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Was ist ein ethisches Problem und wie finde ich es? Theoretische, methodologische und forschungspraktische Fragen der Identifikation ethischer Probleme am Beispiel einer empirisch-ethischen Interventionsstudie

What is an ethical problem and how do I find it? Theoretical, methodological and practical questions to identify ethical problems in an empirical–ethical intervention study

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Eine wichtige Aufgabe empirischer Sozialforschung in der Medizinethik besteht darin, bisher unbekannte ethische Probleme zu identifizieren und zu beschreiben. Die Frage, welche Sachverhalte in den Gegenstandsbereich der Medizinethik fallen, ist jedoch sowohl aus wissenschaftlicher Sicht voraussetzungsreich als auch in der Praxis umstritten. Im Beitrag werden theoretische, methodologische und forschungspraktische Aspekte der Identifikation und Auswahl ethischer Probleme diskutiert und das Vorgehen am Beispiel einer konkreten empirisch-ethischen Studie illustriert. Der Schwerpunkt des Artikels liegt hierbei auf den Vorbedingungen sowie dem konkreten Vorgehen bei der Integration von Laien- und Expertenperspektive. Im ersten Teil wird zunächst vorbereitend die Frage nach der Abgrenzung zwischen ethischen Problemen und anderen praktischen Herausforderungen adressiert. Dies geschieht unter Rückgriff auf die philosophisch-ethische Systematik sowie unter Berücksichtigung des stark praxisorientierten Charakters von Medizinethik. Anschließend wird ein Vorschlag zur Unterscheidung zweier Typen ethischer Probleme gemacht und die Frage nach der Definitionsmacht zur Auszeichnung ethischer Probleme auf den spezifischen Kontext empirisch-ethischer Forschung übertragen. Aufbauend auf diesen theoretischen Überlegungen wird im dritten Abschnitt des Beitrags schließlich ein Vorgehen zur Identifikation ethischer Probleme am Beispiel des ETHICO-Projektes als einer empirisch-ethischen Interventionsstudie im Bereich der Onkologie vorgestellt. Zusammenfassend vertritt der Beitrag die These, dass die Identifikation ethischer Probleme in der Medizin ein theoretisch komplexes und methodisch anspruchsvolles Unterfangen ist, bei dem nicht allein die Perspektive philosophischer Theorie eingenommen werden sollte, sondern vielmehr Formen der Integration von Laien- und Expertenperspektive entwickelt werden müssen.

Abstract

Definition of the problem

A main function of empirical social research in medical ethics is the identification and description of formerly unknown ethical problems. The question which issues fall within the scope of medical ethics is, however, disputable from a scientific as well as from a practical perspective. In this article theoretical, methodological and practical aspects of identifying and selecting ethical problems, which are illustrated using the example of a concrete empirical–ethical study, are discussed. The special focus lies on the preconditions and the concrete procedure in the integration of expert and lay perspectives.

Arguments

The first section of the article addresses the difference between ethical problems and other types of practical problems by reference to philosophical–ethical classifications and in regard of the practice-oriented character of medical ethics. Subsequently, the article makes a suggestion for a distinction between two types of ethical problems and discusses the question which persons should have the “definitory power” to determine whether an ethical problem is present. Both ideas will then be related to the specific context of empirical–ethical research. In the third section an approach for the identification of ethical problems applied in the ETHICO project as an empirical-ethical intervention study in oncology is presented.

Conclusion

The identification of ethical problems in medicine is a theoretically and methodologically demanding enterprise which should not be exclusively dominated by the perspective of ethical theory but develop methods for integrating lay and expert perspectives.

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Notes

  1. Aus Gründen der Kürze und Lesbarkeit wird im Beitrag zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Gruppen nur die männliche Form verwendet, gemeint sind aber stets beide Geschlechter, hier also Forscherinnen und Forscher.

  2. Als „empirisch-ethische Forschung“ werden im vorliegenden Artikel solche wissenschaftlichen Vorhaben bezeichnet, die sowohl sozialempirische Forschung als auch normative Analysen zu einem ethisch relevanten Thema durchführen und beides miteinander in Verbindung setzen, vgl. [38].

  3. Eine allgemeine Darstellung zu diesem Thema findet sich bei [10]. In Bezug auf die Angewandte Ethik insgesamt ist auf den Sammelband von Zichy, Ostheimer und Grimm [47] hinzuweisen sowie insbesondere auf [35]. Ein Beitrag zu den Spezifika empirisch-ethischer Forschung findet sich in den genannten Publikationen jedoch nicht.

  4. Der Zusammenhang zwischen dem evaluativ Guten und dem normativ Richtigen war Gegenstand umfangreicher Arbeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wird von zeitgenössischen Autoren der Ethik weiterhin intensiv diskutiert [2, 30, 36].

  5. Es ergibt sich dann die bekannte Gliederung in moralisches, unmoralisches (immoralisches) und außermoralisches (amoralisches) Handeln, vgl. etwa ([7], S. 8 f.).

  6. Selbstverständlich gibt es auch unter den Ethiktheorien des 20. und 21. Jahrhunderts Theorien, die die Frage nach dem guten Leben in den Vordergrund stellen, zum Beispiel in Form neoaristotelischer oder kommunitaristischer Ansätze.

  7. Im Rahmen der notwendigerweise sehr verkürzenden Darstellung der Unterscheidung zwischen dem evaluativ Guten und dem normativ Richtigen sollte wenigstens kurz darauf hingewiesen werden, dass auch Kombinationen beider Grundfragen bearbeitet werden, etwa in Martha Nussbaums Ansatz einer universalistischen Tugendethik, vgl. [31].

  8. Vgl. etwa „Offensichtlich sind sie [die Probleme der Angewandten Ethik] normativer Natur, resultieren also aus einer Verunsicherung der Handlungsorientierung“ ([4], S. 74).

  9. Angela Kallhoff unterscheidet zwei Typen ethischer Probleme, die sie als „subjektiv“ und „objektiv“ bezeichnet, vgl. ([23], S. 36 ff.). Jedoch scheint sie eher einen Wechsel der Perspektive zu akzentuieren, als dass hier tatsächlich zwei Klassen von Sachverhalten unterschieden würden.

  10. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum positiv begutachtet, vgl. AZ 4330-12, AZ 4521-12, AZ 4977-14.

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Danksagung

Das Forschungsprojekt wurde durch Mittel der NRW-Nachwuchsforschergruppe „Medizinethik am Lebensende: Norm und Empirie“ am Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum unterstützt (Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Förderkennzeichen: 334-5). Wir danken weiterhin drei anonymen Gutachtern, deren kritische Kommentare zur Qualität des Artikels beigetragen haben.

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Correspondence to Sabine Salloch.

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Interessenkonflikt

S. Salloch, P. Ritter, S. Wäscher, J. Vollmann und J. Schildmann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Das Projekt inkl. der empirischen Forschung wurde von der zuständigen Ethik-Kommission beraten und im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Probanden wurde das Einverständnis eingeholt.

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Salloch, S., Ritter, P., Wäscher, S. et al. Was ist ein ethisches Problem und wie finde ich es? Theoretische, methodologische und forschungspraktische Fragen der Identifikation ethischer Probleme am Beispiel einer empirisch-ethischen Interventionsstudie. Ethik Med 28, 267–281 (2016). https://doi.org/10.1007/s00481-016-0384-x

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