Einleitung

Digitalisierung ist zugleich ein Zeichen als auch ein Treiber des gesellschaftlichen Wandels. Mittlerweile hat sie nahezu alle gesellschaftlichen Lebensbereiche erfasst und unser (Alltags‑)Leben somit kontinuierlich verändert – dies betrifft u. a. soziale Interaktionen, berufliche sowie private Prozessabläufe und auch (gesundheitsrelevante) Verhaltensweisen [1]. Interventionen aus den Bereichen der Gesundheitsförderung und vielfach auch der Prävention haben einen Bezug zur Lebenswelt. Sie setzen häufig in bestimmten Settings an, um die Bevölkerung bzw. bestimmte (vulnerable) Bevölkerungsgruppen zu erreichen [2]. Daher unterliegen Prävention und Gesundheitsförderung einigen durch die Digitalisierung in Gang gesetzten Veränderungen, können sich aber auch Methoden der Digitalisierung zunutze machen.

Zur Systematisierung der vielfältigen digitalen Interventionen mit Bezug zu Gesundheit und Gesundheitsversorgung hat die Weltgesundheitsorganisation ein Klassifikationssystem erstellt, welches zur Einordung die Herausforderungen des Gesundheitssystems, verschiedene Anwendungsformen sowie diverse Gruppen von Anwenderinnen und Anwendern berücksichtigt [3]. Zur Verortung von digitalen Interventionen in der Prävention und Gesundheitsförderung ist zunächst relevant zu betrachten, dass es sich hierbei um einen Teilbereich von E‑Health handelt [4]. E‑Health umfasst dabei alle Leistungen, Qualitätsverbesserungen und Rationalisierungseffekte, die durch den Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen möglich werden [5]. Während in der medizinischen Versorgung eine Zunahme an digitalen Versorgungsstrukturen in Form telemedizinischer Anwendungen zu beobachten ist, gibt es ein breites Spektrum an digitalen Anwendungen, die in den Alltag integriert werden können und sich in vielen Fällen durch ihren mobilen Charakter auszeichnen [4].

Digitale Anwendungen können im Sinne der Primärprävention eingesetzt werden, um Risikofaktoren für die Entstehung von Erkrankungen zu reduzieren, eine Monitoringfunktion für gesundheitsbezogene Verhaltensweisen darzustellen oder entsprechende gesundheits- und krankheitsbezogene Informationen bereitzustellen [6, 7]. Beispiele für ein kontinuierliches Monitoring des Gesundheitszustandes oder -verhaltens lassen sich in Applikationen auf Smartphones (z. B. in Form von Gesundheits-Apps) oder aber sensorgesteuerten Instrumenten (z. B. Wearables) finden, die teilweise auch untereinander Daten austauschen [8]. Die Aufarbeitung und Bereitstellung von digitalen Informationen im Kontext der Gesundheitskommunikation, welche auch einen Teil von Präventionskampagnen und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung darstellen, bedürfen ebenfalls einer Evidenzbasierung [9] und auch die Wirksamkeit entsprechender Stimuli sollte getestet werden. Darüber hinaus können digitale Applikationen in der Sekundär- und Tertiärprävention eingesetzt werden, um ein Fortschreiten oder eine Remission einer Erkrankung zu verhindern. Insbesondere Lifestyle-Apps lassen sich aber auch im Kontext der Gesundheitsförderung einordnen, da sie auf eine Stärkung von Gesundheitsressourcen abzielen [10].

