Zusammenfassung
Die Forderung nach einer stärkeren Kooperation von MedizinerInnen und Pflegekräften ist Bestandteil aktueller Debatten um Reformbedarfe in Krankenhausorganisation und MedizinerInnenausbildung. Dabei sind die grundlegenden soziokulturellen Differenzen zwischen diesen beiden Funktionsgruppen – die unterschiedlichen Lebensstile, Mentalitäten und Werte, die es im Arbeitsalltag zu überbrücken gilt – (noch) weitgehend unerforscht. Die vorliegenden Befunde basieren auf einer Clusteranalyse entsprechender Variablen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS). Überdies kann die generelle soziale Exklusivität der ÄrztInnen durch weitere Vergleiche mit anderen akademischen Berufen genauer konturiert werden. Im Ergebnis müssen ÄrztInnen und Pflegekräfte beträchtliche alltagskulturelle Überbrückungsleistungen erbringen, um arbeitsalltägliche Arbeitsbündnisse zu realisieren.
Die vorliegende Schreibweise von Personenbezeichnungen wird zur Adressierung beider oder mehrerer Geschlechter sowie auf (traditionelle) Geschlechtlichkeiten verweisende Identitäten verwendet.
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Notes
- 1.
Auch wenn Veränderungen in der (halb-)öffentlichen Regulierung professioneller Einkommen zumindest teilweise Gegenstand der öffentlichen Debatte sind, bleibt natürlich fraglich, wie aktuell und belastbar die diesbezüglichen Informationen der NutzerInnen einzuschätzen sind.
- 2.
Aus einer funktionalistischen Sichtweise, welche die Bewertung von Arbeit auf ,rationale‘ Kosten-Nutzen-Erwägungen des Auftraggebers (hier: Staat) zurückführt, schützen großzügige Einzelleistungsvergütungen für staatsergänzende Aufgaben vor Verteilungskämpfen, die schließlich die Auslagerung solcher Aufgaben an privat(wirtschaftlich)e Instanzen wie die klassischen Professionen gefährden würde (zur funktionalistischen Professionstheorie vgl. zusammenfassend Pfadenhauer und Sander 2010).
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So erlangen etwa die – aufgrund festgeschriebener Tagessätze – finanziell lukrativen Nebenklagevertretungen nur begrenzte öffentliche Aufmerksamkeit.
- 4.
Dahingegen ist bei einer vollständigen Integration der Gesundheitsversorgung in das (hoheits-)staatliche Aufgabenportfolio, wie etwa im Fall des steuerfinanzierten britischen Gesundheitswesens, die Einnahme- und Ausgabenentwicklung für die NutzerInnen weniger sichtbar (vgl. Esping-Andersen 1990; Borchert 1995; Kühn 2000; Bingler und Bosbach 2007). Indes zeigen bisherige Untersuchungen eine hohe Toleranz der Versicherten gegenüber Beitragssatzsteigerungen auf, die sich aus dem Bedürfnis nach einem entsprechend hohen bzw. ansteigenden Leistungsniveau erklärt (Zok 2003, S. 32f.).
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Diese sind in der Regel nicht von einem derart ausgeprägten unmittelbaren KlientInnenkontakt geprägt wie die klassischen Professionen einschließlich der ÄrztInnen.
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Erfragt wurde die stetige, nichtlineare relative Nutzung (Ordinalskala 1–5) folgender Freizeittätigkeiten: Bücher lesen, Musik hören, Internet nutzen, einfach nichts tun/Faulenzen, Spazierengehen/Wandern, Yoga/Meditation, Essen oder Trinken gehen, Besuch Nachbarn/Freunde, Besuch Familie/Verwandtschaft, Gesellschaftsspiele in Familie, Musik machen, andere künstlerische Tätigkeiten, Basteln/Reparaturen, aktive sportliche Betätigung, Besuch von Sportveranstaltungen, Kino/Popkonzerte/Tanzen, klassische Konzerte/Theater, Besuch Museen/Ausstellungen, Besuch Stadt- und Volksfeste (Abb. 14.2).
