FormalPara Zusammenfassung

Ältere Menschen über 65 Jahre stellen heute einen Anteil von 22,4 % an allen 72,4 Mio. gesetzlich krankenversicherten Personen. Ihre Arzneimittelversorgung ist geprägt durch die ansteigende Zahl der Erkrankungen im Alter; die Anzahl der verordneten Arzneimittel nimmt damit mit zunehmendem Alter deutlich zu. Im fortgeschrittenen Alter verändert sich zudem die Wirkung von Arzneimitteln im Körper. Dies kann zu potenziell inadäquater Medikation (PIM) und damit zu einem Anstieg von unerwünschten Arzneimittelereignissen und nicht zuletzt zu einer erhöhten Mortalität führen. Im Jahr 2022 wurde eine aktualisierte PRISCUS-2.0-Liste von potenziell ungeeigneten Arzneimitteln für ältere Menschen ab 65 Jahren entwickelt. Auf Grundlage der alters- und geschlechtsadjustiert hochgerechneten Arzneiverordnungen für über 65-jährige GKV-Versicherte des Jahres 2021 konnte anhand der Liste ermittelt werden, dass immerhin 12,4 % aller an ältere Menschen verordneten Tagesdosen potenziell ungeeignet sind. Mit 47,6 % ist nahezu jede zweite ältere GKV-versicherte Person davon betroffen. Die Zunahme der PIM-Verordnungen im Vergleich zu denen der Vorjahre, die auf der originalen PRISCUS-Liste basierten, beruht v. a. auf einem deutlich größeren Umfang der PRISCUS-2.0-Liste und der Tatsache, dass Verordnungen von Protonenpumpenhemmern über mehr als acht Wochen als potenziell unangemessen beurteilt werden. Bei der Betrachtung der verschiedenen Facharztgruppen wird deutlich, dass die Hausärztinnen und -ärzte und hausärztlich tätigen Internistinnen und Internisten, die im Jahr 2021 knapp 87,4 % aller an ältere GKV-Versicherte verordneten Arzneimitteltagesdosen verschrieben haben, auch zu denjenigen gehören, die die meisten PRISCUS-2.0-Arzneimittel verordnen. Wichtiger ist jedoch, welchen Anteil die PRISCUS-2.0-Arzneimittel am Verordnungsvolumen der verschiedenen Facharztgruppen ausmachen: Während ihr Anteil an allen verordneten Tagesdosen bei den Hausärztinnen und Hausärzten bei 12,5 % liegt, beläuft sich dieser bei den Psychiaterinnen und Psychiatern immerhin auf 44,2 %. Aus der differenzierten Betrachtung der Verordnungen ausgewählter PRISCUS-2.0-Wirkstoffe nach Facharztgruppen lassen sich Ansätze zur Optimierung der Arzneimittelverordnungen ableiten. Auch die Prävalenz-Unterschiede der Verordnung von PIM-Arzneimitteln in den Kassenärztlichen Vereinigungen um bis zu 7 Prozentpunkte können als Hinweis verstanden werden, dass Verbesserungen umsetzbar sind. Durch die Entwicklung der PRISCUS-2.0-Liste, die Beschreibung der hohen Betroffenheit unter den älteren Arzneimittelpatientinnen und -patienten wie auch die kostenfreie Bereitstellung der Liste ist ein wichtiger Schritt getan, der helfen kann, die Qualität der Arzneimittelversorgung älterer Menschen in der Praxis nochmals zu optimieren.

1 Einleitung

Zahlreiche Medikamente sind im fortgeschrittenen Lebensalter mit einem erhöhten Risiko für Nebenwirkungen verbunden. Dies kann daran liegen, dass diese langsamer ausgeschieden werden und somit länger und/oder stärker wirken oder dass der Körper empfindlicher auf sie reagiert (Thürmann und Schmiedl 2011; Maher et al. 2021). Auch haben bestimmte Nebenwirkungen, wie beispielsweise Schwindel, im Alter weitreichende Konsequenzen: Schwindel kann zum Sturz führen; dieser führt wiederum bei altersbedingter Osteoporose zu einem Knochenbruch – eine Komplikationskette, die bei einem jüngeren Menschen nicht in dieser Ausprägung auftreten würde. Der betagte Organismus ist oftmals nicht in der Lage auf Veränderungen rasch zu reagieren; so führt das Absacken des Blutdrucks beim Aufstehen leicht zu einem Kollaps und wiederum zu einem Sturz (de Vries et al. 2018). Hinzu kommt die Multimorbidität und daraus folgende Multimedikation (s. van den Akker et al., Kap. 3), d. h. bei jedem Medikament muss darauf geachtet werden, ob es wenigstens nicht bei Begleiterkrankungen schädlich ist und mit den anderen Medikamenten keine Wechselwirkungen bestehen.

Die Tatsache, dass ältere multimorbide Menschen auch oftmals nicht in klinische Studien für neue Medikamente einbezogen werden, führt zu dem bedauerlichen Dilemma, dass Arzneimittel ausgerechnet an denjenigen Patientinnen und Patienten, die sie am häufigsten einnehmen, nicht ausreichend getestet sind (Florisson et al. 2021). Ein Beispiel sind die Impfstoffe gegen das SARS-CoV-2-Virus: In den klinischen Studien waren weniger als 10 % der Teilnehmenden über 65 Jahre alt und nur 1,66 % älter als 75 Jahre, obwohl klar war, dass diese Gruppe zuerst geimpft werden sollte (Veronese et al. 2021).