Es ist zu berücksichtigen, dass die im Kontext von digitaler Prävention und Gesundheitsförderung agierenden Akteure sehr heterogen sind. Entsprechende Maßnahmen werden nicht mehr nur von Personen und Institutionen mit Public-Health-Expertise erstellt, sondern vielmehr von Unternehmen aus Wirtschaft und Technik entwickelt. Gesundheits-Apps adressieren direkt gesundheitsbezogene Themen oder dienen zumindest als Lifestyleprodukt auf dem zweiten Gesundheitsmarkt, in welchem Produkte und Dienstleistungen angeboten werden, die nicht Gegenstand einer gesetzlichen Versicherung oder eines staatlichen Gesundheitsdienstes (und somit Teil des ersten Gesundheitsmarktes) sind [11]. Dementsprechend unterliegen sie keiner Regulierung bzw. Überprüfung hinsichtlich ihrer Wirksamkeit. Die Bedeutung für Wirksamkeitsnachweise lässt sich jedoch darin erkennen, dass in dem Digitale-Versorgung-Gesetz [12] festgehalten ist, dass seit dem 01.01.2020 „Apps auf Rezept“ ausgegeben werden dürfen. Hierbei handelt es sich um jene gesundheitsbezogenen Apps, die über ein Lifestyleprodukt hinausgehen und sich als Medizinprodukt klassifizieren lassen können. Die Zulassung von entsprechenden Apps erfolgt über eine zentrale Stelle, jedoch ist die Wirksamkeit erst nach einem Jahr nachzuweisen. Auf dieser Basis stellt sich zunehmend die Frage, welche Form der Evidenz für digitale Interventionen in Prävention und Gesundheitsförderung vorliegt und welche Anforderungen und Herausforderungen in der Evidenzgenerierung und -basierung ebensolcher Angebote bestehen.

Evidenzbasierung in Prävention und Gesundheitsförderung

Während sich Methoden der evidenzbasierten Medizin bei der Bewertung des Nutzens und Schadens von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen weitestgehend durchgesetzt haben [13], wurden diese lange Zeit im Kontext von Prävention und Gesundheitsförderung nicht oder nur bedingt eingesetzt. Teilweise wird in der deutschen Sprache der Begriff „evidenzbasiert“ mit „evident“ – im Sinne von „offensichtlich“ – fälschlicherweise gleichgesetzt [14]. Bislang wurden engagierte Debatten über Evidenz in Prävention und Gesundheitsförderung und die vermeintlich „richtige“ Evaluationsform für Wirkungsbeurteilungen in diesem Handlungsfeld geführt. Dies liegt darin begründet, dass das Konzept der Evidenzbasierung unter Nutzung randomisierter kontrollierter Studien (RCTs) als Goldstandard auf die Herausarbeitung von Kausalbeziehung unter Vermeidung möglicher Störfaktoren in Form von Confounding und Bias ausgerichtet ist [15, 16]. In der Evaluation von Maßnahmen insbesondere der Gesundheitsförderung – und teilweise auch der Prävention – wurden die facettenreichen und komplexen Wirkmodelle jedoch als hinderlich gesehen, um die Wirksamkeit entsprechender Maßnahmen mithilfe von RCTs belegen zu können [14]. Insbesondere im Kontext von gesundheitsförderlichen Maßnahmen lassen sich verschiedene Komplexitätsmerkmale finden, welche den Einsatz von RCTs zur Wirkungsbeurteilung behindern. Dazu gehören:

  • die hohe Anzahl und Mischung involvierter Akteure aus verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, ökologischen und politischen Kontexten,

  • die Bündelung verschiedener Strategien und Maßnahmen (individueller, sozialer und umfeldbezogener Art),

  • der ganzheitliche Ansatz der Gesundheitsförderung unter Berücksichtigung der Wechselbeziehungen zwischen Körper und Psyche im sozialen Kontext (biopsychosoziales Modell),

  • die Interdisziplinarität und Multisektoralität,

  • die Kombination verschiedener Handlungsfelder,

  • der Einfluss vielfältiger kontextueller und subjektiver Faktoren,

  • der hohe Prozesscharakter vieler Interventionen mit grundsätzlicher Offenheit ihres Ausgangs (insbesondere im Kontext partizipativer Verfahren)

  • sowie die Vielfalt an Ergebnisparametern auf unterschiedlichen Ebenen, die sich teilweise erst nach einigen Jahren darstellen lassen [17,18,19].

