Mit Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 sind die Vertragsstaaten verpflichtet, eine Reihe von Anforderungen umzusetzen, die das Ziel der Inklusion haben. Inklusion bedeutet, dass kein Mensch ausgeschlossen, ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt werden darf. Als Menschenrecht ist Inklusion unmittelbar verknüpft mit den Ansprüchen auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Damit ist Inklusion sowohl ein eigenständiges Recht als auch ein wichtiges Prinzip, ohne dessen Anwendung die Durchsetzung der Menschenrechte unvollständig bleibt (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2014). Alle Staaten, die der Konvention zustimmen, verpflichten sich, Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben von Anfang an zu ermöglichen. Der Teilhabebegriff wird konkret auf spezielle Lebensbereiche wie Bildung, Arbeit, gesundheitliche Versorgung oder kulturelles Leben heruntergebrochen und es werden konkrete Maßnahmen beschrieben, die zur Sicherstellung von Teilhabe führen sollen.

Ein konzeptionelles Rahmen- und Denkmodell, das eine entsprechende Klassifikation vorsieht und das die Teilhabe im Fokus hat, stellt die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) dar. Dieses von der WHO initiierte Klassifikationsmodell basiert auf einem integrativen biopsychosozialen Verständnis von Krankheit und Behinderung. Die ICF ermöglicht es, die Folgen von Erkrankungen und Verletzungen auf Körperfunktionen und -strukturen sowie auf Aktivitäten und Teilhabe einer Person am gesellschaftlichen Leben in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung darzustellen. Dadurch werden gleichzeitig die komplexen Bedingungen von Teilhabe ersichtlich.

Das vorliegende Themenheft des Bundesgesundheitsblatts stellt unter dem Rahmenthema „Behinderung und gesellschaftliche Teilhabe“ in 14 Beiträgen die diesbezüglich aktuellen Entwicklungen dar. Im ersten Beitrag beschreibt M. Zander den subjektorientierten Diskurs um Behinderung und stellt die „Disability Studies“ mit dem Forschungsgegenstand gesellschaftliche Ausgrenzung vor. Seit April 2016 liegt der Referentenentwurf für das Bundesteilhabegesetz (BTHG) vor. Dieser Entwurf ist aktuell Gegenstand einer schwierigen politischen Debatte zwischen Politik, den Betroffenen und Verbänden der Eingliederungshilfe. M. Schubert, M. Schian und S. Viehmeier setzen sich mit Ausschnitten des Referentenentwurfs auseinander. In ihren Analysen kommen sie zu dem Schluss, dass zwar auf Seiten der Gesetzgebung die Absicht besteht, zu gemeinsamen Grundsätzen bei der Auswahl von Instrumenten zur Bedarfsermittlung zu gelangen, gleichwohl blieben erhebliche Zweifel an der Realisierung bestehen.

In einem zweiten Themenblock wird Forschung mit und über Menschen mit Behinderung aus nationaler wie internationaler Perspektive behandelt. M. Coenen, C. Sabariego und A. Cieza stellen ein international anwendbares System zur Befragung von Menschen mit Behinderung, das „Model Disability Survey (MDS)“ vor. Der Beitrag beschreibt die methodisch anspruchsvollen Entwicklungsschritte inkl. ihrer internationalen Orientierung. Die Autorengruppe verweist darauf, dass MDS als Survey für Allgemeinbevölkerungen, nicht aber als Screeninginstrument eingesetzt werden sollte.

L. Brütt, R. Buschmann-Steinhage, S. Kirschning und K. Wegscheider beschreiben und analysieren im Sinne einer „Querschnittsdisziplin Teilhabeforschung“ die Bedingungen für partizipative Ansätze in der Forschung. Dabei wird aufgezeigt, wie Menschen mit Beeinträchtigungen an wichtigen Entscheidungen im Forschungsprozess beteiligt werden können. Mit dem 2015 gegründeten „Aktionsbündnis Teilhabeforschung“ sollen Förderstrukturen für die Teilhabeforschung erschlossen werden.

Der ethisch und rechtlich außerordentlich schwierigen Frage, wie dem Anspruch auf Teilhabe bei Menschen Rechnung getragen werden kann, die aufgrund ihrer Einschränkungen nur begrenzt einwilligungsfähig sind, widmet sich der Beitrag von R. Damm. Der Autor bezieht sich auf die Felder Behinderung und Pflege und fokussiert zwei Schwerpunkte der aktuellen Diskussion. Der erste betrifft das auch von Gerichten zunehmend betonte Postulat einer mindestens kommunikativen Einbeziehung von nicht einwilligungsfähigen Personen. Der zweite bezieht sich auf die medizinethische Diskussion von Konzepten der assistierten Selbstbestimmung und unterstützter Entscheidungsfähigkeit.

Auch der Beitrag von B. Ortland, S. Jennessen, K. Römisch, D. Kusber-Merkens, L. Reichert und A. Arlabosse geht auf einen wichtigen Bereich der Selbstbestimmung ein. Die Autorinnen und Autoren berichten Forschungsergebnisse zu Teilhabechancen Erwachsener mit Behinderung im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung. Ziel dieses Vorhabens ist die Stärkung von Bewohnerinnen und Bewohnern mit Behinderung in ihrer Wohnumgebung gegenüber sexuellen Übergriffen. Dazu wurden umfängliche Präventionsmaterialien in leicht verständlicher Sprache verfasst, die in einem Theorie-Praxis-Dialog evaluiert wurden.

