In der aktuellen Ausgabe dieser Zeitschrift wird von einem Telenotarzteinsatz berichtet, den nicht nur NotärzteFootnote 1 mit Interesse zur Kenntnis nehmen werden [1]. Nur vordergründig geht es um die potenzielle Schlagkraft der Telenotfallmedizin, die von diesem Szenario auch nur unzureichend abgebildet werden kann. Der Fall wirft vielmehr die Frage auf, ob hier eine Ausnahmesituation beschrieben wird, oder ob das deutsche Präsenznotarztwesen tatsächlich, nach einer langen Erfolgsgeschichte, nicht mehr in der Lage sein sollte, mit den aktuellen Entwicklungen Schritt zu halten.

„Nicht der Patient muss so schnell wie möglich zum Arzt, sondern der Arzt zum Patienten“, war sich noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg der deutsche Chirurg Martin Kirschner sicher [2]. Was seinerzeit in Deutschland wohl zweifellos richtig war, ist in der internationalen Fachwelt mittlerweile umstritten. Und auch wenn die Debatte darüber, wann die ärztliche Profession im Jahre 2020 am Notfallort erforderlich ist, in Deutschland leider allzu oft berufspolitisch geführt wird, lohnt sich die Frage, ob eine medizinische Dienstleistung noch „ihr Geld wert“ ist, durchaus. Dabei wird niemand ernsthaft bestreiten, dass es immer Notfallpatienten geben wird, die von der Erstversorgung durch einen kompetenten Notarzt profitieren können. Bezweifelt wird aber zunehmend, dass ein System „Notarztdienst“, wie es in den deutschen Bundesländern für viel Geld zur Verfügung steht, noch als effektiv und effizient gelten kann. Effektivität würde bedeuten, das System wäre mit hoher Treffsicherheit in der Lage, durch zeitgerechte Zuführung eines kompetenten Notarztes zum richtigen Patienten das Outcome signifikant zu verbessern. Effizient wäre das System, wenn es dies zu „vernünftigen“ Kosten leisten würde. Man sollte sich 2020 keinesfalls mehr der romantisierenden Vorstellung hingeben, Geld dürfe keine Rolle spielen, wenn es um die Gesundheit gehe. Auch im deutschen Gesundheitswesen, das sich heute zu einem nichtunerheblichen Teil der betriebswirtschaftlichen Logik zu unterwerfen hat, kann jeder Euro nur einmal ausgegeben werden.

Alleine in Bayern werden derzeit jährlich weit mehr als 400.000 Menschen von einem Notarzt versorgt [3]. Die Auslastung der 230 bayerischen Notarztstandorte schwankt dabei zwischen einem und 17 Einsätzen in 24 h, was sich aufgrund der einsatzbezogenen Vergütungslogik in notärztlichen Einkommensunterschieden bis zu 300 % niederschlägt. Vor allem im eher einsatzschwachen ländlichen Raum haben die Kassenärztlichen Vereinigungen daher immer größere Schwierigkeiten, ihre Standorte noch adäquat zu besetzen.

Notärztliche Qualifikation ist in Deutschland nach wie vor uneinheitlich [4]. Dies liegt nicht etwa daran, dass keine verbindlichen Vorgaben existierten oder diese nicht erfüllt würden. Die für die Zulassung zum Erwerb der „Zusatzbezeichnung Notfallmedizin“ vorausgesetzte Weiterbildungszeit in einem „Fachgebiet der unmittelbaren Patientenversorgung“ muss vielmehr, trotz mehrfacher Reformen, nach wie vor als interdisziplinärer Minimalkonsens betrachtet werden. Noch immer handelt es sich um die einzige Zusatzbezeichnung, die lange vor einer Facharztprüfung erreicht werden kann. Es ist offensichtlich, dass zwei Jahre klinische Erfahrung, selbst wenn, wie gefordert, ein Viertel davon in der Anästhesie, auf einer Intensivstation oder in einer Notaufnahme gesammelt wurde, kaum ausreichen, um am Notfallort ärztliche Qualität zu gewährleisten. Dass in Deutschland trotzdem vielfach exzellente Notärzte unterwegs sind, hat daher weniger mit den curricularen Anforderungen des „Notarztscheins“ als mit Eigeninitiative und dem Fachgebiet zu tun, in dem sie tätig sind [5]. Es gibt aber bis heute auch den jungen, unerfahrenen Kollegen, der direkt nach Erfüllung der Minimalanforderungen zum Notarzteinsatz ausrückt. Wie häufig dies vorkommt, weiß niemand genau. Aber selbst wenn man einer nichtrepräsentativen Umfrage folgen würde und wohlwollend annähme, 75 % der deutschen Notärzte seien Fachärzte und „die meisten“ wären medizinisch und notfallmedizinisch erfahren [6], müsste man sich fragen, ob das heute noch ausreicht.

