung und Religiosität nimmt die Demokratiezufriedenheit zu. Arbeitslose, Frauen, Linke und Wahlverlierer sind weniger zufrieden als die Referenzgruppen. In Modell 2 werden ausschließlich Variablen der Makroebene aufgenommen, und es zeigt sich erneut der negative Einfluss der Einkommensungleichheit. In Ländern mit ungleicher Einkommensverteilung ist die Demokratiezufriedenheit substanziell geringer. Wirtschaftswachstum und Konsensorientierung erhöhen dagegen die Demokratiezufriedenheit. Modell 3 bestätigt nach Einschluss der Variablen beider Ebenen die vorherigen Ergebnisse. Zwischen dem ungleichsten und dem gleichsten Land unterscheidet sich die Demokratiezufriedenheit eines Befragten unter sonst gleichen Bedingungen um 1,5 Skalenpunkte. Auch bei der Demokratiezufriedenheit zeigt sich, dass der Effekt einer Stimmabgabe für die Opposition durch das politische System modifiziert wird. In Mehrheitsdemokratien wie Großbritannien oder Frankreich ist der Wahlverlierereffekt besonders ausgeprägt, während er in stark konsensorientierten Ländern wie Belgien oder der Schweiz insignifikant ist (Abb. 6). Wie beim Institutionenvertrauen lässt sich auch hier nicht bestätigen, dass „Linke“ in ungleichen Ländern besonders unzufrieden sind. Der Interaktionsterm wird für keinen vorliegenden Wert des Gini-Koeffizienten signifikant.

Tab. 5 Demokratiezufriedenheit in 17 europäischen Ländern

Da sich die Erklärungskraft der Variablen nicht ohne weiteres aus den Koeffizienten der Regressionstabellen ablesen lässt, werden die signifikanten Variablen in Abb. 7 standardisiert dargestellt. In beiden Fällen erweisen sich die wirtschaftliche Dynamik sowie die Einkommensverteilung als besonders erklärungskräftig. Erst an dritter Stelle folgen Variablen der Individualebene. Mit der Konsensorientierung hat eine weitere Makrovariable einen substanziellen Effekt auf die beiden abhängigen Variablen. Sowohl das Vertrauen in Politiker und Parlamente wie auch die Demokratiezufriedenheit werden somit durch Input- und Output-Komponenten geprägt. Dass die Einkommensungleichheit das durchschnittliche Vertrauen und die Demokratiezufriedenheit verringert, liegt nicht auf der Hand, denn Ungleichheit erzeugt Gewinner und Verlierer, sodass der Zufriedenheitsgewinn der einen den Rückgang bei den anderen ausgleichen könnte. Doch die hier präsentierten Ergebnisse widersprechen dieser Vermutung. Was also macht Menschen in ungleichen Gesellschaften unzufriedener? Wilkinson u. Pickett (2009) zeigen, dass soziale Ungleichheit die Lebensqualität fast aller Schichten reduziert (siehe auch Frank 2007). Sie demonstrieren für 23 wohlhabende Demokratien sowie für die US-Bundesstaaten, dass in Staaten mit ungleicher Einkommensverteilung das interpersonale Vertrauen, die Lebenserwartung, das Bildungsniveau und die soziale Mobilität geringer ausfallen. Mit dem Grad sozialer Ungleichheit steigen dagegen – selbst im Vergleich reicher Demokratien – sowohl die Anzahl Übergewichtiger, psychisch Erkrankter, Inhaftierter und Ermordeter wie auch die Kindersterblichkeit. Soziale Ungleichheit erzeugt, so Wilkinson u. Pickett (2009, Kap. 13), „dysfunktionale Gesellschaften“. Wird die Politik hierfür verantwortlich gemacht, sinken das Institutionenvertrauen und die Demokratiezufriedenheit.

Abb. 7
figure 7

Effektstärke der signifikanten Variablen aus Tab. 4 und 5 (standardisierte Koeffizienten) (Erläuterung: Abgetragen sind die standardisierten Koeffizienten aller signifikaten Variablen als absolute Werte. Die Balken geben an, um welchen Anteil einer Standardabweichung sich die abhängige Variable verändert, wenn der Wert der erklärenden Variable um eine Standardabweichung erhöht wird.)

