Einführung

Die Leitlinie Tauchunfall wurde nach der ersten Veröffentlichung 2002 für den nächsten Gültigkeitszeitraum von 2014 bis Oktober 2017 von einer Expertengruppe überarbeitet und aktualisiert. Die Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin (GTÜM) als federführende Fachgesellschaft konstituierte hierzu eine Leitliniengruppe unter Beteiligung der Schweizerischen Gesellschaft für Unterwasser- und Hyperbarmedizin (SUHMS), der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Sektion Hyperbarmedizin, des Verbands Deutscher Sporttaucher e. V. (VDST), des Schifffahrtmedizinischen Instituts der Marine, der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau), des Verbands Deutscher Druckkammerzentren (VDD) und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM).

Die Leitlinie wurde auf der Basis einer strukturierten Konsensfindung (Entwicklungsstufe S2k) unter der methodischen Begleitung der AWMF – Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften erstellt [1].

Die „Leitlinie Tauchunfall 2014–2017“ soll eine Hilfe für medizinische Entscheidungsprozesse im Rahmen einer leistungsfähigen Versorgung der Patienten darstellen. Basierend auf den Prinzipien der Rettungskette gibt sie Laien, medizinischem Assistenzpersonal und Ärzten in einem spezifischen Notfallbereich Informationen und Instruktionen über den aktuellen Stand der Diagnostik und der Behandlung von Tauchunfällen, den Transport verunfallter Taucher, die erste hyperbarmedizinische Therapie und die weitere medizinische Versorgung. Die Zielsetzung, u. a. dem Laien notfallmedizinische Empfehlungen darzustellen, bedingt die dementsprechend verständlichen Formulierungen.

Die Strukturierung der Leitlinie wurde an den Versorgungsablauf von Tauchunfällen angepasst.

Diagnostik

Die bisherige Klassifizierung des Schweregrads von Tauchunfällen in milde Symptome (Fatigue, Hautjucken) und schwere Symptome wurde beibehalten. Dies obwohl international regelhaft schmerzhafte Extremitäten, Hautveränderungen, lokale Schwellungen und geringgradige periphere sensorische Störungen ebenfalls den milden Symptomen zugeordnet werden [2, 3]. Die internationale Klassifizierung beinhaltet nach Einschätzung der Autoren der Leitlinie das Risiko der präklinischen Fehleinschätzung und unzureichenden Therapie [4, 5]. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) die einzige etablierte Behandlung ist, die neurologische Spätschäden vermeiden kann [6].

Zur Erkennung und zur Beurteilung neurologischer Komplikationen soll in der Erstversorgung eine frühzeitige und wiederholte neurologische Untersuchung durchgeführt werden, um eine notwendige Rekompressionsbehandlung nicht ungerechtfertigt auszuschließen. Im Hinblick auf die Anwendung durch Laien wurde der „5-Minuten-Neurocheck“ in den Anlagen der Leitlinie beibehalten. Eine Therapieentscheidung sollte grundsätzlich in Abstimmung mit einem erfahrenen Tauchmediziner getroffen werden (Infobox 1).

Infobox 1 Taucherärztliche Telefonberatungen

  • Nationale DAN-Hotline für Deutschland und Österreich: 00800 326 668 783 (00800 DAN NOTRUF)

  • Nationale DAN-Hotline für die Schweiz (via REGA): +41 333 333 333 (oder 1414 für Anrufe innerhalb der Schweiz)

  • VDST-Hotline: +49 69 800 88 616

  • Ansprechstelle des Schifffahrtmedizinischen Instituts der Marine: +49 431 5409 1441

  • Taucherhotline von aqua med: +49 700 34835463

  • Internationale DAN-Hotline: +39 06 4211 8685 oder 5685

Die Diagnose einer Dekompressionserkrankung kann nur klinisch gestellt werden. Eine bildgebende oder laborchemische Diagnostik ist routinemäßig vor einer HBO nicht erforderlich. Die Überwachung und das Monitoring erfolgen nach den grundsätzlichen Verfahren notfallmedizinischer Standards. Eine weitergehende bildgebende Diagnostik kann zur Differenzialdiagnose von Begleiterkrankungen oder Einschätzung weiterer Verletzungen, wie Pneumothorax, pulmonale Schädigung nach Ertrinkungsunfall oder zentralnervöse Ischämien, sinnvoll sein, wenn dies ohne relevanten Zeitverlust möglich ist [7].