Am Beispiel eines humorvollen Beitrags – veröffentlicht im Rahmen der Weihnachtsausgabe der britischen Fachzeitschrift The BMJ [20] – wird diese Akkumulation an Herausforderungen überzeichnet – dafür aber treffsicher – dargestellt: Hier werden die Ergebnisse eines systematischen Reviews aufgezeigt, welche die vorliegende Evidenz auf Basis von RCTs zusammenfassen soll, die sich damit beschäftigen, ob ein Fallschirm bei einem Sprung aus einem Flugzeug die Todes- und Verletzungsrate reduzieren kann. Wie erwartet lagen für eine solche Intervention keinerlei Belege basierend auf einer RCT vor, in welchem zwei Gruppen randomisiert in Interventions- und Kontrollgruppe geteilt worden wären, um die Wirksamkeit und Sicherheit der Intervention zu untersuchen [20]; zumal die Durchführung einer solchen Intervention von keiner Ethikkommission bewilligt worden wäre.

Bezeichnenderweise wurde in einer weiteren Weihnachtsausgabe – 15 Jahre später – eine solche RCT durchgeführt: In dieser Studie willigten 23 Passagiere von Linienmaschinen ein, aus einem Flugzeug zu springen. Die Passagiere wurden randomisiert entweder mit einem funktionierenden Fallschirm oder einer Fallschirmattrappe ausgerüstet. Da für die Durchführung der Intervention keine Linienflugzeuge verfügbar waren, wurden ein Doppeldecker und ein Hubschrauber eingesetzt. Sowohl in der Interventions- als auch in der Kontrollgruppe kam es zu keinerlei Todesfällen (0 %) oder Verletzungen (0 %). Somit ließ sich kein Vorteil des Einsatzes von Fallschirmen beim Sprung aus Flugzeugen nachweisen. Zu beachten sind hier jedoch die von den Autorinnen und Autoren der Studie benannten Limitationen, die sich darauf beziehen, dass sich die Testsituation signifikant von den Verhältnissen in Linienmaschinen unterschied. Dies gilt vor allem hinsichtlich der mittleren Absprunghöhe (0,6 m vs. 9146 m) und der Geschwindigkeit (0 km/h vs. 800 km/h; [21]).

Dieses unterhaltsame Beispiel macht erstens deutlich, dass es zwar manche Situationen gibt, in denen die Bedeutung „evidenzbasiert“ mit „evident“ identisch ist. Dies trifft aber auf die meisten Interventionen der Prävention und Gesundheitsförderung nicht zu. Zweitens wird deutlich, dass RCTs zwar der erstrebenswerte methodische Zugangsweg zum Beleg von Wirksamkeit und Sicherheit sind, aber eben nicht der einzig mögliche bzw. zulässige im Kontext von Public-Health-Interventionen. Drittens ist anzumerken, dass eine klare Definition dahin gehend vorliegen muss, unter welchen spezifischen Charakteristika der Intervention welcher Outcome-Parameter erhoben wird.

Prävention und Gesundheitsförderung stellen immer Interventionen dar, die unmittelbar auf Individuen, vulnerable Gruppen oder gesamte Populationen einwirken [22]. Insofern unterscheiden sich die Anforderungen an eine Evaluation von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung nicht von den Zielen der klassischen evidenzbasierten Medizin [23]. Wenngleich die Bewertungen des Nutzens und Schadens von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung erheblich komplexer und somit auch methodisch aufwendiger sein können als bei klassischen Interventionen aus der Medizin, ist dennoch der Einsatz einer rigiden Methodik unabdingbar. Am Beispiel des Mammografie-Screenings [24, 25] lässt sich eindrucksvoll belegen, dass ein Überoptimismus bezogen auf Präventionsmaßnahmen tendenziell zu einer positiv verzerrten Einschätzung von deren Wirksamkeit führt [23, 26]. Auch ist zu bedenken, dass Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung aufgrund der Heterogenität der Interventionen selbst, aber auch der Individuen und der Settings nicht per se wirksam sind [2]. Umso erstaunlicher ist es, dass im Präventionsgesetz [27] der Begriff „Evidenz“ und die dahinterliegenden Konzepte nicht vorkommen. Dementsprechend werden die Herausforderungen bei der Bewertung des potenziellen Nutzens und Schadens von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung bislang nicht ausreichend adressiert [23]. Die aufgezeigten Herausforderungen gelten auch und insbesondere für digitale Anwendungen in der Prävention und Gesundheitsförderung und werden durch deren Besonderheiten nochmals verstärkt.

