1 Einführung

Die jüngsten demografischen Veränderungen in Europa, verbunden mit einer steigenden Lebenserwartung und mit sinkenden Geburtenraten, werden gravierende Auswirkungen auf die Altersstrukturen mit sich bringen; gleichzeitig wird sich die Verfügbarkeit von Arbeitskräften im professionellen Pflegesektor reduzieren (Europäische Kommission, 2015a). Der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) wird großes Potential zugesprochen, die damit verbundenen negativen Auswirkungen zu mildern. So beschreibt die Europäische Kommission in ihrem Programm „Innovation for Active & Healthy Ageing“ die IKT als einen wesentlichen Treiber in der Alltagsunterstützung, um die Lebensqualität und die Handlungsfähigkeit älterer Menschen zu erhalten oder gar zu steigern (Europäische Kommission, 2015b).

Bei der Betrachtung der Forschungsförderlandschaft in den letzten Jahrzehnten, die sich auf die Forschung und Entwicklung von digitalen Unterstützungssystemen für ältere Menschen richtet, wird allerdings deutlich, dass sich bislang nur die wenigsten Systeme am Markt etablieren konnten (Chung et al., 2016). Als ein wesentlicher Grund dafür gilt vielen die mangelnde Akzeptanz bei älteren Menschen. Eine wichtige Akzeptanzbarriere liegt vor allem in der unzureichenden oder zu späten Einbindung von Nutzervertreter:innen in Forschungsprojekten (Mort et al., 2015). Dies hat zur Folge, dass technologische Innovationen häufig nicht oder nur unzureichend die alltagsbasierten Bedürfnisse und Routinen der avisierten Zielgruppen adressieren (Fitzpatrick & Ellingsen, 2013). Konkret fehlt häufig ein Verständnis für soziokulturelle Wertsysteme und für psychosoziale Bedürfnisse. Die technologischen Lösungen finden damit keinen Platz im Alltagsleben der Menschen, für die sie entwickelt wurden (Procter et al., 2018).

Eine konsequente und frühzeitige Einbindung von zukünftigen Nutzer:innen wird daher zunehmend als eine wichtige Voraussetzung für Produktinnovation und -entwicklung angesehen. In jüngeren deutschen Förderausschreibungen lässt sich tatsächlich eine entsprechende Reaktion ablesen, indem Aspekte wie Co-Creation, Partizipative Forschung und Realwelt-Bezug aktuell stark betont werden (z. B. in der Förderlinie „Technik zum Menschen bringen“ im Forschungsprogramm zur Mensch-Technik-Interaktion des Bundesministeriums für Bildung und Forschung; BMBF, 2018). Allerdings ist die Umsetzung der Nutzerbeteiligung anspruchsvoll, und es besteht noch eine Reihe an offenen Fragen für nachhaltige Verfahren der Nutzerintegration (Rodrigez et al., 2013; Stubbe, 2018). Die Living Lab-Methode und das Participatory Design gelten in diesem Zusammenhang als gute Beispiele („good practice“) für nutzer- und praxisorientierte Innovationen und erhalten zunehmend besondere Aufmerksamkeit.

Im Folgenden werden beide Ansätze vorgestellt und jeweils Herausforderungen und Möglichkeiten ihrer Anwendung in F&E-Projekten mit älteren Erwachsenen beleuchtet und anhand eines Praxisbeispiels illustriert. Das Praxisbeispiel adressiert die partizipative Entwicklung digitaler Infrastrukturen im ländlichen Raum zur Förderung sozialer Teilhabe und Inklusion älterer Bürger:innen. Abschließend werden die möglichen Lösungsansätze für praxis- und nutzerorientierte Forschungsformate mit älteren Menschen zusammengefasst.

2 Nutzer- und praxisorientierte Innovation in Deutschland: Living Labs und Partizipatives Design.

Der Ansatz der Living Labs richtet sich primär auf die Einbindung von Nutzer:innen. Living Labs werden als inter- und transdisziplinäre Lernräume verstanden, in denen unterschiedliche Akteursgruppen wie Anwender:innen, lokale Organisationen und Unternehmen zusammenkommen, um voneinander zu lernen und gemeinsam Lösungen für ein geteiltes Problemverständnis zu schaffen (Riva-Mossman et al., 2016). Das Ziel besteht darin, sozio-technische Interventionen oder Werkzeuge zu schaffen, die sich an bereits bestehende (Pflege-)Strukturen, (menschliche) Ressourcen und Praktiken anpassen.

Die ersten Living Labs waren künstliche Labore, die als Wohnungen eingerichtet waren und in die Nutzer:innen eingeladen wurden, um bestimmte Technologien zu testen (Intille et al., 2005; Olivier et al., 2009). In der Folge gingen Forscher und (vor allem Technologie-) Unternehmen dazu über, Living Labs in realen Umgebungen einzurichten. Diese Art von Living Labs wird in zwei Stränge unterteilt: einerseits laborähnliche Settings für Evaluations- und Innovationszwecke und andererseits private Haushalte oder lokale Quartiere als Forschungsumgebung (Følstad, 2008; Ogonowski et al., 2018). Diese realräumlichen Settings zielen auf den Aufbau von ganzheitlichen und nachhaltigen Lernräumen für die Zusammenarbeit von Forschenden, Unternehmen, lokalen Organisationen und zukünftigen Nutzenden ab.