Für die Diagnose eines Pneumothorax wurde die thorakale Sonographie als Untersuchungsmethode in der Leitlinie neu aufgeführt.

Eine weitere radiologische Diagnostik nach der ersten oder weiteren Rekompressionsbehandlungen soll nur bei entsprechender klinischer Symptomatik durchgeführt werden. Der direkte Nachweis von Gasblasen ist ohnehin nur selten möglich und ohne prognostische Bedeutung. Diesbezüglich war die Magnetresonanztomographie bisher der Computertomographie für den Nachweis von Schädigungen des Rückenmarks bei Dekompressionserkrankungen nicht überlegen [8].

Für die Befunddokumentation und die Verlaufsbeurteilung erscheinen neben der fachneurologischen Untersuchung v. a. Verfahren der neurologischen Elektrophysiologie geeignet (z. B. Nervenleitgeschwindigkeit, evozierte Potenziale).

Primärversorgung

Die präklinische Behandlung orientiert sich grundsätzlich an den symptomorientierten notfallmedizinischen Standards.

Wesentliche Bedeutung bei der Versorgung von Tauchunfällen hat unverändert die frühzeitige und konsequente Atmung von 100 %igem Sauerstoff [9, 10]. Nur über einen größtmöglichen Gradienten kann der erhöhte Anteil des Inertgases (z. B. Stickstoff) im Gewebe über die alveoläre Ventilation reduziert werden. Ein gesteigerter Sauerstoffpartialdruck kann zudem die Resorption von intravaskulären Gasblasen verbessern und Gewebehypoxien durch embolisierende Gasblasen sowie deren mechanische und biochemische Folgeschäden vermindern.

In der neuen Leitlinie werden die technischen Möglichkeiten für eine Applikation von 100 %igem Sauerstoff explizit dargestellt. Insbesondere die rettungsdienstlich zunehmende Verfügbarkeit der „Continuous-positive-airway-pressure“(CPAP)-Atmung wurde in die Leitlinie aufgenommen. Die unerwünschte Nebenwirkung, bei verletztem Lungenparenchym durch einen erhöhten Atemwegsdruck einen Pneumothorax zu vergrößern oder zu provozieren, wurde ausführlich und kontrovers in der Leitlinienentwicklung diskutiert. Nach der klinischen Einschätzung der Autoren der Leitlinie wurde der Verdacht für einen Pneumothorax als relative Kontraindikation für die Anwendung einer CPAP-Atmung durch medizinisches Fachpersonal bewertet.

In der Primärversorgung wird unverändert eine moderate Flüssigkeitsgabe mit 0,5–1 l/h empfohlen. Vor dem Hintergrund der Leitlinienanwendung unabhängig der national dichten Rettungsdienststruktur, ist weiterhin die orale Gabe von isotonischen, kohlensäurefreien Getränken bei stabilen, wachen Patienten sinnvoll. Für die Versorgung durch medizinisches Fachpersonal soll der Flüssigkeitsersatz nach notfallmedizinischen Standards mit balancierten i.v.-Vollelektrolytlösungen durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang wurde auch das sehr selten auftretende und bisher beschriebene Lungenödem bei Geräte- und auch bei Apnoetauchern diskutiert [11, 12]. Die Behandlung dieser schwer erkrankten, hoch symptomatischen Patienten entspricht hier der üblichen Notfalltherapie von Lungenödemen anderer Ursachen durch den Rettungsdienst.