Würde man als Außenstehender einem Notarzt bei seinen Einsätzen einmal über die Schulter schauen, so wäre die überraschende Antwort wohl auf den ersten Blick oftmals „ja“. Der wirklich vital bedrohte Patient ist selbst im Notarztdienst ein seltenes Ereignis [7], und weniger als 10 % der Notarzteinsätze erfordern erweiterte manuelle Fertigkeiten wie die endotracheale Intubation, den chirurgischen Luftweg oder die Thoraxdrainage [8]. Notärzte beschäftigen sich in mehr als 80 % ihrer Einsätze mit Dingen, die wohl auch nichtärztliches Rettungsdienstfachpersonal, spätestens mit telemedizinischer Unterstützung, erledigen könnte [9]. Es ist daher auch einem noch unerfahrenen Kollegen durchaus möglich, im Rahmen der notärztlichen Praxis eigenständig und damit autodidaktisch schnell operative Routine in der Abarbeitung alltäglicher Fälle zu entwickeln und erst einmal nicht weiter negativ aufzufallen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die notärztliche Bewältigung der Fälle, auf die es wirklich ankommt, nicht, wie sonst in der Medizin, nebenbei im Rahmen der praktischen Tätigkeit erlernt und trainiert werden kann. Zu niedrig ist die Inzidenz bereits während der curricular geforderten 50 begleitenden Einsätze, von der ethischen Problematik bei im Rettungsdienst danach völlig fehlendem fachlichen Back-up einmal ganz zu schweigen. Es scheint nur folgerichtig, von einem Notarzt im Jahr 2020 zu fordern, dass er noch vor seinem ersten Einsatz umfassend klinisch ausgebildet und in der Lage ist, die gängigen vital bedrohlichen Zustandsbilder, incl. der dazu gehörenden invasiven notärztlichen Maßnahmen, vollständig und sicher abzuarbeiten. Nichts anderes würde die Öffentlichkeit wohl erwarten. Und nichts anderes ist wohl auch erforderlich, damit der Notarzt weiterhin die Rolle im sich verändernden rettungsdienstlichen Kontext einnehmen kann, die er jahrzehntelang gewohnt war und in der ihn der vital bedrohte Notfallpatient auch dringend braucht.

Das nichtärztliche Rettungsdienstfachpersonal hat in den letzten Jahren gegenüber der Notärzteschaft an Boden gutgemacht. Die kürzlich bereits als „nichtärztlicher Notfallmediziner“ [10] apostrophierte neue Profession des Notfallsanitäters wird, spätestens in der zweiten Generation, wohl nicht nur über umfangreicheres Wissen als sein Vorgängerberuf verfügen, sondern auch in verschiedenen invasiven Techniken trainiert sein. Der Notfallsanitäter sollte dadurch laut Lehrplan mit Fertigkeiten ausgestattet sein, die es ihm erlauben, im Rahmen des rechtfertigenden Notstands oder auf Grundlage der Delegation auch einzelne Maßnahmen durchzuführen, die unter dem Arztvorbehalt stehen. Zur „Dauerdelegation“ der „2C-Maßnahmen“ durch den ärztlichen Leiter Rettungsdienst wird sich dabei in vielen Bundesländern mittelfristig auch die individuelle digitale Delegation durch einen Telenotarzt gesellen. Selbst die Übertragung einer eingeschränkten notfallmedizinischen Heilkundekompetenz, auch wenn von vielen Fachleuten mit guten Argumenten abgelehnt, wird aktuell wieder konkret diskutiert. Man kann zu diesen Entwicklungen durchaus unterschiedlicher Meinung sein. De facto aber steht grundsätzlich ein beträchtlicher Teil der heutigen Einsätze für den Präsenznotarzt langfristig zur Disposition.

Dies bedeutet keinesfalls, dass der Präsenznotarztdienst im Zeitalter von Notfallsanitäter und Telenotarzt nicht mehr gebraucht werden wird. Ganz im Gegenteil. Sein Tätigkeitsschwerpunkt wird sich aber in Richtung der wirklich herausfordernden Fälle verschieben, die zu unübersichtlich (Stichwort „mehrere Betroffene“) oder medizinisch zu komplex (Stichwort „Polytrauma“, „Kindernotfall“ etc.) für eine audiovisuelle Übertragung sind und/oder die manuell-ärztliche Fertigkeiten erfordern, die über die des Notfallsanitäters hinausgehen (Stichwort „Luftweg“, „Thoraxdrainage“ etc.). Der Notarztdienst in Deutschland sollte sich daher schnellstens und mit höchster Durchdringung von einer „(…) Warteposition für junge und unerfahrene Mitarbeiter (…)“ [11] zu einer anspruchsvollen Tätigkeit für erfahrene Kliniker weiterentwickeln. Nur dann wird er in der Lage sein, die Spitzenposition im Rahmen der für die Zukunft weitgehend flächendeckend zu erwartenden rettungsdienstlichen Eskalationsstrategie „Notfallsanitäter – Telenotarzt – Präsenznotarzt“ einzunehmen. Die Notärzteschaft, aber auch die Notfallsanitäter sind gut beraten, den Telenotarzt nicht als Konkurrenten zu betrachten. Er verdient als zeitgemäße Systemkomponente, die dabei helfen wird, medizinische Expertise langfristig und flächendeckend im Rettungsdienst zu verankern, ihre uneingeschränkte Unterstützung.