Daher hatte vor mittlerweile über 30 Jahren der Geriater Mark Beers mit einigen Kolleginnen und Kollegen die erste Liste „Potenziell Inadäquater Medikamente“ (PIM) für ältere Menschen zusammengestellt (Beers et al. 1991). Diese Liste war auf den US-amerikanischen Arzneimittelmarkt zugeschnitten. Bald darauf folgten Aktualisierungen und auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anderer Länder erstellten für ihren Bedarf PIM-Listen (Beers 1997; McLeod et al. 1997; Fick et al. 2003; Laroche et al. 2007; Gallagher et al. 2008; Rognstad et al. 2009; Holt et al. 2010; Motter et al. 2018). Im Jahr 2015 wurde im Rahmen eines EU-Projekts für sieben europäische Länder, darunter auch Deutschland, die so genannte EU(7)-PIM-Liste erarbeitet (Renom-Guiteras et al. 2015). Aufgrund der vorgenannten mangelhaften Evidenz für viele häufig verwendete Wirkstoffe bei betagten Menschen werden solche Listen meist in einem Expertenkonsens, in der Regel nach einem modifizierten RAND-Verfahren, erarbeitet (Jandhyala 2020). Die Expertenkonsens-Basis der PIM-Listen wird regelmäßig kritisiert, jedoch müssen Evidenzlücken durch Expertenwissen überbrückt werden. Auch wird kritisiert, dass die sogenannten expliziten Kriterien, d. h. ein Wirkstoff ist potenziell unangemessen, nicht auf die individuellen Gegebenheiten eines einzelnen Patienten oder einer einzelnen Patientin eingehen. Das bedeutet, dass ein Medikament einer PIM-Liste nicht für jeden Patienten ungeeignet ist, sondern der Einsatz sorgsam abgewogen und überwacht werden sollte. Auch die genannten Alternativen auf einigen PIM-Listen sind nicht für jeden Patienten geeignet.

In einem systematischen Review fanden Tommelein et al. (2015), dass etwa 22,6 % aller älteren, in der Häuslichkeit lebenden Menschen mindestens ein PIM erhalten. Hierbei wurden nur Studien aus Europa zugrunde gelegt und die Beers Liste, START/STOPP-Kriterien und die PRISCUS-Liste (s. Abschn. 4.2) als häufigste Instrumente angewendet, aber auch weitere Listen genutzt. In Deutschland wurden klare Unterschiede zwischen pflegebedürftigen und nicht pflegebedürftigen gesetzlich Versicherten aufgezeigt, wobei Pflegebedürftige deutlich mehr PIM erhalten (Matzk et al. 2022). Für die vorhandenen PIM-Listen gibt es zahlreiche Belege, dass die Einnahme von PIMs mit unerwünschten Ereignissen verbunden ist, u. a. mit einem erhöhten Risiko für Stürze, Krankenhausaufnahmen und teilweise sogar mit einer erhöhten Mortalität (Mekonnen et al. 2021; Xing et al. 2019).

2 PRISCUS und PRISCUS 2.0: Potenziell inadäquate Medikation für den deutschen Arzneimittelmarkt

Im Jahre 2010 erstellten Holt et al. für den deutschen Markt die PRISCUS-Liste (priscus = alt, ehrwürdig), in einem Delphi-Verfahren in zwei Runden (Holt et al. 2010). Diese Liste findet eine breite Anwendung – vom Unterricht für Studierende der Pharmazie und Humanmedizin bis hin zu Warnhinweisen in der Verordnungssoftware vieler Anbieter auf dem deutschen Markt. Die Tatsache, dass die PRISCUS-Liste auch mit wenigen Kenntnissen über den jeweiligen Patienten bzw. die jeweilige Patientin anwendbar ist, gestattet neben der Anwendung beispielsweise in der Apotheke auch vielfältige pharmakoepidemiologische Analysen in Kohortenstudien und Verordnungsdaten (Amann et al. 2012; Endres et al. 2018; Selke Krulichová et al. 2021).

Die originale PRISCUS-Liste (Holt et al. 2010) führt insgesamt 83 Wirkstoffe auf, von denen einige nur bei einer bestimmten Darreichungsform als PIM gelten, was sich über die Pharmazentralnummer (PZN) aus den Verordnungsdaten identifizieren lässt. Die PRISCUS-2.0-Liste stammt aus dem Jahr 2022 (Mann et al. 2022) und enthält insgesamt 177 Wirkstoffe, sie ist also wesentlich umfangreicher geworden. Orale Antidiabetika als Indikationsgebiet wurden erstmals aufgenommen, ebenso kamen Medikamente zur Behandlung des idiopathischen Parkinson-Syndroms, zahlreiche Muskelrelaxantien, Antidepressiva und Urologika neu hinzu. Zu den auf die Dauer der Anwendung bezogenen PIMs zählen nun auch Protonenpumpenhemmer bei mehr als acht Wochen Therapie.

3 Datengrundlage und Methoden

Datengrundlage für diesen Beitrag sind die bundesweiten anonymisierten Abrechnungsdaten aller AOK-Versicherten. Damit stehen für die Querschnittsanalysen des Jahres 2021 die Abrechnungsinformationen von 27,1 Mio. AOK-Versicherten zur Verfügung. Von allen 73,3 Mio. GKV-Versicherten (Stichtag 1. Juli 2021) können in den vorliegenden Analysen immerhin 36,9 % berücksichtigt werden. Bei den Analysen wurde zusätzlich auf im jeweiligen Berichtsjahr durchgängig AOK-Versicherte eingeschränkt. So wurden im Jahr 2021 die Arzneimittelverordnungsdaten von 25,6 Mio. AOK-Versicherten in dieser Analyse berücksichtigt.

Krankenkassenroutinedaten stellen im Gegensatz zu Befragungsdaten eine alternative Datenquelle dar. Der Versichertenstamm der meisten (gesetzlichen) Krankenkassen ist um ein Vielfaches größer als die Anzahl der Personen, die im Rahmen einer Gesundheitserhebung befragt werden können. Dieser Vorteil ist insbesondere bei der Betrachtung auf kleineren regionalen Ebenen hilfreich. Darüber hinaus handelt es sich bei Krankenkassendaten um Routinedaten; sie werden in versicherungsrelevanten Fällen automatisch erfasst und müssen nicht in zeit- beziehungsweise kostenintensiven Interviews erhoben werden (Nimptsch et al. 2014). Zusätzlich kann die Angabe von Daten nicht wie in Gesundheitserhebungen abgelehnt werden, da die Daten zu Abrechnungszwecken vollständig erfasst wurden.