Als Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der Teilhabeberichterstattung der Bundesregierung ist E. Wacker besonders dafür prädestiniert, diese neue Form der Berichterstattung im Lichte der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu reflektieren. In ihrem Beitrag stellt sie besonders den Bezug zum Lebenslagenkonzept heraus und diskutiert die Wirkfaktoren auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Dem ICF-Modell mit deutlicher Bezugnahme auf personbezogene und Umweltfaktoren kommt dabei zentrale Bedeutung zu.

F. Prütz und C. Lange definieren in ihrem Beitrag zunächst, welche Teilhabefelder für die Beschreibung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung Relevanz besitzen. Diese Kriterien werden dann an bereits bestehende routinemäßig erhobenen Surveys angelegt. Dabei wird deutlich, dass die Anforderungen bereits bei einer Reihe von Surveys auf europäischer Ebene erfüllt werden. Nichtsdestotrotz sehen die Autorinnen die Notwendigkeit einer weiteren Anpassung, gerade in Bezug auf spezifische Lebenswelten von Menschen mit Behinderung.

Menschen mit geistiger und Mehrfachbehinderung benötigen eine den besonderen Bedürfnissen angepasste medizinische Versorgung. Über ein auf diese Zielgruppen ausgerichtetes als Modell konzipiertes Zentrum berichten M. Schülle und C. Hornberg. Auf Grundlage von Leitfadeninterviews zeigen sie auf, welche Barrieren auf den unterschiedlichen Ebenen bei der Etablierung solcher Zentren überwunden werden müssen. Die Darstellung zeigt aber auch, wie hoch die Notwendigkeit solcher Zentren ist.

Ein dritter Themenbereich widmet sich mit fünf Beiträgen der ICF und deren spezifischen Anwendungsfeldern. In einem Grundlagenbeitrag beschreiben T. Wenzel und M. Morfeld die theoretischen Grundannahmen und Voraussetzungen der ICF und die verschiedenen Anwendungsfelder. Die Autoren verweisen auf die große Bedeutung einer einheitlichen terminologischen Einordnung der verschiedenen Begrifflichkeiten in den verschiedenen Anwendungsfeldern. „Personbezogene Faktoren“ im ICF-Modell werden wegen ethischer und kultureller Vorbehalte bisher innerhalb der Klassifikation allenfalls ansatzweise berücksichtigt. O. Kraus de Camargo greift diesen Umstand auf und macht deutlich, welchen künftigen Stellenwert personbezogene Faktoren einnehmen können. Er verweist aber auch darauf, dass diese sich einer systematischen Erstellung von Kategorien und deren Kodierung entziehen. Ebenfalls zentraler Bestandteil der Kontextfaktoren der ICF sind die Umweltfaktoren. V. E. Kleineke, A. Menzel-Begemann, B. Wild und T. Meyer gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Umweltfaktoren und in welchem Ausmaß diese bisher in der Medizinischen Rehabilitation Berücksichtigung finden. Sie kommen zu dem Schluss, dass einzelne Umweltfaktoren in rehabilitationsrelevanten Dokumenten substanziell Berücksichtigung finden. Gleichzeitig zeigen sie auf, dass es eine Reihe weiterer potenziell relevanter Umweltfaktoren gibt, für die das noch nicht gilt.

In zwei indikationsorientierten Beiträgen wird auf Aspekte von Teilhabeeinschränkungen eingegangen. So gibt M. Linden in seinem Beitrag einen Überblick über Teilhabeeinschränkungen bei Menschen mit psychischen Störungen. Dabei fokussiert er vor allem auf Assessmentinstrumente, die im Bereich psychischer Erkrankungen für die Diagnostik eingesetzt werden. Die vom Autor vorgeschlagene „Kontextadjustierung“ impliziert, dass Teilhabeeinschränkungen nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Lebensumfelds wie beispielsweise der Arbeitswelt angemessen beurteilt werden können. Die Erfassung von Teilhabeeinschränkungen bei Suchterkrankungen durch Screening- und Assessmentverfahren ist Gegenstand des Beitrages von M. Spiess, C. Maschler und A. Buchholz. Die Autorinnen analysieren, welche Assessmentverfahren routinemäßig in der Suchthilfe eingesetzt werden und wie in diesen der Aspekt der Teilhabeeinschränkung im Sinne der ICF berücksichtigt wird. Aus ihrer Analyse leiten die Autorinnen die Forderung nach Entwicklung neuer Assessmentverfahren, die dem Anspruch der ICF gerecht werden, ab.

Als Koordinatoren dieses Themenheftes hoffen wir, dass es mit den ausgewählten Beiträgen gelungen ist, Sie, liebe Leserinnen und Leser, für die spannende und gesellschaftlich wie wissenschaftlich so wichtige Diskussion um das Thema „Behinderung und gesellschaftliche Teilhabe“ zu interessieren und zu öffnen.

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Matthias Morfeld und

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Uwe Koch-Gromus