Man muss den Kollegen aus Aachen zu ihrem interessanten Fallbericht gratulieren [1], der Telenotarzt hat hier zweifellos ein Leben gerettet. Und trotzdem ist dieses Beispiel etwas unglücklich gewählt. Es könnte bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein erwecken, als hätte der Notarztdienst in Deutschland ein Qualitätsproblem, aber dank Telenotarzt wäre das so in Ordnung. Das Gegenteil ist der Fall: Obwohl notärztliche Qualität in Deutschland wohl überwiegend akzeptabel ist, sind Szenarien wie dieses in vielerlei Hinsicht besorgniserregend. Die Notärzteschaft sollte im Rahmen solcher Fallberichte nicht mehr auf zu viel Wohlwollen in der Bevölkerung hoffen, zu vielfältig sind die bereits weit in die Politik vorgedrungenen berufspolitischen Interessen. Sie sollte diesen Fall vielmehr zum Anlass nehmen, konkret und ergebnisoffen darüber nachzudenken, wie gut das deutsche Notarztwesen tatsächlich für die Herausforderungen der neuen rettungsdienstlichen Realität gerüstet ist. Und es geht hierbei keinesfalls um das nur allzu menschliche Problem, dass es in jedem Beruf immer „geeignetere“ und „weniger geeignete“ Persönlichkeiten geben wird. Es geht um die Tatsache, dass den Bezeichnungen „Notarzt“ und „Notfallsanitäter“ völlig unterschiedliche Anforderungsprofile zugrunde liegen und der Notarzt sich einem zeitgemäßen notärztlichen Anforderungsprofil möglichst schnell ebenso konsequent curricular annähern sollte, wie dies der Notfallsanitäter kürzlich bei seinem eigenen getan hat. Es darf in Deutschland nicht weiterhin dem Zufall überlassen bleiben, ob unter der Bezeichnung „Notarzt“ ein klinisch versierter Facharzt einer akutmedizinischen Disziplin mit breitem Repertoire zum präklinischen Team stößt oder ein noch Lernender, der seiner anspruchsvollen Rolle noch nicht gerecht werden kann. Den Telenotarzt als systemisches Back-up für ein notärztlich-curriculares „weiter so“ zu verstehen, würde der ihm eigentlich zugedachten Funktion nicht gerecht. Und es wäre im Übrigen auch den übrigen Stakeholdern gegenüber zynisch und der Politik gegenüber leichtsinnig.

Notärztliche Tätigkeit muss man nicht zwangsläufig der Anästhesie zuordnen [12]. Man sollte sich aber unter der Federführung der notärztlichen Standesvertretungen zügig und v. a. ehrlich überlegen, um welche Kompetenzen ein Präsenznotarzt das Team Notfallsanitäter/Telenotarzt ergänzen muss, um künftig noch eine Verbesserung der Versorgungsqualität gewährleisten zu können. Und diese Kompetenzen sollten von Notarztaspiranten curricular eingefordert werden. Auch die verpflichtende und wiederholte Absolvierung eines Simulationstrainings, das systematisch und fallbezogen an die typischen Notfallkonstellationen heranführt, scheint überfällig. Das kollegiale Gespräch vor der Prüfungskommission der Landesärztekammer schließlich könnte durch eine praktische Prüfung im Rahmen von Fallszenarien ergänzt werden.

Den Kostenträgern muss klar sein, dass man diese höhere notärztliche Qualität einsatzunabhängig bezahlen muss. Und sie sollten sich schnell, zusammen mit den Notärzten und der Politik, überlegen, wie man diese Qualität künftig finanziell, aber auch personell flächendeckend darstellen kann.

Ob der Notfallsanitäter die an ihn gestellten Erwartungen langfristig flächendeckend erfüllen wird, bleibt abzuwarten. Trotzdem haben wir Notärzte allen Grund, bereits heute unsere Hausaufgaben zu machen. Die Zeiten, zu denen man froh war, wenn sich irgendein Kollege fand, der bereit war, den Funkmelder übers Wochenende mit nach Hause zu nehmen, dürften in naher Zukunft endgültig vorbei sein. Und dies ist nicht nur für den Patienten ein Segen.