Gemäß § 300 SGB V werden Daten zu allen verschreibungspflichtigen Fertigarzneimitteln und Nicht-Fertigarzneimitteln, die von einem niedergelassenen Vertragsarzt auf Rezepten zulasten der GKV verordnet und über eine öffentliche Apotheke abgerechnet wurden, an die gesetzlichen Krankenkassen übermittelt (Schröder et al. 2004; Schröder 2014; WIdO 2021). Das auf dem Rezept dokumentierte Verordnungsdatum wird für die Bestimmung des Berichtszeitraums genutzt. Für die Ermittlung der regionalen Ergebnisse dient der Wohnsitz der Arzneimittelpatientin oder des Arzneimittelpatienten und für die Ergebnisse nach Arztgruppen die von der jeweiligen Facharztgruppe verordneten Arzneimittel.

Die abgegebenen Arzneimittel werden mit der Pharmazentralnummer (PZN) erfasst. Die Pharmazentralnummer ist spezifisch für das abgegebene Arzneimittelpräparat nach Handelsnamen, Wirkstoff, Darreichungsform und Packungsgröße und erlaubt so eine weitergehende Klassifikation. Für die Klassifikation der PRISCUS-2.0-Arzneimittel wurde das Anatomisch-therapeutisch-chemische-Klassifikationssystem (ATC-System) mit Tagesdosen (DDD) für den deutschen Arzneimittelmarkt des Wissenschaftlichen Instituts der AOK genutzt (nähere Details nachzulesen bei Fricke et al. 2022).

Die Alters- und Geschlechtsstruktur der AOK-Versicherten unterscheidet sich nicht gravierend von derjenigen der GKV-Versicherten. So liegt der Anteil der Versicherten mit einem Lebensalter von 65 Jahren und älter bei der AOK bei 21,9 %, der der GKV-Versicherten liegt bei 22,4 %. Der Anteil der Frauen in diesen Altersgruppen weicht bei der AOK mit 58,5 % nur geringfügig von dem der GKV mit 58,2 % ab. Trotzdem wurde zur Berechnung der verschiedenen Kennzahlen eine direkte Alters- und Geschlechtsstandardisierung vorgenommen (Kreienbrock et al. 2012). Dabei wurden die Ergebnisse, die bei der Analyse der berücksichtigten AOK-Versicherten ermittelt wurden, entsprechend nach Wohnsitz, der Altersgruppe und dem Geschlecht auf die GKV-Versicherten hochgerechnet. Für die in der Analyse berücksichtigten AOK-Versicherten wurde das Alter zum 30. Juni des Berichtsjahres zugrunde gelegt sowie der letzte Wohnsitz im zweiten Quartal des Berichtsjahres. Damit sollen Aussagen über alle GKV-Versicherten ermöglicht werden.

Bei den vorliegenden Ergebnissen muss beachtet werden, dass der Versichertenstamm einer Krankenkasse nicht das Resultat einer zufallsbasierten Stichprobenziehung darstellt. Er ist somit keine zufällige Teilpopulation der Gesamtbevölkerung. Folglich liefert die Verallgemeinerung von Ergebnissen einer Krankenkasse aufgrund der selektiven Morbiditätsstruktur gegebenenfalls verzerrte Ergebnisse für alle GKV-Versicherten oder die Gesamtbevölkerung. Da diese Problematik bekannt ist, werden in der Praxis und auch in der vorliegenden Analyse kassenspezifische Krankheitshäufigkeiten um die verzerrenden Effekte einer unterschiedlichen Alters- und Geschlechtsstruktur bereinigt (Standardisierung). Dieser Ansatz ist jedoch häufig nicht ausreichend, denn systematische Gesundheitsdisparitäten zwischen verschiedenen Versichertenstämmen können auch nach der Standardisierung bestehen bleiben. Dies wurde in empirischen Studien nachgewiesen, etwa von Hoffmann und Icks (2011), Hoffmann und Icks (2012) oder Hoffmann und Koller (2017). Um auf Basis von Krankenkassenroutinedaten Aussagen zum Gesundheitszustand der GKV-Versicherten oder der gesamten Bevölkerung treffen zu können, wurde ein Verfahren entwickelt, das neben Alter und Geschlecht weitere Faktoren bei einer Hochrechnung berücksichtigt. Ein entsprechend kombiniertes alters-, geschlechts- und morbiditätsadjustierendes Hochrechnungsverfahren, das auch die strukturellen Unterschiede hinsichtlich der Erkrankungshäufigkeit ausgleicht, wurde für die Ermittlung von Krankheitshäufigkeiten, aber noch nicht für die Beantwortung von Versorgungsfragen weiterentwickelt (Breitkreuz et al. 2019; Schröder und Brückner 2019). Ob dieses Hochrechnungsverfahren, mit dem beispielsweise die Ergebnisse des GesundheitsatlasFootnote 1 oder des vom Innovationsfonds beim gemeinsamen Bundesausschuss geförderten Projekts BURDEN 2020Footnote 2 ermittelt wurden (Breitkreuz et al. 2021, Schüssel et al. 2022, Rommel et al. 2018), zukünftig auch in der Versorgungsforschung eingesetzt werden kann, bleibt abzuwarten.

4 PRISCUS-2.0-Arzneistoffe

Zu den PIM-Wirkstoffen nach PRISCUS 2.0 zählen 177 Wirkstoffe und Wirkstoffkombinationen, von denen einige nur über Dosisobergrenzen (meist bezogen auf die Tagesdosis) und/oder die Therapiedauer definiert sind. In vielen Analysen von Verordnungsdaten können diese Wirkstoffe nicht berücksichtigt werden. Für die vorliegenden patientenbezogenen Berechnungen konnte jedoch näherungsweise über die Packungsgrößen und Verordnungsdauern geschätzt werden, wann eine Dosisobergrenze und/oder Verordnungsdauer überschritten wurde. So konnten auch diese Arzneimittel in die Auswertungen einbezogen werden (Tab. 4.1).

Tab. 4.1 Wirkstoffe, die nach PRISCUS-2.0-Liste über eine Dosisobergrenze und/oder Therapiedauer definiert sind

Am Beispiel der Protonenpumpenhemmer (PPI) mit dem Kriterium „PPI ist ein PIM, wenn die Verordnungsdauer acht Wochen überschreitet“ gilt dieses dann als erfüllt, wenn N3-Packungen mit (je nach Wirkstoff und Hersteller) ca. 100 Stück in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen oder wenn zwei Packungen der Größe N2 (meist etwa 60 Stück) oder N3 in einem Quartal verordnet werden.

