Zusammenfassung
Obwohl im psychoanalytischen Prozess – von wenigen Ausnahmen abgesehen – der Patient überwiegend auf den akustischen Sinneskanal angewiesen ist, wird in der psychoanalytischen Literatur einem der vorherrschenden Instrumente der Analytikerin – ihrer Stimme nämlich – nur wenig Beachtung geschenkt. Die Autorin vermutet dahinter ein kollektives Widerstandsphänomen, das sich darin begründet, dass die Analytiker sich vor dem bedrohlichen Gedanken schützen: In unserer Stimme materialisiert sich – aller Abstinenz zum Trotz – unsere Körperlichkeit, kommt unsere sinnliche Präsenz zur Erscheinung und wirkt auf unsere Patienten. Es wird versucht zu zeigen, inwieweit die Stimme der Analytikerin als Teil der Atmosphäre im Behandlungsraum den Patienten leiblich ergreift, und ihm ein ästhetisches Erleben ermöglicht, das zur Veränderung bisheriger Wahrnehmungsweisen und damit zu neuen Erfahrungen führen kann. Anhand des Konzeptes der „Aufführung“ der Theaterwissenschaftlerin Fischer-Lichte, die eine Ästhetik des Performativen als Ästhetik der Präsenz versteht, welche die Empfindung körperlicher Präsenz erzeugt, wird erklärt, inwieweit beide Teilnehmer an der psychoanalytischen Aufführung Bedeutungen schaffen: Indem das Hören auf die Stimme nicht lediglich als Abwehr des Patienten verstanden wird, der vor der Erkenntnis der semantischen Bedeutung der Wörter flieht, sondern als notwendiges Übergangsstadium auf dem Wege zur Wiederbelebung der Sachvorstellungen akzeptiert werden kann, ermöglicht man ihm einen neuen Hör- und Spielraum, in dem die Gegenwart von etwas anderem erfahren werden kann.
Abstract
In psychoanalytic research little attention has been given to one of the analyst’s chief instruments, namely his/her voice, although, apart from a few exceptions, the patient has to rely mainly on the acoustic channel in the course of the psychoanalytic process. The author presumes this to be a sign of a collective resistance among analysts which protects them against an unsettling idea: Our utmost restraint notwithstanding, it is in our voice that our physical nature materializes, that our presence is felt in a sensory way thus affecting our patients. An attempt is undertaken to show to what extent the analyst’s voice as a part of the atmosphere in the analyst’s practice affects the patient physically, thus making it possible for him/her an aesthetic experience, which may as a sensory perception lead to changes of the habitual ways of perception and thus to new experiences. Using the concept of “The Performance” devised by Fischer-Lichte, a lecturer in the theory of drama, the author explains to what extent meanings are created by both participants of a psychoanalytic process: Fischer-Lichte regards the aesthetics of performance as aesthetics of presence which arouse the sensation of physical presence. If the patient’s focus on the voice is not merely interpreted as a means of defence against comprehending the semantic meanings of the words, but is accepted as a necessary transition stage leading to re-animating the patient’s conception of reality, then a new listening and performing horizon is opened where the presence of other things can be experienced.
Notes
Die Herausgeber der Studienausgabe weisen auf den terminologisch etwas verwirrenden Umstand hin, dass hier „Objektvorstellung“ genannt werde, was in Das Unbewußte „Sachvorstellung“ heiße. Das mit „Objektvorstellung“ in Das Unbewußte Bezeichnete meine hingegen den Komplex aus Sach- und Wortvorstellung (Studienausgabe, Bd. III, S. 168 und 173, Fußnote).
Diese Irritation kennen wir auch als Erwachsene, z. B. im Kino, wenn Schauspieler die „falsche“ Synchronstimme haben.
In Abwandlung des bereits Gesagten: „Was zu hören ist, muss doch auch zu fühlen sein.“
Die Autorin berichtet hier ein Beispiel: „Einer meiner schwer trennungsgeschädigten Analysanden nahm alle Stunden auf Tonband auf und trug so meine Stimme buchstäblich mit nach Hause, was wir später als einen Versuch verstanden, mit dem ‚guten Objekt‘ die Gefühle von Verlassenheit zwischen den Stunden zu bannen“ (ebd. S. 95). Aus meiner Sicht bleibt hier der Abwehraspekt unberücksichtigt, der in dem Versuch des Analysanden liegt, sich zu distanzieren, Stimme und Körper der Analytikerin zu trennen. Es handelt sich eben nicht nur um ein „gutes“, sondern um ein hochgradig ambivalentes Objekt, das gewissermaßen „entschärft“ werden muss, indem die Stimme um die Aspekte der Gegenwärtigkeit und Körperlichkeit reduziert werden soll. Mehr ist für diesen Analysanden zu dieser Zeit vermutlich nicht erträglich, da eigene Ängste und Sehnsüchte ihm nicht mehr kontrollierbar erscheinen.
Der Begriff „Körper“ wird hier in dem Sinne verwendet, dass der Mensch ihn wie ein Objekt behandeln kann, von dem man sich reflexiv absetzen, dass man ihn manipulieren, instrumentalisieren, beobachten kann. Im Gegensatz dazu, wird der „Leib“ als etwas verstanden, zu dem man nicht auf Distanz gehen kann. Das Wort Leib entstammt dem althochdeutschen Begriff lip für Leben. Die Grundbedeutung des Wortes ist dem gr. liparein gemäß „Beharrung“ (Leib; vgl. Kluge 1967). Dies spricht für die Verwendung des Wortes Leib im Sinne eines „lebendigen“ oder „beseelten“ Körpers, wenngleich beide Begriffe meistens synonym verwendet werden.
„Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, dass unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet?“ (Schiller 1795, S. 237). Das Spiel ist für Schiller „die schöne, zweckfreie, – freie Bewegung...“ (Mayer 1966, S. 851).
So auch Holderegger in seinem neuesten Aufsatz: Der vorliegende Text des Patienten, die „abstrakte Textform“ wird „in Anschauung transformiert“ und damit der verbalen Kommunikation und letztlich der Veränderung zugänglich (Holderegger 2005, S. 155).
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Pflichthofer, D. Hörräume – Klanghüllen. Forum Psychoanal 21, 333–349 (2005). https://doi.org/10.1007/s00451-005-0255-4
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