Die internationalen Empfehlungen für die Lagerung des Opfers eines schweren Tauchunfalls basieren ursprünglich auf tierexperimentellen Studien [13, 14]. In diesen Untersuchungen wurde ein erhöhtes Risiko für zerebrale Embolien in sitzender Position dargestellt. Andererseits besteht weltweit übereinstimmender Konsensus, keine Kopftieflagerung zu empfehlen [3]. Diese beeinträchtigt den venösen Abfluss und erhöht das Risiko eines Hirnödems.

Aus Sicht der Autoren der Leitlinie ergibt sich unabhängig von der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion über die pathophysiologischen Zusammenhänge der Dekompressionserkrankung [1517] eine Empfehlung für die Ruhiglagerung des Opfers eines schweren Tauchunfalls. Bewegungen des Patienten sowie Vibrationen und Erschütterungen können die Menge intravaskulärer Gasblasen erhöhen ([18], Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Primärversorgung bei Tauchunfällen

Für den Primärtransport gibt es keine prinzipielle Präferenz für ein bestimmtes Transportmittel. Weiterhin wird empfohlen, bestmöglich Druckreduzierungen während des Transports (Flughöhe, Fahrten über Bergpässe) sowie Erschütterungen (Boot) zu vermeiden.

Hyperbare Sauerstofftherapie

Die HBO ist bei Dekompressionsunfällen unverändert als Goldstandard anzusehen und derzeit ohne therapeutische Alternative [6]. Das Behandlungsschema entsprechend „US Navy Treatment Table 6“ wird unabhängig von dem Atemgas, das der verunfallten Tauchers verwendet hat, empfohlen ([3], Abb 2 und 3). Weiterhin soll eine frühestmögliche HBO erreicht werden. Die berichteten Behandlungsergebnisse beschreiben die vollständige Rückbildung der Symptome in 67–75,6 % der Fälle in Abhängigkeit von dem Beginn der Rekompression nach Auftreten der ersten Symptome [19, 20]. Erfolgreiche HBO-Behandlungsergebnisse viele Stunden nach Symptombeginn verdeutlichen nach Einschätzung der Autoren der Leitlinie v. a. die komplexe Erkrankung mit systemischen inflammatorischen Reaktionen gegenüber der pathophysiologischen Annahme einer alleinigen „Gasblasenerkrankung“.

Abb. 2
figure 2

Erste Druckkammerbehandlung bei Tauchunfällen

Abb. 3
figure 3

„US Navy Treatment Table 6“. DCI „decompression illness“ (Dekompressionserkrankung). (Modifiziert nach SchiffMedInstM/GTÜM)

Während des Primärtransports soll die Atmung von 100 %igem Sauerstoff ohne Pause bis zum Erreichen der Behandlungskammer weitergeführt werden.

Die HBO soll von einem tauchmedizinisch fortgebildeten ArztFootnote 1 indiziert und durchgeführt werden. Die Druckkammerbehandlung kann bei vollständigem Rückgang der nachfolgend aufgeführten Symptome innerhalb der ersten 10 min der hyperbaren Oxygenation bei 280 kPa verkürzt werden:

  • konstitutionelle bzw. unspezifische Symptome – ausgeprägte Müdigkeit,

  • kutane Symptome – Hautveränderungen,

  • lymphatische Symptome – lokale Schwellung,

  • muskuloskelettale Symptome – Gelenk- und Gliederschmerzen,

  • leichte peripher-neurologische subjektive sensorische Störungen ohne objektivierbare pathologische Befunde.

In diesen Fällen kann die Behandlung verkürzt entsprechend einer „US Navy Treatment Table 5“ oder analogen Tabellen beendet werden. Es dürfen jedoch keine zusätzlichen schweren Symptome vorliegen oder vorgelegen haben.

Sind nach der ersten Druckkammerbehandlung noch Symptome vorhanden, soll sich innerhalb von 24 h eine Folgebehandlung anschließen. Wenn zwischen den Behandlungen vor Ort insbesondere an entlegenen Destinationen keine stationäre medizinische Versorgung möglich ist, muss ein Transport in ein entsprechend ausgestattetes Behandlungszentrum erfolgen. Die Wahl des Transportmittels erfolgt unter Abwägung des Patientenzustands, von Transportstrecke und Transportzeit sowie des möglichen „Transportmittels“. Aus Sicht der Leitliniengruppe kann hier kein prinzipielles Vorgehen empfohlen werden. Die Planung kann und sollte in Absprache mit einer der taucherärztlichen Telefonberatungen erfolgen.