5 Ergebnisse

Ein in allen Analysen benannter Risikofaktor für eine Verordnung von PIMs ist die Polypharmazie (s. van den Akker et al., Kap. 3). So soll zunächst die Medikation der jüngeren und älteren GKV-Versicherten betrachtet werden. Unterscheidet man im Zeitverlauf von 2012 bis 2021 die GKV-Versicherten bis einschließlich 64 Jahre und solche, die 65 Jahre und älter sind, so fallen zwei Dinge ins Auge: Die Älteren erhalten mehr Tagesdosen als die Jüngeren. Obwohl Menschen mit einem Lebensalter von 65 Jahren und älter nur 22,4 % der Gesamtpopulation der GKV-Versicherten repräsentieren, entfallen 55,9 % aller verordneten Tagesdosen auf ältere Menschen. Zudem wird zwischen 2012 und 2021 ein Anstieg der verordneten Tagesdosen deutlich (+17,8 %) – die Steigerungsrate fällt bei den älteren Menschen mit 20,3 % deutlich höher aus als bei den jüngeren GKV-Versicherten mit 14,7 %. (Abb. 4.1).

Abb. 4.1
figure 1

Arzneimittelverordnungen (DDD) der jüngeren (< 65 Jahre) und älteren (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherten 2012 bis 2021. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2012 bis 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

Wird zudem auch die Anzahl der zu versorgenden GKV-Versicherten der jeweiligen Altersgruppen zwischen 2012 und 2021 berücksichtigt, zeigt sich ebenfalls ein gravierenderer Verordnungsanstieg von 12,1 % bei den Tagesdosen je älteren GKV-Versicherten im Vergleich zu den jüngeren GKV-Versicherten mit 9,7 % (Abb. 4.2). In diesem Beobachtungszeitraum von zehn Jahren hätten die verordneten Mengen an Tagesdosen rein rechnerisch im Jahr 2012 ausgereicht, um alle älteren GKV-Versicherten dauermedikamentös mit 3,9 Arzneimitteln pro Tag zu behandeln. Dieser Wert ist bis 2021 um 12,1 % angestiegen und liegt damit bei 4,4 Arzneimitteln, die rein rechnerisch pro Tag bei älteren GKV-Versicherten in der Therapie eingesetzt werden. Mehr zum Thema Polypharmazie findet sich in van den Akker et al., Kap. 3 in diesem Band.

Abb. 4.2
figure 2

Arzneimittelverordnungen (DDD) je jüngere (< 65 Jahre) und ältere (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherte 2012 bis 2021. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2012 bis 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

5.1 Verordnungen von PRISCUS-Medikamenten

Betrachtet man die Verordnungen von Medikamenten der PRISCUS-2.0-Liste über die letzten zehn Jahre bei den GKV-Versicherten im Kontext der Gesamtverordnungen, so fällt zwischen 2012 bis 2016 trotz absolut steigender Menge eine geringfügige anteilige Reduktion an allen Verordnungen auf, die sich in den Jahren nach 2016 deutlich verstärkt. Erfreulicherweise verringert sich der prozentuale Anteil von PIM-Verordnungen auf etwa 12 % im Jahr 2021. Mehrere Publikationen belegen auch unter Anwendung der originalen PRISCUS-Liste, der EU(7)-PIM-Liste, der Beers-Liste und anderer Kriterien einen Rückgang der PIM-Verordnungen in den letzten Jahren (Lapi et al. 2009; Zimmermann et al. 2013; Jiron et al. 2016; Muhlack et al. 2018; Selke Krulichová et al. 2021), was auch unter Anwendung der PRISCUS-2.0-Liste zu beobachten ist (Abb. 4.3).

Abb. 4.3
figure 3

PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen (DDD) der älteren (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherten 2012 bis 2021. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2012 bis 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

5.2 Verordnungen von PRISCUS-2.0-Medikamenten nach Alter und Geschlecht

Aufschlussreich ist die Betrachtung der PIM-Verordnungen nach weiter differenzierten Altersgruppen und Geschlecht. Wie in anderen Datenanalysen zeigt sich bei diesen Querschnittsbetrachtungen ein Rückgang der PIM-Verordnungen bei Hochbetagten, also etwa ab dem 85. Lebensjahr (Abb. 4.4). Nach wie vor frappierend und bedenklich ist die stets höhere Rate an PIM-Verordnungen an Frauen in allen Altersstufen (Amann et al. 2012; Endres et al. 2018; Muhlack et al. 2018). Dies wird allgemein durch die Tatsache erklärt, dass Frauen insgesamt mehr Analgetika, Antidepressiva und Sedativa erhalten und aus diesen Stoffklassen viele PIM-Vertreter stammen (Endres et al. 2018). In der vorliegenden Analyse nach der PRISCUS-2.0-Liste lässt sich dieser Peak bei den 80- bis 85-Jährigen jedoch nicht durch eine vermehrte Verordnung von PIMs aus der Gruppe der Psychopharmaka oder Analgetika erklären, sondern durch einen Anstieg der Verordnungen von PPI. Diese Arzneimittelgruppe ist jedoch nicht als gänzlich harmlos zu betrachten – nicht umsonst wurde die Verordnungsdauer auf acht Wochen begrenzt und darüber hinausgehende Verordnungen wurden auch in die EU(7)-PIM-Liste aufgenommen (Renom-Guiteras et al. 2015). Eine dauerhafte Einnahme von PPI ist mit einem erhöhten Risiko für ambulant erworbene und nosokomiale Pneumonien assoziiert, ebenso mit einem gesteigerten Risiko für Clostridien-assoziierte Komplikationen wie Diarrhoe, Enterokolitis und anderen Darmerkrankungen (Thürmann 2022). Nach der aktuellen Beers-Liste sollten PPI bei betagten Menschen nur unter ganz strenger Indikationsstellung für länger als acht Wochen verordnet werden (American Geriatric Society 2019).

