Zusammenfassung
Hintergrund
Die Beschäftigung mit Wohn- und Lebensräumen spielt in der sozialgerontologischen Forschung schon lange eine zentrale Rolle. So werden etwa Wohnumwelten als wesentliche Einflussgrößen auf die Lebensqualität von alten Menschen verstanden und als eine Ursache für eigenes Wohlbefinden (bzw. als Mangel an diesem) ausgemacht. Dominiert wird die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Raum und Alter(n) von psychologisch geprägten ökogerontologischen Ansätzen auf der einen Seite und einer sozialraumorientierten Forschung auf der anderen Seite. Während ökogerontologische Ansätze in der Verhältnisbestimmung von Raum und Alter(n) insbesondere auf Wahrnehmungen, Erleben und Affekte fokussieren, rekurrieren sozialraumorientierte Forschungen eher auf soziale Ungleichheitsverhältnisse und Beteiligungsstrategien.
Ziel der Arbeit
Die Erkenntnisse von ökogerontologischen Ansätzen zu Affekten und sozialraumorientierten Forschungen zu sozialen Ungleichheitsverhältnissen werden mittels einer praxistheoretischen Fundierung zusammengeführt, und es wird ein relationales Raum-Alter-Verständnis entwickelt, das sowohl Affekte in den Blick zu nehmen vermag, als auch sensibel ist für räumliche Ausschlüsse, die auf sozialen Ungleichheiten beruhen und ebenfalls eine affektive Komponente aufweisen. Diese Zusammenführung ermöglicht neue Erkenntnisse für eine gerontologische Bestimmung des Verhältnisses von Raum und Alter(n).
Ergebnisse und Schlussfolgerung
Eine solche Neuvermessung des Alter(n)s trägt dazu bei, andere Forschungsfragen in Bezug auf Konstruktionen von Raum durch Alter bzw. Alter durch Raum zu formulieren und Impulse für gerontologische Fragestellungen zu geben, die das komplexe Zusammenspiel von Menschen, Artefakten und Raumanordnungen in den Blick nehmen und die Konsequenzen sowohl für einzelne Individuen als auch für deren Lebensräume ausloten.
Abstract
Background
The study of housing and living spaces has always played a central role in sociogerontological research. For example, living environments are seen as essential influencing factors on the quality of life and personal well-being (or the lack of it) of older people. The study of the relationship between space and age(ing) is dominated by psychologically influenced environmental gerontological approaches and social area-oriented research. While environmental perspectives in gerontology focus in particular on perceptions, experiences and affects to identify the relationships between space and age(ing), social area-oriented research tends to focus on social inequalities and strategies of participation.
Objective
The results of ecogerontological approaches to affects and social area-oriented research on social inequalities are combined by means of a praxiological approach. A relational understanding of space and age is developed, which is able to focus on affects and is also sensitive to spatial exclusions based on social inequalities and which also have an affective component. This combination enables new insights into a gerontological designation of the relationship between space and age(ing).
Results and conclusion
Such a remapping of age(ing) makes it possible to formulate other research questions regarding constructions of space through age or age through space and to provide impulses for gerontological research perspectives that take the complex interplay of humans, artefacts and spatial arrangements into account and explore the consequences for individual persons and also for their living spaces.
Notes
Mit seiner „Soziologie des Raumes“ und der darin formulierten Idee von Relationalität stellten Räume für Simmel [35] schon Anfang der 1900er-Jahre ein zentrales Element dar, um menschliches Zusammenleben und gesellschaftliche Organisationen zu erklären. Räume betrachtete er als ein Ergebnis menschlichen Handelns und nicht als objektive Gegenstände oder starre Behälter, die unabhängig von sozialen Verhältnissen existieren.
Zu den Vorläufern dieser Entwicklungen: [27].
Davon zu unterscheiden ist die Sozialraumorientierung als Konzept kommunaler Sozialplanung. Zwar sind die Grenzen fließend, eine Unterscheidung erscheint aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunkte jedoch angebracht.
Zum relationalen Raumverständnis sowie zur Verbindung von Raum und Affekt in der gerontologischen Forschung erscheinen auch humangeografische Ansätze weiterführend, wie u. a. Andrews et al. [1] zeigen.
In praxistheoretischer Perspektive verspricht die Analyse der Herstellung von altersspezifischen Zugehörigkeiten in spezifischen Kontexten weiterführende Erkenntnisse. So analysieren beispielsweise ungleichheitstheoretische Konzepte des „belonging“ (u. a. [3, 8]), wie Zugehörigkeiten in performativen und materiellen Praktiken hervorgebracht werden und dabei einerseits spezifische Subjektivierungsweisen und andererseits soziale Positionierungen herausbilden, die durch Qualität und Form der Verbundenheit in Beziehungen mit Menschen und Orten zum Ausdruck kommen [8, S. 221].
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Höppner, G., Richter, A.S. Neuvermessung des Alter(n)s. Z Gerontol Geriat 53, 395–400 (2020). https://doi.org/10.1007/s00391-020-01743-0
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