Evidenz digitaler gesundheitsbezogener Interventionen

Der Einsatz digitaler Anwendungen gewinnt in der Prävention, Gesundheitsförderung und -versorgung zunehmend an Bedeutung. Vielfach werden mobile Technologien eingesetzt, welche sich unter dem Begriff M‑Health (Mobile Health) zusammenfassen lassen. Digitale Kommunikationstechnologien können dazu beitragen, verschiedene Zielgruppen zu erreichen, sodass eine niedrigschwellige Erreichbarkeit (z. B. über mobile Endgeräte) ermöglicht bzw. erleichtert wird [28]. Dies gilt vermeintlich auch für Zielgruppen, die für Gesundheitsthemen über andere Kanäle häufig schwer erreichbar sind. Die Kommunikation bzw. der Informationsaustausch können interaktiv sowie auf die Bedürfnisse und Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer ausgerichtet erfolgen [7].

Digitale gesundheitsbezogene Technologien ermöglichen es, situativ über gesundheitsrelevante Einflüsse der Lebensumwelt und des eigenen Verhaltens aufzuklären und in Entscheidungen bezüglich Prävention und Gesundheitsförderung einzubeziehen. Dabei können digitale Anwendungen individuell auf die Bedürfnisse und den Bedarf der Nutzerinnen und Nutzer zugeschnitten werden (Tailoring) – sowohl hinsichtlich der Auswahl und Kombination/Interaktion relevanter Komponenten als auch der Darstellungsweise (Design, Botschaftsstrategien etc.). Somit gehen die Möglichkeiten digitaler Technologien in Prävention und Gesundheitsförderung über eine reine Abgrenzung von Subgruppen (Targeting) hinaus [29].

Der zentrale Ansatzpunkt digitaler Anwendungen liegt zumeist in der Verhaltensprävention. Dennoch ermöglichen sie gleichzeitig eine Veränderung unserer Lebensumwelt, sodass sie ein Instrument im Rahmen der Verhältnisprävention darstellen könnten. Ebenso fördern sie neue Prozesse der Erhebung und Analyse von gesundheitsrelevanten Daten. So besteht die Möglichkeit einer langfristigen Dokumentation des eigenen Verhaltens (Quantified Self), indem über Wearables oder Smartphone-Apps gesundheitsrelevante Aspekte kontinuierlich gemessen und aufgezeichnet werden [30]. Unterhaltsame Formate, wie etwa Computerspiele, die nicht ausschließlich der Unterhaltung, sondern dem Lernen und der Anwendung des Gelernten dienen (Serious Games) [31], können das Interesse an gesundheitsrelevanten Themen erhöhen und der Motivationsförderung hin zu einem gesundheitsbewussten Lebensstil dienen [32]. Ein zentrales Beispiel hierfür stellen digitale Applikationen dar – wie es sie in Form von Gesundheits- oder Lifestyle-Apps gibt –, die als präventive Maßnahme zur Förderung eines gesunden Lebensstils eingesetzt werden können. Solche Anwendungen bestehen als Anwendungssoftware für verschiedene (zumeist mobile) Endgeräte und können auch mit weiteren Devices (z. B. Wearables) verknüpft werden [4].