Abb. 4.4
figure 4

PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen (DDD) der älteren (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherten 2021 nach Alters- und Geschlechtsgruppen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

Unter den 16,4 Mio. älteren (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherten des Jahres 2021 hatten immerhin 8,1 Mio. Personen mindestens eine PIM-Verordnung erhalten. Bei der Verteilung nach Alters- und Geschlechtsgruppen wird der Übergang bei den Frauen deutlich: Immerhin 61,5 % der PIM-Patientinnen und -Patienten sind weiblich. Die meisten von einer PIM-Verordnung betroffenen Patientinnen sind in der Altersgruppe zwischen 80 bis unter 85 Jahren zu finden, bei den Männern betrifft dies die jüngere Altersgruppe der 65- bis unter 70-Jährigen (Abb. 4.5).

Abb. 4.5
figure 5

Anzahl der Arzneimittelpatientinnen und -patienten mit PRISCUS-2.0-Verordnungen unter den älteren (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherten 2021 nach Alters- und Geschlechtsgruppen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

Angesichts der insgesamt hoch erscheinenden Verordnungszahlen von PRISCUS-2.0-Medikamenten verwundert es nicht, dass nahezu jede zweite ältere Person im Jahr 2021 mindestens eine PIM-Verordnung erhalten hat (49,5 %). Erwartungsgemäß liegt der Anteil unter den weiblichen GKV-Versicherten mit 52,3 % höher als der bei den älteren Männern mit 45,6 %. Nach Altersgruppen und Geschlechtern getrennt ist für bis zu 57,3 % aller Frauen in der Gruppe der 80- bis 85-jährigen eine PIM-Verordnung zu beobachten und für bis zu 49,9 % aller Männer in der Gruppe der 75- bis 80-Jährigen (Abb. 4.6).

Abb. 4.6
figure 6

Anteile der Arzneimittelpatientinnen und -patienten mit PRISCUS-2.0-Verordnungen an allen älteren (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherten 2021 nach Alters- und Geschlechtsgruppen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

Dieser Anteil von nahezu 50 % aller Seniorinnen und Senioren kontrastiert stark zu früheren Untersuchungen, wo der Anteil der über-65-Jährigen mit einer PIM-Verordnung zwischen 15 und 25 % lag (Amann et al. 2012; Selke Krulichová et al. 2021). Allerdings bezogen sich diese Zahlen auf die originale PRISCUS-Liste, die nur halb so viele Wirkstoffe enthielt. In diesem Kontext ist auch eine Analyse der PIM-Verordnungen im Vergleich zwischen der originalen PRISCUS-Liste und der EU(7)-PIM-Liste von Interesse. Letztere basierte u. a. auf der PRISCUS-Liste, wurde aber schon deutlich aktualisiert und v. a. auf sieben Länder des europäischen Marktes erweitert (Renom-Guiteras et al. 2015). In einer Untersuchung von Daten AOK-Versicherter lag die EU(7)-PIM-Prävalenz bei ca. 45 %, während bei der Analyse derselben Verordnungsdaten basierend auf der originalen PRISCUS-Liste die PIM-Prävalenz bei nur 15 % lag (Selke Krulichová et al. 2021). Auch Muhlack et al. (2018) verglichen die originale PRISCUS-Liste mit der EU(7)-PIM-Liste und fanden in einer Kohorte älterer, in der Häuslichkeit lebender Personen eine Verordnungsprävalenz für PRISCUS-PIM von 13,7 %, während unter Zugrundelegung der EU(7)-PIM-Liste die Prävalenz von PIM bei 37,4 % lag. PIM-Verordnungsprävalenzen von über 50 % bei Anwendung der EU(7)-PIM-Liste wurden auch beispielsweise in Brasilien (Novaes et al. 2017) und Litauen (Grina und Briedis 2017) gefunden.

5.3 Verordnungen von PRISCUS-2.0-Medikamenten nach Wirkstoffen

Wie die hier dargestellten Zahlen zeigen, ist die Verordnungsprävalenz nach der PRISCUS-2.0-Liste deutlich höher. In Tab. 4.2 sieht man aufgeschlüsselt die TOP 25 der verordnungsstärksten PIM-Wirkstoffgruppen im Jahr 2021, und zwar nach PRISCUS-2.0-Liste und der originalen PRISCUS-Liste. Wie unschwer zu erkennen ist, hat vor allen Dingen die Hinzunahme von Protonenpumpenhemmern (PPI) mit einer mehr als achtwöchigen Verordnungsdauer als PIM zu einer dramatischen Zunahme der PIM-Verordnungen insgesamt geführt. Dabei wird von einer mehr als achtwöchigen Verordnungsdauer ausgegangen, wenn mindestens eine N3-Packung in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen oder mindestens zwei N2- oder N3-Packungen in mindestens einem Quartal verordnet wurden. Dies könnte zu einer gewissen Unschärfe beitragen, jedoch sind durch eine andere Operationalisierung keine grundsätzlich anderen Ergebnisse zu erwarten. Ebenso kamen in der PRISCUS-2.0-Liste zahlreiche neue Wirkstoffklassen und einzelne Wirkstoffe hinzu, wodurch sich die hohe Zahl von PIM-Verordnungen erklären lässt.

Tab. 4.2 PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen (DDD) und PRISCUS-Arzneimittelverordnungen (DDD) für ältere GKV-Versicherte (≥ 65 Jahre) 2021 nach Wirkstoffgruppen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

5.4 Verordnungen von PRISCUS-2.0-Medikamenten nach Facharztgruppen

Die Hausärztinnen und -ärzte und hausärztlich tätigen Internistinnen und Internisten haben im Jahr 2021 knapp 87,4 % aller an ältere GKV-Versicherte verordneten Arzneimitteltagesdosen verschrieben. Die Tagesdosen von PRISCUS-2.0-Arzneimitteln, die von diesen beiden Facharztgruppen verordnet wurden, liegen mit 85,6 % in einer ähnlichen Größenordnung. Viel interessanter ist die Betrachtung, welchen Umfang die PRISCUS-2.0-Arzneimittel am Verordnungsvolumen der verschiedenen Facharztgruppen ausmachen. Immerhin 44,2 % aller von Psychiaterinnen und Psychiatern verordneten Tagesdosen für ältere GKV-Versicherte finden sich auf der PRISCUS-2.0-Liste. Den geringsten Anteil an PRICUS-2.0-Arzneimittelverordnungen unter den 20 hier betrachteten Arztgruppen haben die Augenärztinnen und -ärzte veranlasst. Die verordnungsstärkste Facharztgruppe der Hausärztinnen und Hausärzte liegt mit einem Anteil von 12,5 % von PRICUS-2.0-Arzneimittel an allen von ihnen verordneten Tagesdosen marginal über dem Durchschnitt von 12,4 % über alle Facharztgruppen. Der Vergleichswert der hausärztlich tätigen Internistinnen und Internisten liegt bei 11,5 % (Abb. 4.7).

