Deutschland ist traditionell das Land der Rehabilitation. Zurückgehend auf die Bismarcksche Sozialgesetzgebung von 1889 hat sich in Deutschland ein gesundheitliches Versorgungssystem etabliert, das Menschen nach Behinderung und schwerer Erkrankung die Reintegration in das Erwerbsleben und in die Familie ermöglichen soll. Das aktuelle System der medizinischen Rehabilitation in Deutschland ist gekennzeichnet durch einen umfassenden und interdisziplinären Behandlungsansatz, der sich am ICF-Modell der WHO orientiert. Als eine besondere Stärke dieses Systems gilt die indikationsspezifische Differenzierung der rehabilitativen Behandlungsangebote. In den 1980er und beginnenden 1990er-Jahren gab es eine kritische Diskussion über die Rehabilitation in Deutschland. Die Hauptkritikpunkte waren Unsicherheiten in der Indikationsstellung („Überinanspruchnahme“), mangelnder Nutzen auch aufgrund fehlender Evidenzbasierung und die im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern starke stationäre Ausrichtung. Um dieser Kritik begegnen zu können, wurden die Entwicklung und Implementierung von Konzepten der Qualitätssicherung und der Aufbau einer Rehabilitationsforschung gefordert. Ab Mitte der 1990er-Jahre wurde unter der Federführung der Deutschen Rentenversicherung ein umfassendes Qualitätssicherungsprogramm begonnen. Parallel dazu wurde ein rehabilitationswissenschaftliches Forschungsprogramm mit Förderung durch die Deutsche Rentenversicherung und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) initiiert. Diese Maßnahmen haben in den letzten zwei Jahrzehnten eine Reihe von Veränderungen und Innovationen bewirkt. Dazu zählen u. a. der begonnene Auf- und Ausbau eines ambulanten Rehabilitationsangebots, Maßnahmen der Flexibilisierung der Rehabilitation, die Implementierung neuer Interventionsangebote (insbesondere von Patientenschulungen und medizinisch-beruflichen Angeboten) und die Einführung von Nachsorgeangeboten zur Stabilisierung der in der Rehabilitation erreichten Erfolge. Diese und weitere Maßnahmen haben zu einer erhöhten Akzeptanz der Rehabilitation in der Bevölkerung und in der wissenschaftlichen Community beigetragen.

Dieser Reformprozess ist aber keineswegs abgeschlossen. Für die Zukunft der medizinischen Rehabilitation in Deutschland ergeben sich Forderungen (und Chancen) nach einer stärkeren Beteiligung des Rehabilitanden/der Rehabilitandin am Rehabilitationsprozess, nach einer weiteren Optimierung der Bedarfsfeststellung, nach einer weiteren zeitlichen und inhaltlichen Flexibilisierung der angebotenen Rehabilitationsmaßnahmen und nach einer Verringerung von Schnittstellenproblemen durch bessere Vernetzung mit dem vor- wie nachbehandelnden Versorgungssystem. Ferner bedarf es einer konsequenten Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation im Sinne einer evidenzbasierten und individualisierten Medizin, einer permanenten Anpassung der Konzepte an den Bedarf und des weiteren Ausbaus der ambulanten Rehabilitation. Die medizinische Rehabilitation wird auch die Möglichkeit neuer elektronischer Technologien ausschöpfen müssen, z. B. durch die Nutzung einer internetbasierten Diagnostik und von internetbasierten Nachsorgeprogrammen.

Für die Zukunft zeichnet sich ein steigender Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen ab. Dieser ergibt sich aus der weiteren Veränderung des Krankheitsspektrums als Folge einer zunehmenden Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung und der zu einem früheren Zeitpunkt erfolgenden Zuweisung oft schwer erkrankter Patienten aus dem Krankenhaus in die Rehabilitation. Hinzu kommmt die gesetzlich vorgegebene Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Die Rehabilitation muss hier dazu beitragen, dass Menschen in die Lage versetzt werden, über das 65. Lebensjahr hinaus berufstätig zu bleiben. Die Verkürzung der Verweildauer im Krankenhaus erfordert den Ausbau eines Angebots der Frührehabilitation in den Krankenhäusern. Rehabilitative Angebote in der Geriatrie und in der Pflege haben hohe Priorität, um Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder zu verzögern. Das bisher im Vordergrund stehende Prinzip „Reha vor Rente“ muss durch das Prinzip „Reha vor Pflege“ ergänzt werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit stehen jedoch für diesen weiteren Ausbau und die weitere Optimierung der medizinischen Rehabilitation keine substanziellen finanziellen Zuwächse zur Verfügung.

Das hier vorgelegte Themenheft zeichnet einzelne aktuelle Entwicklungen in der medizinischen Rehabilitation in elf Beiträgen nach.

Der Eingangsbeitrag von R. Buschmann-Steinhage beschreibt aus der Perspektive der Deutschen Rentenversicherung quantitative und qualitative Veränderungen in der Angebotsstruktur und bei den Zielgruppen der medizinischen Rehabilitation. Diese Entwicklung wird aus der Sicht des Autors durch die gravierenden Auswirkungen von Multimorbidität, durch eine stärkere Fokussierung beruflicher Problemlagen in den Reha-Konzepten, durch die Berücksichtigung neuer Zielgruppen und den zunehmenden Einsatz neuer Medien bestimmt.