Zu unterscheiden sind Applikationen, die zumeist keiner Regulierung unterliegen (Gesundheits-Apps), von entsprechenden Angeboten, die als Medizinprodukt anerkannt sind (Medizin-Apps) [11]. Aber auch bei jenen digitalen Angeboten, die nicht nach den neuen Vorgaben des Digitale-Versorgung-Gesetzes einen Wirksamkeitsnachweis erbringen müssen, um als Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen finanziert zu werden, sollte eine Prüfung auf Wirksamkeit angestrebt werden. Dies gilt auch für Produkte des zweiten Gesundheitsmarktes (z. B. Lifestyle-Apps). Hier mangelt es nicht nur an Wirksamkeits-, sondern auch an Sicherheitsbelegen. Entsprechende Nachweise könnten über Folgenabschätzungen (Health Technology Assessments) erfolgen [33].

Wo stehen wir?

Zu digitalen Interventionen im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung liegen bislang vor allem Studien zur Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit (Usability) vor. Wirksamkeitsnachweise und Nutzenbewertungen wurden zumeist zu digitalen gesundheitsbezogenen Interventionen durchgeführt, die einen direkten Bezug in der Gesundheitsversorgung aufweisen. Dies bezieht sich auf die Wirksamkeit von diagnostischen und therapeutischen Interventionen und Anwendungen aus den Bereichen der Sekundär- und Tertiärprävention. Darüber hinaus stehen Erleichterungen beim Zugang zu Gesundheitsleistungen, Verbesserungen bei der Bewältigung der Auswirkungen chronischer Erkrankungen oder die Therapieadhärenz im Fokus [10].

Bei digitalen Interventionen aus den Bereichen der Primärprävention und Gesundheitsförderung sind bislang formative Evaluationsverfahren (Prozessevaluation) häufiger zu finden als summative Evaluationen (Ergebnisevaluation). Aufgrund des Fehlens einer standardisierten Vorgehensweise zur Evaluation finden sich eine hohe Variabilität und Bandbreite bei dem methodischen Vorgehen entsprechender Evaluationen [34, 35]. Bisherige Ergebnisevaluationsstudien zu digitalen Interventionen in Prävention und Gesundheitsförderung haben Aspekte hinsichtlich des Wissenszuwachses bezogen auf gesundheitsrelevante Themen, Stärkung des Verantwortungsgefühls für die eigene Gesundheit sowie der Selbstständigkeit – im Sinne des Empowerment – untersucht. Systematische Reviews aus diesem Bereich zeigen auf, dass hierbei entweder bestimmte Zielgruppen, wie z. B. ältere Menschen [36], bestimmte Settings, wie z. B. der Arbeitsplatz [37], oder spezifische Gesundheitsprobleme, wie z. B. Übergewicht [38, 39], untersucht wurden. Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass ein Bedarf hinsichtlich besserer Möglichkeiten zur Erhebung der Qualität und Wirksamkeit von digitalen mobilen Gesundheitsanwendungen besteht [40]. Die bereits bestehenden Herausforderungen in der Evaluation von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung werden durch die komplexen – da vielfach multimodalen – und heterogenen Anwendungsmöglichkeiten digitaler Technologien nochmals verstärkt.

Wo wollen/müssen wir hin?

Um die Evidenz ebenso wie die Nutzerinnen- und Nutzerorientierung zu fördern, bedarf es Veränderungen bereits in der Phase der Entwicklung und Implementierung von digitalen Anwendungen. Nutzerinnen und Nutzer werden in einigen Studien zwar nach ihren Präferenzen gefragt, allerdings werden sie noch immer zu wenig in die Entwicklung digitaler Interventionen einbezogen. Partizipative Forschung kommt somit zu kurz [41] – vielfach steht das Primat des technisch Möglichen über dem des technisch Nötigen [42]. Insbesondere bei sich kontinuierlich weiterentwickelnden Interventionen, wie es digitale Angebote sein können, ist daher der frühzeitige Einbezug von potenziellen Nutzerinnen und Nutzern von hoher Relevanz [43]. Dabei müssen partizipative Prozesse Hand in Hand mit der Evidenzbasierung gehen [44].