Abb. 4.7
figure 7

Anteil der PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen (DDD) für ältere (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherte 2021 an allen PRISCUS-2.0-Tagesdosen und an den verordneten Tagesdosen der 20 meistverordnenden Facharztgruppen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

Da die jeweiligen Anteile der PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen in den verschiedenen Facharztgruppen stark davon abhängig sind, welche Erkrankungen behandelt werden, welche Arzneimittel zur medikamentösen Behandlung zur Verfügung stehen und letztlich welche Arzneimittel ausgewählt werden, wird in einem weiteren Schritt auf ausgewählte Wirkstoffgruppen fokussiert.

5.5 Verordnungen von PRISCUS-2.0-Medikamenten ausgewählter Wirkstoffgruppen nach Facharztgruppen

Es wurden exemplarisch drei Wirkstoffgruppen hinsichtlich des unterschiedlichen Verordnungsanteils nach Facharztgruppen betrachtet: Die Protonenpumpenhemmer, auf die mit 53,0 % immerhin mehr als jede zweite PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnung entfällt, die Antidepressiva mit einem entsprechenden Anteil von 6,0 % sowie die Medikamente zur Behandlung von funktionellen Blasenstörungen (Urologika) mit einem Anteil von 4,3 % unter allen PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen. Diese drei Gruppen werden im Folgenden separat betrachtet – auch im Hinblick darauf, welche Fachärztinnen und -ärzte diese Medikamente verordnen.

5.5.1 Protonenpumpenhemmer

Mehr als jede zweite PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnung entfällt 2021 auf die Gruppe der Protonenpumpenhemmer. Unter allen Protonenpumpenhemmern, die älteren Personen verordnet werden, entfallen 1,7 Mrd. Tagesdosen auf die in PRISCUS-2.0 gelisteten Arzneimittel mit einer entsprechenden Packungsgröße bzw. Verordnungshäufigkeit (Tab. 4.3). Somit sind 42,4 % der Arzneimittel dieser Wirkstoffgruppe potenziell unangemessen für die Anwendung bei älteren Menschen. Da knapp 92,9 % aller Protonenpumpenhemmer von Hausärztinnen und -ärzten und hausärztlich tätigen Internistinnen und Internisten verordnet werden, entfallen immerhin 96,1 % der potenziell nicht adäquat verordneten Wirkstoffe auf diese Facharztgruppen. Dagegen sind von den 34,2 Mio. der durch die gastroenterologische Facharztgruppe verordneten Protonenpumpenhemmer-Tagesdosen nur 16,2 % aufgrund ihrer Verordnungsmenge als potenziell unangemessen für ältere Menschen bewertet.

Tab. 4.3 Anzahl und Anteile der Verordnungen von Protonenpumpenhemmern an den PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen (DDD) für ältere (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherte 2021 nach Facharztgruppen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

5.5.2 Antidepressiva

Insgesamt wurden in Deutschland im Jahr 2021 Antidepressiva in der Höhe von 1.678,2 Mio. DDD verordnet. Davon entfielen 197,4 Mio. DDD (11,8 %) auf Wirkstoffe der PRISCUS-2.0-Liste. Im Jahr 2011 entfielen nur 2,6 % der verordneten Tagesdosen auf PRISCUS-PIM (Thürmann und Selke 2013). Tab. 4.4 zeigt zum einen die Verordnungen von Antidepressiva verteilt auf die einzelnen Facharztgruppen, zum anderen die anteiligen PIM-Verordnungen.

Tab. 4.4 Anzahl und Anteile der Verordnungen von Antidepressiva an den PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen (DDD) für ältere (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherte 2021 nach Facharztgruppen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

Während Hausärztinnen und Hausärzte und hausärztlich tätige Internistinnen und Internisten zusammen mit 786,8 Mio. DDD nahezu die Hälfte aller Antidepressiva verordneten, entfallen 15,3 % davon auf die in PRISCUS-2.0 gelisteten Antidepressiva. Weitere 730,4 Mio. DDD wurden von den nervenärztlichen, neurologischen und psychiatrischen Facharztgruppen verordnet; bei diesen lag der PIM-Anteil mit 9,0 % deutlich niedriger (Tab. 4.4). Diese Ergebnisse lassen sich aufgrund der Veränderungen zwischen der originalen und der PRISCUS-2.0-Liste nur schwer vergleichen. Thürmann und Selke (2013) berichteten einen etwas niedrigeren PIM-Anteil bei den Verordnungen der Hausärzte und hausärztlich tätigen Internisten. Gudd et al. (2020) analysierten anhand der originalen PRISCUS-Liste ebenfalls die Verteilung der Psychopharmaka-Verordnungen und PIMs zwischen hausärztlich tätigen Ärzten und den entsprechenden Fachärzten. Die Autorinnen und Autoren schlussfolgerten, dass der bei ihnen gemessene relativ höhere PIM-Anteil bei den Fachärztinnen und -ärzten zum einen an den Unterschieden im Patientenkollektiv beruhen könnte und zum anderen äußerten sie die Vermutung, dass sich Hausärztinnen und -ärzte in den letzten Jahren in Qualitätszirkeln über die Problematik der PIMs vermehrt ausgetauscht und informiert haben (Gudd et al. 2020).

5.5.3 Urologika

Betrachtet man die urologischen Spasmolytika, deren Verordnungsmengen sich 2021 auf die Facharztgruppen der Urologie, der Hausärztinnen und -ärzte und der hausärztlich tätigen Internistinnen und Internisten verteilte, ergibt sich ein etwas anderes Bild im Hinblick auf die PIM-Verordnungen: Hier fällt ein sehr hoher PIM-Anteil von 75,5 % bei den Hausärzten und hausärztlich tätigen Internisten auf im Vergleich zu etwa 65,2 % bei der urologischen und 59,8 % bei der gynäkologischen Facharztgruppe (Tab. 4.5).