3.3 Schlussfolgerungen aus der empirischen Analyse

In der präsentierten Empirie weist wenig darauf hin, dass die Demokratie vor allem am oberen Ende erodiert. Im Gegenteil, diejenigen, die höher gebildet sind, über ein höheres Einkommen verfügen, sich stärker für Politik interessieren und diese gut verstehen, sind (a) zufriedener mit der Funktionsweise der Demokratie; (b) vertrauen stärker in Parlamente und Politiker; (c) wählen häufiger und (d) nutzen unkonventionelle Beteiligungsformen stärker. Menschen mit hoher sozioökonomischer Ressourcenausstattung partizipieren mehr als anderen gesellschaftlichen Gruppen. Sie ersetzen das Wählen nicht durch unkonventionelle Partizipation, sondern haben eine zusätzliche Möglichkeit gewonnen, ihre Anliegen zu artikulieren. Im Ländervergleich zeigt sich, dass sich soziale Ungleichheit negativ auf das Institutionenvertrauen und die Demokratiezufriedenheit auswirkt. In Ländern mit großer Einkommensspreizung herrscht ein verbreitetes Misstrauen gegenüber der Politik und die Bürger sind mit der Funktionsweise der Demokratie unzufrieden. Diese Ergebnisse widersprechen Bradys (2004) These, dass soziale Ungleichheit zur Polarisierung und dadurch zur Politisierung der Gesellschaft führt. Stattdessen wird die „Theorie relativer Machtdifferenzen“ gestützt, die Entpolitisierung als Folge zunehmender Ungleichheit erwartet, weil die meisten Menschen ihre Einflussmöglichkeiten als gering einschätzen (Goodin u. Dryzek 1980; Pateman 1971).

Welche politischen Konsequenzen hat ein geringes Vertrauen in die Politik? Am Beispiel der USA zeigen Scholz u. Lubell (1998), dass mangelndes Vertrauen die Bereitschaft reduziert, Steuern zu zahlen. Laut Hetherington (2007) verringert verbreitetes Misstrauen die Unterstützung insbesondere für eine Politik, die sozialpolitische Programme für einzelne benachteiligte Gruppen auflegt. In einem solchen Klima unterstützen Wähler lediglich Maßnahmen, von denen sie selbst profitieren, weil sie sonst vermuten, dass das Geld verschwendet wird. Hetherington argumentiert, dass in Folge des Vertrauensverlusts in die Politik insbesondere Umverteilungsprogramme an Unterstützung verlieren, die gezielt die Benachteiligung einzelner Gruppen beseitigen möchten. Als Konsequenz könnte die Distanz sozial Schwacher zur Politik weiter wachsen. Darüber hinaus kann eine Spirale aus Misstrauen und Ungleichheit entstehen, weil Politiken unmöglich werden, die die Ungleichheit reduzieren können.

Der hier im Querschnitt untersuchte Zusammenhang zwischen Ungleichheit und dem Vertrauen in politische Institutionen sowie der Demokratiezufriedenheit legt nahe, dass wachsende soziale Ungleichheit der Demokratie schadet. Allerdings lässt sich nichts darüber aussagen, wie sich eine Zunahme der Ungleichheit im Zeitverlauf auswirkt. Für die individuelle Wahlbeteiligung, politische Diskussionen und das politische Interesse weist Solt (2008) im Längsschnitt nach, dass mehr Ungleichheit die politische Partizipation aller Gruppen verringert. Insgesamt konstatiert er eine zunehmende Verzerrung der Demokratie zugunsten besonders Wohlhabender:

Greater economic inequality increasingly stacks the deck of democracy in favor of the richest citizens, and as a result, most everyone else is more likely to conclude that politics is simply not a game worth playing (Solt 2008, S. 58).

Falls sich die Ergebnisse der hier vorgenommenen Analyse auch im Längsschnitt bestätigen, steht zu befürchten, dass auch in den europäischen Ländern Politik für breite Schichten der Bevölkerung an Bedeutung verliert.

4 Schluss

In diesem Aufsatz wurde dem Zusammenhang zwischen sozialer Gleichheit und politischer Partizipation einerseits sowie der Beurteilung der Demokratie andererseits nachgegangen. Die empirischen Analysen bestätigen sowohl eine erhebliche Diskrepanz in der Partizipationsneigung sozialer Gruppen als auch den negativen Einfluss sozialer Ungleichheit auf das Ansehen von Parlamenten, Politikern und der Demokratie. Zusammenfassend lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen:

  1. 1.