O. Mittag und F. Welti vergleichen die Rehabilitationssysteme auf europäischer Ebene und stellen eine Reihe von Spezifika der deutschen Rehabilitation fest. Dies gilt insbesondere für die starke stationäre Orientierung der Rehabilitationsangebote. Weiterhin analysieren die Autoren mögliche Auswirkungen des europäischen Rechts auf die Situation in der deutschen Rehabilitation.

T.-R. Wenzel und M. Morfeld beschreiben die gegenwärtige Nutzung der ICF in der medizinischen Rehabilitation in Deutschland. Die Ansprüche verschiedener Akteure an die ICF werden herausgearbeitet und mit der Versorgungsrealität verglichen. Die Autoren sehen einen erheblichen weiteren Entwicklungsbedarf auf dem Weg zu einer umfassenden Implementierung der ICF.

C. Krauth und T. Bartling geben einen Überblick über gesundheitsökonomische Analysen im Bereich der medizinischen Rehabilitation in Deutschland. Die vorgelegte Analyse fokussiert vier innovative Entwicklungsbereiche in der medizinischen Rehabilitation, nämlich Patientenschulungen, Vergleiche von ambulanter und stationärer Rehabilitation, medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation und Nachsorgeprogramme. Es zeigt sich, dass innovative Rehabilitationsansätze kosteneffektiv sein können.

W. Mau, J. Bengel und K. Pfeifer geben in ihrem Beitrag einen Überblick über aktuelle Entwicklungen in der rehabilitationsbezogenen Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten, Psychologen und den Berufsgruppen der Bewegungstherapie. Diese Analyse berücksichtigt gezielt Veränderungen der Rahmenbedingungen in den drei Disziplinen.

I.M. Punt et al. beschreiben ein in den Niederlanden erprobtes Konzept, das darauf zielt, das Risiko für einen komplizierten postoperativen Verlauf durch Optimierung und Professionalisierung der perioperativen Behandlungsstrategien auf der Basis physiotherapeutischer „Aktivierungsmaßnahmen“ zu reduzieren. Das Interventionskonzept beinhaltet vier Komponenten: eine präoperative Risiko-Einschätzung, eine präoperative Patientenschulung, eine präoperative Trainingstherapie für Hochrisikopatienten und eine postoperative Mobilisation und funktionelle Übungstherapie.

C.-W. Wallesch und S. Lautenschläger befassen sich mit der Frührehabilitation und Rehabilitation im Krankenhaus. Sie beschreiben vor dem Hintergrund des DRG-Systems die drei hier vorgesehenen frührehabilitative Interventionen: die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung, die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation und die fachübergreifende und andere Frührehabilitation. Die Autoren verweisen auf die für eine erfolgreiche Zusammenarbeit erforderliche Interdisziplinarität und die notwendige Einbeziehung der Pflege als therapeutische Profession.

M. Bethge stellt Ergebnisse der internationalen Forschung zum Thema „return to work“ dar. Diese zeigen, dass multidisziplinäre Rehabilitationsprogramme bei unterschiedlichen Erkrankungen die Teilhabe am Arbeitsleben und die berufliche Wiedereingliederung verbessern sowie Fehlzeiten reduzieren können. Vor diesem Hintergrund werden insbesondere die in der deutschen Rehabilitation zur Anwendung kommenden Konzepte der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) und der stufenweisen Eingliederung berichtet und diskutiert.

H. Baumeister, J. Lin und D.D. Ebert geben in ihrem Beitrag einen Überblick zu Grundlagen von Internet- und mobile-basierten Ansätzen und beschreiben deren Evidenzlage. Vor diesem Hintergrund werden Möglichkeiten einer Internet- und mobile-basierten psychosozialen Erst- und Verlaufsdiagnostik und Interventionsansätze in der medizinischen Rehabilitation analysiert.

Die beiden abschließenden Beiträge stellen innovative theoretische Positionen der Rehabilitation dar. Zunächst diskutieren M. Linden et al. Prozesse der medizinischen Rehabilitation unter der Lifespan-Perspektive. Diese stellt nach ihrer Einschätzung die Voraussetzung für eine angemessene Rehabilitationsdiagnostik und individuelle Rehabilitationsgestaltung dar und schafft die Voraussetzungen für eine in der medizinischen Rehabilitation in besonderer Weise notwendige personalisierte Medizin.

M. Breuning et al. gehen davon aus, dass die Erhebung und Nutzung subjektiver Krankheitserfahrungen die Partizipation von Rehabilitanden verbessert und einen vertieften Zugang zu Krankheitserleben und Krankheitsbewältigung, zu Erfahrungen mit Gesundheitsleistungen, zur Teilhabe und zu Teilhabebedürfnissen schafft. Am Beispiel des Website-Projekte Krankheitserfahrungen.de (DIPExGermany) werden Potenziale und Nutzungsmöglichkeiten sowie Grenzen und Risiken der Anwendung subjektiver Krankheitserfahrungen beschrieben.

Wir wünschen den Lesern und Leserinnen dieses Heftes eine spannende Lektüre der Beiträge.

figure d

Uwe Koch-Gromus

figure e

Jürgen Bengel

figure f

Claus Wallesch