Tab. 4.5 Anzahl und Anteile von urologischen Spasmolytika an den PRISCUS-2.0-Arzneimittelverordnungen (DDD) für ältere (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherte 2021 nach Facharztgruppen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte

Aufgrund der Veränderungen in der PRISCUS-2.0-Liste zeigen sich hier deutliche Unterschiede: Thürmann und Selke (2013) berichteten einen PIM-Anteil von etwa 36 % bei den Hausärztinnen und -ärzten, einen deutlich höheren PIM-Anteil bei den Gynäkologinnen und Gynäkologen mit 55 % und dem niedrigsten Anteil von 31 % bei den Urologinnen und Urologen. Diese Veränderungen können einerseits darauf hinweisen, dass das Bewusstsein für PIM-Verordnungen gewachsen ist, und andererseits, dass die deutlich kritischeren Bewertungen auf der PRISCUS-2.0-Liste schwieriger umsetzbar sind. Hier wären Detailauswertungen auf Wirkstoffebene und ein Vergleich mit den LUTS-FORTA-Kriterien (Oelke et al. 2015), einer Empfehlungsliste speziell für Urologika, von Interesse.

5.6 Verordnungen von PRISCUS-2.0-Medikamenten in den Regionen Deutschlands

Regionale Unterschiede im Verordnungsverhalten die PIM-Prävalenz betreffend wurden mehrfach berichtet (Thürmann und Selke 2013; Qato und Trivedi 2013; Schwinger et al. 2017). Interessanterweise zeigen sich auch mit der neuen PRISCUS-2.0-Liste erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern und damit in den verschiedenen Kassenärztlichen Vereinigungen (Abb. 4.8).

Abb. 4.8
figure 8

Anteil der älteren (≥ 65 Jahre) PRISCUS-2.0-Patientinnen und -Patienten an allen älteren (≥ 65 Jahre) GKV-Versicherten 2021 nach Kassenärztlichen Vereinigungen. Datenbasis: Arzneimittelverordnungsdaten der AOK-Versicherten 2021; alters- und geschlechtsadjustierte Hochrechnung auf GKV-Versicherte. Zuweisung zur Region mit Hilfe des Wohnsitzes der älteren GKV-Versicherten

Der Anteil der GKV-Versicherten, die 2021 ein PIM erhalten haben, variiert innerhalb der Regionen Deutschlands zwischen 47,4 bis zu 54,7 % und zeigt somit ein Potenzial zur Reduktion von PIMs auch nach der PRISCUS-2.0-Liste auf. Im Vergleich zu der Analyse anhand der originalen PRISCUS-Liste mit den Verordnungsdaten aus dem Jahr 2010 zeigt sich eine deutlich verschobene Rangfolge (Thürmann et al. 2012): Während im Jahr 2010 Sachsen-Anhalt, Sachsen, Berlin, Brandenburg und Thüringen die niedrigste PIM-Prävalenz aufwiesen, zeigen nun auch Baden-Württemberg, Bremen und Bayern geringere Zahlen. Das Saarland und Rheinland-Pfalz sind bei hohen Raten geblieben. Betrachtet man nur die Pflegebedürftigen, so stellten Schwinger et al. (2017) ein vergleichbares Bild der PIM-Verordnungsprävalenzen in den einzelnen Bundesländern bzw. Kassenärztlichen Vereinigungen fest. Auch für andere Aspekte der Arzneimittelversorgung, z. B. die Gesamtausgaben für Arzneimittel, Verordnungen von Antibiotika sowohl für Kinder als auch Erwachsene, wurden deutliche regionale Unterschiede festgestellt (SVR 2014). Für regionale Verordnungsunterschiede werden verschiedene Faktoren verantwortlich gemacht, u. a. Aktivitäten der Kassenärztlichen Vereinigungen oder von Ärztenetzen (z. B. Qualitätszirkel), der Akademien der Ärztekammern, aber auch soziale Aspekte und Erwartungshaltungen sowohl seitens der Patientinnen und Patienten als auch der Ärztinnen und Ärzte (SVR 2014; Gudd et al. 2020).

6 Diskussion

In der vorliegenden Analyse kommt erstmals die neue PRISCUS-2.0-Liste zum Einsatz. Auffällig ist der deutlich höhere Anteil von PIMs im Vergleich zu früheren Auswertungen mit der originalen PRISCUS-Liste. Hier zeigt die Betrachtung der am häufigsten vorkommenden PIMs, dass bestimmte neu aufgenommene Arzneistoffklassen bzw. einzelne Medikamente für den Anstieg ursächlich sind. An erster Stelle steht hier die Verordnung von PPI, deren Volumen in der hier gezeigten Analyse auf Näherungsbasis angenommen wurde. Die Expertinnen und Experten der PRISCUS-2.0-Liste bezeichnen die Verordnung eines PPI über länger als acht Wochen als PIM (Mann et al. 2022). Die hiermit verbundenen Risiken wie die Zunahme von Infektionen und Frakturen durch Osteoporose sind eindeutig belegt (Thürmann 2022) und bewegten die Fachleute dazu, diese Therapiedauer als Obergrenze festzulegen. Dieses PIM-Kriterium wurde schon in der EU(7)-PIM-Liste eingeführt, was auch die deutlich höheren PIM-Verordnungsraten unter Anwendung dieser Liste (mit)erklärt (Novaes et al. 2017; Grina und Briedis 2017; Muhlack et al. 2018; Selke Krulichová et al. 2021). Unterschiede in der Häufigkeit dieses PIM-Kriteriums lassen sich auch durch die unterschiedlichen Arten der Datensätze erklären. Während in der vorliegenden Analyse diejenigen Patientinnen und Patienten als PIM-Anwendende erscheinen, die beispielsweise in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen eine PPI-Verordnung mit der Packungsgröße N3 erhalten haben, so erhalten diese Personen im Rahmen einer zu einem Stichtag stattfindenden Erhebung (wie es oftmals in Kohortenstudien der Fall ist) möglicherweise gerade kein PIM, wenn die Erhebung in einem der beiden anderen Quartale des jeweiligen Jahres stattfand. Dasselbe trifft auf andere PIMs zu, die durch die Therapiedauer definiert sind. Hinzu kommt, dass bei vielen Analysen von Verordnungsdaten nicht der Ansatz einer Näherung gewählt wird, sondern solche PIMs nicht ausgewertet werden und somit eine Unterschätzung stattfindet. Betrachtet man jedoch singulär die hohen und dauerhaften PPI-Verordnungen an Seniorinnen und Senioren, so liegt hier mit großer Wahrscheinlichkeit ein Potenzial für „Deprescribing“. Bewusstes Absetzen oder im Falle der PPI eine Einnahme nur bei Beschwerden werden vielfach empfohlen und haben sich als machbar herausgestellt (Dharmarajan 2021). Möglicherweise kommt es jedoch zu vermehrten Refluxbeschwerden (Boghossian et al. 2017), sodass ein Absetzen nur dann empfohlen wird, wenn es tatsächlich keine Indikation (mehr) gibt (Targownik et al. 2022).