In diesem Kontext stellen qualitative Studien eine sinnvolle Ergänzung – oder teilweise auch die einzige Möglichkeit – dar, um die Perspektive der (zukünftigen) Anwenderinnen und Anwender einer Applikation zu berücksichtigen. Dies gilt nicht nur für die frühen, explorativen Phasen, sondern auch für die Prozessevaluation als Begleitung einer konfirmatorischen Untersuchung. Daher sollten qualitative und quantitative Methoden ergänzend in die Studienplanung bei der Entwicklung einer digitalen Intervention integriert werden [45, 46]. Zur stärkeren Involvierung verschiedener Nutzerinnen- und Nutzergruppen sollten entsprechende Möglichkeiten wie der User-centered-Designprozess genutzt werden, in welchem die Zielgruppe einer Anwendung im Mittelpunkt des Designs und der Entwicklung steht (vgl. hierzu die Industrienorm DIN EN ISO 9241-210:2019).

Bei der Ergebnisevaluation sind Prinzipien der Evidenzbasierung stärker zu berücksichtigen. Dabei stellen RCTs zwar die erstrebenswerte Methodik zur Beurteilung der Wirksamkeit dar, jedoch können sich auch neue Methoden zur Evidenzgenerierung entwickeln, die eher auf die Besonderheiten der digitalen Technologien zugeschnitten sind und sich ohne (substanzielle) Abstriche bei der Evidenzgüte einsetzen lassen [47]. Entsprechende Vorschläge zu adaptiven Studiendesigns liegen bereits vor [48] und könnten auf den Bereich digitaler Anwendungen zur Prävention und Gesundheitsförderung übertragen bzw. dafür angepasst werden. Darüber hinaus bestehen andere Studiendesigns – z. B. in Form (quasi-)experimenteller Studien –, die Modifikationen einer RCT darstellen und trotzdem kausale Schlüsse erlauben [49].

Es besteht zwar eine Vielzahl an Studien zum punktuellen Nutzen digitaler Anwendungen in der Prävention und Gesundheitsförderung, die jedoch teilweise eklatante Mängel im Studiendesign haben, da Methoden der evidenzbasierten Medizin nicht verwendet werden. So beruhen Ergebnisse teilweise auf kleinen oder sehr selektiven Stichproben [50]. Unterschiedliche Settings und sozial benachteiligte Gruppen werden in den Studien wenig bis gar nicht beachtet [51]. Vielfach stellt die Studienpopulation eine willkürliche Stichprobe (Convenience Sample) dar [52]. Eine Randomisierung wurde nicht immer oder nur unzureichend vorgenommen und es fehlen häufig Informationen über Gründe für Non-Response oder den Abbruch einer Intervention. Darüber hinaus ist eine Verblindung vielfach nicht möglich.

Zur Feststellung der Wirksamkeit sollten bei RCTs die Ergebnisse aus einer Intention-to-Treat-Analyse (Auswertung aller Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer in der jeweils a priori zugeteilten Gruppe – unabhängig von vorzeitiger Beendigung der Studienteilnahme oder Wechsel der Interventions- bzw. Kontrollgruppe) mit der Completer-Stichprobe (Berücksichtigung der bis zum Studienende verbliebenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer) verglichen werden, Zwischengruppeneffektstärken für das a priori in einem Studienprotokoll festgelegte Hauptergebnismaß berichtet werden sowie die Studie in einem Studienregister angemeldet werden [53]. Endpunkte für die Ergebnisevaluation sind vielfach pragmatisch, aber eben nicht zielgerichtet formuliert; überwiegend werden Surrogatparameter erhoben. Beobachtungszeiträume sind meist zu kurz, um langfristige Auswirkungen und Zusammenhänge zwischen der Gesundheitskompetenz, dem Gesundheitsverhalten und dem Gesundheitsstatus aufzuzeigen.