Für eine eindeutige Empfehlung der Zeit nach der ersten HBO bis zu einer Verlegung mit dem Flugzeug fehlen systematisch dokumentierte Behandlungsergebnisse [21].

Versorgungssituation in Deutschland

Der gemeinsame Bundesausschuss hat die HBO für die Dekompressionserkrankung und die arterielle Gasembolie gemäß den Kriterien des §137c des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) als ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich beurteilt. Statistiken über die Häufigkeit von Dekompressionsunfällen in Deutschland stehen nur eingeschränkt zur Verfügung. In dem Abschlussbericht des Ausschusses Krankenhaus wurde die Zahl schwerster Tauchunfälle in Deutschland auf über 200/Jahr geschätzt. Die Möglichkeit einer HBO für eine 24-h-Versorgung an 365 Tagen besteht in Deutschland derzeit an 7 Behandlungseinrichtungen [22]. Nur diese Notfallzentren geben eine kontinuierliche Erreichbarkeit und die Möglichkeit für eine intensivmedizinische Behandlung während und nach der HBO an. Andere Druckkammeranlagen in Deutschland können entweder keine fortwährende Rufbereitschaft außerhalb der täglichen Routinedienstzeit oder keine intensivmedizinische Therapie gewährleisten.

Eine wesentliche Schwierigkeit im Hinblick auf die Vorhaltung und die Finanzierung besteht darin, dass viele Druckkammern nicht in eine Klinik der höheren Versorgungsstufe integriert und Mehrkosten durch Sonderentgelte außerhalb des Klassifikationssystems für ein pauschaliertes Abrechnungsverfahren nicht vereinbart sind.

Neben der notwendigen Sicherstellung und Beauftragung der HBO in den Bundesländern ist die Einrichtung einer zentralen Vermittlung der HBO-Behandlungsplätze, vergleichbar der „Zentralen Anlaufstelle für die Vermittlung von Betten für Schwerbrandverletzte“ (ZA Schwerbrandverletzte) denkbar. Diese Entwicklung wird von den zuständigen Fachgesellschaften, der GTÜM, der DIVI Sektion Hyperbarmedizin und dem VDD verfolgt und soll mit der Rettungsleitstelle einer Berufsfeuerwehr umgesetzt werden. Die Probleme der Tauchunfallversorgung in Deutschland, insbesondere in Verbindung mit der Verfügbarkeit einer HBO, werden seit 3 Jahren intensiv diskutiert [23]. Die erste Zielsetzung einer verbesserten Organisation mit einer besseren Kommunikation der Rettungsleitstellen scheint in absehbarer Zeit erreichbar zu werden.

Die in der Leitlinie angegebenen taucherärztlichen Telefonberatungen gewährleisten zudem eine gute Qualität und 24-h-Verfügbarkeit.

Für den präklinisch tätigen Notarzt bleibt die Empfehlung des Transports in die nächste geeignete Notfallaufnahme eines Krankenhauses. Der Rettungsdienst und der Arzt in der Notfallaufnahme eines Krankenhauses sollen über die zuständige Rettungsleitstelle sowohl die Vermittlung einer „taucherärztlichen Telefonberatung“ als auch die Zuweisung einer übernehmenden einsatzbereiten Druckkammer anstreben. Aufgrund der unzureichenden Versorgungssituation werden weiterhin zeitaufwendige Sekundärverlegungen notwendig sein.

Zukünftig sollte von den Fachgesellschaften die Etablierung eines bundesweiten Registers von HBO-Notfallbehandlungen angestrebt werden. Nur auf diesem Weg lassen sich eine Qualitätssicherung der hyperbarmedizinischen Versorgung und wissenschaftliche Beiträge zur Versorgungsforschung erreichen.