Die neue PRISCUS-2.0-Liste beinhaltet nun beispielsweise auch einige orale Antidiabetika – eine Stoffklasse, für die bislang keine Negativempfehlung ausgesprochen worden war. So wurden die Wirkstoffe Glibenclamid, Glimepirid und Acarbose als PIM klassifiziert – dies stimmt mit der FORTA-Klassifikation überein, wo Glibenclamid als D (zu vermeiden) eingestuft wird und die beiden anderen genannten Antidiabetika mit C (kritisch) bewertet werden (Pazan et al. 2022). Auch in der US-amerikanischen Beers-Liste von 2019 sind Glibenclamid und Glimepirid als PIMs gelistet (AGS 2019). Hier zeigt sich erneut, dass es wichtig ist, PIM-Listen regelmäßig zu aktualisieren. Durch den langen Zeitraum zwischen PRISCUS und PRISCUS 2.0 sind die direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) nie auf der Liste erschienen, obwohl sie – als neue „Blutverdünner“ mit höherem Blutungsrisiko, v. a. im Alter – z. B. zwischenzeitlich in Updates der Beers-Liste (AGS 2019) und in der EU(7)-PIM-Liste (Renom-Guiteras et al. 2015) enthalten waren. Mittlerweile gibt es gute Evidenz für deren Sicherheit und Wirksamkeit im Alter, sodass sie in Übereinstimmung mit Beers-Liste 2019 (AGS 2019) und noch feiner differenziert mit den aktuellen FORTA-Kriterien speziell für orale Antikoagulanzien (Pazan et al. 2020) nicht auf der PRISCUS-2.0-Liste aufgeführt sind.

Während sich über einige Wirkstoffe und deren Bewertung trefflich streiten lässt, so fallen auch bei dieser Analyse wiederum mehrere Aspekte ins Auge. Zum einen bestehen regionale Verordnungsunterschiede von mehr als sieben Prozentpunkten, die einer näheren Betrachtung bedürfen. Auch die Verschiebungen zwischen den Bundesländern bzw. KV-Bezirken lassen einen weiten Interpretationsspielraum zu, der letztlich nur durch eine Analyse der Aktivitäten in den Regionen eingegrenzt werden kann (SVR 2014). Zum anderen wiesen auch Gudd et al. (2020) nach, dass PRISCUS-Medikamente in sehr unterschiedlichem Maße von Haus- und Fachärztinnen und -ärzten verordnet werden. Dies mag sicher damit zusammenhängen, dass beispielsweise Psychiaterinnen und Psychiater möglicherweise eher Wirkstoffe für Patientinnen und Patienten mit schweren Depressionen verordnen, während Hausärztinnen und -ärzte ein anderes Wirkstoffrepertoire für weniger schwer Erkrankte anwenden. Last but not least bestehen Geschlechtsunterschiede bei den Verordnungen von PIM-Wirkstoffen. Während früher noch argumentiert wurde (Thürmann und Selke 2013), dies läge v. a. an dem höheren Verbrauch von Analgetika und Psychopharmaka bei Frauen, so scheinen Patientinnen auch besonders oft PPI zu erhalten, was bei ihrem höheren Risiko für Osteoporose besondere Beachtung verdient.

In Bezug auf alle PIM-Listen lässt sich eine Veränderung dahingehend feststellen, dass sie zwar für „ältere Menschen“ gelten und daher meist gerade für Datenanalysen Verordnungen an über 65-Jährige verwendet werden. In den Erläuterungen finden sich jedoch oftmals Kommentare wie „biologisches Alter betrachten“, „gemeint sind multimorbide, ältere Menschen“ oder es wird explizit auf Menschen „ab 65 Jahre mit mindestens drei chronischen Erkrankungen oder ab 80 Jahre“ abgezielt. Damit soll der Bandbreite des Gesundheitszustandes im Alter Rechnung getragen werden, was in pharmakoepidemiologischen Untersuchungen nicht möglich ist.

Die vorgelegten Daten weisen auf eine erhebliche Verbreitung von PIMs hin. Es gelang in den letzten Jahren meist nicht, in großen randomisierten Studien potenziell inadäquate Medikation zu verringern, Polypharmazie signifikant zu reduzieren und v. a. auch die Morbidität und Mortalität zu senken sowie die Lebensqualität zu verbessern, obwohl es hierzu Screening Tools, gezielte Fortbildungen und pharmazeutische Unterstützung gab sowie PIM-Listen und Alternativvorschläge in Verordnungssoftware hinterlegt wurden (O’Mahony et al. 2020; Anderson et al. 2019; Blum et al. 2021; Rieckert et al. 2020; Rudolf et al. 2021). Dennoch zeichnete sich in Verordnungsdaten ein Trend zum Rückgang des Verordnungsvolumens bei den Medikamenten der originalen PRISCUS-Liste ab. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Kriterien der neuen PRISCUS-2.0-Liste mit negativen Outcome-Parametern assoziiert sind. Damit die Umsetzung der Empfehlungen von PRISCUS 2.0 in die Praxis gelingen kann, werden die entsprechenden Klassifikationen regelmäßig auf das sich kontinuierlich im Wandel befindliche Arzneimittelangebot in Deutschland aktualisiert und mit der StammdateiPlus des GKV-Arzneimittelindex im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) zur Verfügung stehen.