Digitale Interventionen sind als komplexe Interventionen zu verstehen [45, 54] – dies gilt insbesondere in dem Handlungsbereich der Prävention und Gesundheitsförderung. Daher sollten auch vor diesem Hintergrund Methoden zur Betrachtung der Wirksamkeit und des Schadens einer Intervention entsprechend sorgfältig ausgewählt werden [55], um den Beitrag der Einzelkomponenten zum Gesamtergebnis und die Interaktionen mit dem Setting besser darstellen zu können. Hierfür sollte auf differenzierte methodische Verfahren zur Entwicklung, Bewertung und Synthese von komplexen Interventionen zurückgegriffen werden [54].

Empfehlungen zur Evaluation der Wirksamkeit von Maßnahmen aus Prävention und Gesundheitsförderung sind zu berücksichtigen. Dazu gehört auch die Beachtung potenzieller Zufallseffekte, etwa durch Generativität, Auswirkungen von anderen gleichzeitig stattfindenden Einflüssen und die Kontextabhängigkeit, die auch in experimentellen Evaluationsvorhaben als Fehlervarianz auftreten. Zugänge zu spezifischen Zielgruppen sollten ebenso Berücksichtigung finden wie standardisierte Verfahren bei der Erhebung (z. B. hinsichtlich von Mindestangaben zu soziodemografischen Aspekten der Stichprobe) und Auswertung. Dazu zählen auch die Nutzung geeigneter statistischer Verfahren (z. B. unter Berücksichtigung geringer Skalenniveaus oder einer nichtparametrischen Verteilung der Daten), die Entwicklung von Indizes im Sinne von Dosis-Wirkungs-Gradienten sowie Analyse von langfristigen (säkularen) Trends und indirekten oder externen Effekten (Spillover) [56].

Aus dem Blickwinkel von E‑Public-Health [57] ist es zudem erforderlich zu betrachten, welche gesellschaftlichen und ethischen Implikationen digitale Interventionen in Prävention und Gesundheitsförderung mit sich bringen. Dabei stehen unter anderem die folgenden Fragen im Vordergrund: Führt die Intervention zu einer Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit – oder wird diese im Sinne des Digital Health Divide sogar verstärkt [58]? Führt die digitale Intervention somit ggf. zu einer Reduktion des Präventionsdilemmas, da jene Zielgruppen erreicht werden, die sonst keine präventiven oder gesundheitsförderlichen Angebote in Anspruch nehmen? Welche Kompetenzen werden für die Nutzung vorausgesetzt (e‑Health Literacy) – und haben alle Nutzerinnen und Nutzer die Möglichkeit zur Inanspruchnahme? Wahrt die Intervention die Privatsphäre und Datensicherheit? Und welche adversen Effekte können auftreten? Beispiele für Letzteres sind Applikationen, die gesundheitsschädliches Verhalten bestärken [59], oder aber die Auswirkungen kontinuierlichen Self-Trackings auf die psychische Gesundheit und die eigene Krankheitswahrnehmung, die sich ggf. in einer Verstärkung von Krankheitsängsten (Cyberchondrie) widerspiegeln kann [60].

Fazit

Die Digitalisierung führt zu neuen Anforderungen an Prävention und Gesundheitsförderung. Die Komplexität für Wirkungsnachweise wird nochmals erhöht. Dennoch sollte Evidenzbasierung den zentralen Baustein darstellen, um aussagekräftige und nachvollziehbare Bewertungsverfahren hinsichtlich der Wirksamkeit digitaler Interventionen in Prävention und Gesundheitsförderung zu ermöglichen. Bislang kommt die Evidenzbasierung in diesem Feld deutlich zu kurz. Es bedarf einer kritischen Perspektive auf die tatsächlichen Wirkpotenziale digitaler Interventionen sowie deren gesellschaftlicher Implikationen. Der Aufbau einer soliden Wissensbasis ist notwendig, um Akzeptanz gegenüber den Technologien zu fördern und eine nachhaltige Etablierung im ersten Gesundheitsmarkt zu erreichen.