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Originale Variablenbezeichnungen bzw. Fragestellungen sind hier und im Folgenden kursiv gesetzt.
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Die Validität der vorliegenden Operationalisierung in den Alltagskulturdimensionen Öffentlichkeitsbezug und Autoritarismus muss also als begrenzt bezeichnet werden.
- 9.
Die soziale Herkunft (nach sozialer Lage, also Bildung, Beruf und Einkommen der Eltern) korreliert stark mit der Praxis der Untersuchungspersonen und wurde daher in diese Betrachtung der Alltagskulturen einbezogen. Die Berücksichtigung der sozialen Lage beider Elternteile ermöglicht dabei eine sozialhierarchische Revalidierung der alltagskulturellen Muster. Im Angesicht der relativen Homologie von sozialen Lagen und Alltagskulturen kann die soziale Herkunft (nach sozialer Lage des Elternhauses) als Prädiktor der Alltagskulturen des Nachwuchses, also der betrachteten Fälle/Akteure, angesehen werden. Freilich wäre es wünschenswert, demgegenüber die Alltagskulturen des Elternhauses abbilden zu können, denn schließlich ist es die sozialisatorisch einschlägige Praxis, welche den Habitus und die daraus hervorgehende Praxis der Kinder prägt (vgl. Lange-Vester und Sander 2016).
- 10.
Selbstverständlich ist vorliegend eine Verzerrung der Gewichtung zu konstatieren, die sich dadurch ergibt, dass gegenüber 18 ÄrztInnen die Grundgesamtheit sich aus 84 Angehörigen der klassischen, 129 der neoklassischen Professionen sowie 125 Pflegekräften zusammensetzt. Andererseits entsprechen diese Anteile an der hiesigen Grundgesamtheit den tatsächlichen zahlenmäßigen Relationen der Berufsgruppen.
- 11.
Ein entsprechender Zeitvergleich auf Basis des seit 1980 im zweijährigen Turnus durchgeführten ALLBUS kann dabei leider nicht auf Bildung und Beruf integrierende Indizes (entsprechend der hiesigen Clusteranalyse für das Erhebungsjahr 2014, s. o.) oder den beruflichen Bildungsabschluss zurückgreifen, sondern muss sich auf die allgemeinbildenden Schulabschlüsse stützen, da nur diese Daten im Zeitvergleich durchgängig vorliegen. Insofern dann die allgemeine Hochschulreife die höchste (soziale) Position bzw. den höchsten formalen Bildungsabschluss darstellt, werden insbesondere die oberen Sphären sozialer Ungleichheit nur wenig differenzierend abgebildet. Zu den Befunden: Anhand des im Zeitverlauf steigenden Abschlussniveaus werden hier zunächst die ersten Anzeichen der Bildungsexpansion der 1960er-/70er-Jahre deutlich – und zwar vor allem bei den jüngeren, unter 40-jährigen Befragten der dritten Kohorte (2006–2010), deren Eltern überwiegend in den 1940er-/50er-Jahren geboren sind. Zwar nimmt unter den klassischen Professionen der Anteil derjenigen, die aus AbiturientInnenfamilien stammen, stärker zu als unter den ÄrztInnen. Dies lässt sich aber auf das unterschiedliche mittlere soziale Herkunftsniveau beider Gruppen und die sich dementsprechend unterschiedlich äußernden Effekte der gesamtgesellschaftlichen Verschiebung der formalen Bildungsabschlüsse zurückführen (Upgrading). So sinkt bei den ÄrztInnen der Anteil derjenigen deutlich stärker, deren Eltern einen Hauptschulabschluss erworben haben.
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Sander, T. (2018). Getrennte Welten?. In: Klinke, S., Kadmon, M. (eds) Ärztliche Tätigkeit im 21. Jahrhundert - Profession oder Dienstleistung. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56647-3_14
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