    Unkonventionelle Beteiligungsformen sind aus Sicht demokratischer Gleichheit ein problematischer Ersatz für Wahlen, da sie stärker sozial verzerrt sind. Wahlen garantieren relativ gleiche Zugangschancen, weil der individuelle Aufwand gering ist. Andere Beteiligungsformen verlangen dagegen Ressourcen wie Zeit, Kompetenzen (civic skills) oder Geld (Brady et al. 1995). Eine sinkende Wahlbeteiligung gefährdet somit das Versprechen der Demokratie, alle Interessen gleich zu berücksichtigen.Footnote 9

  2. 2.

    In fast allen OECD-Ländern wächst die soziale Ungleichheit. Seit den Siebzigerjahren hat sich der zuvor lange anhaltende und in den Nachkriegsjahrzehnten besonders ausgeprägte Trend zu mehr Gleichheit umgekehrt. Damit werden die Ressourcen zunehmend ungleich verteilt, die zur politischen Teilhabe befähigen.

  3. 3.

    Wachsende Ungleichheit ist deshalb demokratierelevant, weil ein starker Zusammenhang sowohl zwischen den individuellen Ressourcen als auch zwischen der gesellschaftlichen Ungleichheit und der Bewertung der Demokratie besteht: Je ungleicher das Einkommen in einem Land verteilt ist, desto unzufriedener sind die Bürger mit der Funktionsweise der Demokratie und desto weniger vertrauen sie den politischen Institutionen.

Diese Ergebnisse machen deutlich, dass formale Gleichheit zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine funktionierende Demokratie ist. Sind die für die demokratische Teilhabe benötigten Ressourcen in hohem Maß ungleich verteilt, gewährleistet der politische Prozess die gleiche Berücksichtigung aller Interessen allein deshalb nicht, weil sie unterschiedliche Chancen haben, zu den Entscheidungsträgern durchzudringen (Verba et al. 1995, S. 11). Gilens (2005) weist für die USA nach, dass, wenn Interessenkonflikte zwischen armen und reichen Bevölkerungsteilen bestehen, politische Entscheidungen systematisch zugunsten der Wohlhabenden ausfallen (siehe auch Bartels 2008, Kap. 9). Solche Befunde widersprechen dem demokratischen Gleichheitsprinzip. Zwar verlangt die Demokratie nicht umfassende Gleichheit, dennoch bedroht eine übermäßige soziale Ungleichheit ihren Kern. Das „Goldene Zeitalter“ des Wohlfahrtskapitalismus war auch für die Demokratie ein gutes Zeitalter, weil die Gesellschaften der OECD-Länder in dieser Zeit gleicher und durchlässiger wurden. Das Paradox der Demokratie, dass ihr weltweiter Siegeszug durch Krisensymptome in den Kernländern begleitet wird, lässt sich damit erklären, dass einerseits mehr Länder ein demokratieförderliches ökonomisches Entwicklungsniveau erreichen, aber andererseits die innerstaatliche Ungleichheit zunimmt.

Die Analysen dieses Artikels verweisen auf offene Fragen, die hier nicht beantwortet werden können. Erstens kann mit den verwendeten Daten nicht geklärt werden, wie sich Ungleichheit auf die politische Partizipation und die Bewertung der Politik im Zeitverlauf auswirken. Die hier vorgenommene Querschnittsuntersuchung muss durch Längsschnittvergleiche ergänzt werden. Zweitens muss geklärt werden, durch welche Mechanismen sich Ungleichheit in politische Unzufriedenheit und Apathie übersetzt. Mit Brady et al. (1995, S. 271) lassen sich drei Gründe nennen, weshalb Menschen nicht partizipieren: weil sie wegen fehlender Ressourcen nicht können, weil sie aufgrund von geringem politischem Interesse und mangelndem Glauben an ihre externe Effektivität nicht wollen oder weil sie nicht mobilisiert werden. Wachsende Ungleichheit kann alle drei Ursachen verstärken. Ob und wie dies im Einzelnen geschieht, bedarf weiterer Forschung. Schließlich ist die Richtung der Kausalität nicht geklärt. Die Verzerrung politischer Partizipation kann dazu führen, dass die Interessen der sozial Schwachen ignoriert werden. Genauso ist denkbar, dass sozial Schwache sich gegen politische Partizipation entscheiden, weil ihre Interessen ignoriert werden. Im für die Demokratie ungünstigsten Fall verstärken sich diese Prozesse wechselseitig.