Während in unternehmens- und arbeitsbezogenen F&E-Ansätzen Arbeitsplatzstudien und ähnliche Methoden zur Beobachtung von Menschen in ihrer realen Arbeitsumgebung schon seit den 1980er Jahren angewandt werden (Hughes et al., 1992; Suchman, 1987), setzte sich die intensive Einbindung und Nutzung privater Haushalte für technologische Produktinnovation erst in jüngerer Zeit durch. Dies erfolgte besonders im Zuge von Forschung im Umfeld des Ubiquituos Computing und der Heimautomatisierung (Smart Homes), um ein tieferes Verständnis von Alltagspraktiken im realen Umfeld zu erhalten. Die Living Lab-Forschung basierend auf ethnografischen Methoden wie Tagebuchstudien, teilnehmender Beobachtung oder Cultural Probes (Crabtree et al., 2003) liefert eine Vielfalt an qualitativen Daten, welche es ermöglichen, Alltagspraktiken in detaillierter Weise zu verstehen und damit alltagsbezogene Einstellungen, Probleme und Bedürfnisse zu identifizieren (Crabtree, 1998).

Eine spezifische Form von Living Labs, welche das langfristige Engagement von Forschungsteilnehmer:innen fördert, ist das Siegener PraxLabs-Framework (Ogonowski et al., 2018; www.praxlabs.de). Das PraxLabs-Framework nutzt einen Methodenmix, der besonders für die Forschung in sensiblen Kontexten und mit vulnerablen Forschungsteilnehmenden geeignet ist, wie Ethnografie (Randall et al., 2007), Participatory Design (Bratteteig & Wagner, 2016) und Value Sensitive Design (Friedman et al., 2008). Innerhalb des PraxLabs-Forschungsrahmens ist die Beteiligung der Endnutzer:innen in allen Phasen der Entwicklung gegeben: während der Vorstudien, um gemeinsam Problemstellungen, Anforderungen und mögliche Marktchancen zu identifizieren, gemeinsam Design-Prototypen zu erstellen und die Benutzerfreundlichkeit und Sinnhaftigkeit der Lösungen für die Nutzenden zu verbessern, in der Praxis zu testen und während der Nutzung kontinuierliches Feedback zu geben (Ogonowski et al., 2018) (Abb. 1 und 2).

Abb. 1
figure 1

PraxLabs Ansatz

Abb. 2
figure 2

Qualitative Methoden in der praxisnahen IT-Entwicklung

Die partizipative Gestaltung von Software unter Einbeziehung zukünftiger Nutzergruppen hat ihren Ursprung in Skandinavien (Norwegen) in den 1970er Jahren. In den frühen partizipativen Technologieprojekten ging es darum, die Computerisierung von Arbeitsplätzen auf demokratische Weise umzusetzen. Partner waren neben Technologieforscher:innen und Unternehmen auch die Gewerkschaften, um die Perspektive der Arbeitnehmer:innen einzubringen. Der skandinavische Ansatz folgt drei Kernprinzipien, die auch heute noch die partizipative Gestaltung prägen: 1. Demokratisierung, 2. Emanzipation und 3. Produktqualität (Bødker & Pekkola, 2010). Analog dazu sollte ein beteiligungsorientierter IT-Entwicklungsansatz, der eine Produktentwicklung für ältere Menschen verfolgt, die Zusammenarbeit mit älteren Menschen als Vertreter:innen der Zielgruppe „auf Augenhöhe“ ermöglichen. Alle Phasen der Entwicklung, Einführung und Evaluation der gemeinsam entwickelten Hard- und Software finden idealerweise in einem gemeinsamen Prozess zwischen dem Entwicklungsteam und den Projektteilnehmenden bzw. Mitforschenden statt (Bratteteig & Wagner, 2016).

Je weiter die zu entwickelnde Technologie von aktuell vorliegenden Nutzungsformen entfernt ist, desto mehr steigt der Komplexitätsgrad für nutzer- und praxisorientierte Forschungsprojekte. Besonderes Augenmerk ist daher der Frage zu widmen, wie die Vertreter:innen der angestrebten Zielgruppen aktiv in den Prozess eingebunden werden können, insbesondere, wenn keine oder nur wenig Erfahrung mit digitalen Medien vorliegen. Dies erfordert einen sorgfältigen und kontinuierlichen Dialog des gegenseitigen Lernens zwischen den Projektteilnehmenden und dem Entwicklungsteam (Wagner, 2018). Für F&E- Projekte für und mit älteren Menschen gibt es trotz der zunehmenden Sensibilität für reale Kontexte noch eine Reihe von Hürden, die stärker Beachtung finden sollten.

3 Herausforderungen in der partizipativen Technologieentwicklung mit älteren Erwachsenen

Das Konzept des Participatory Design ist aktuell ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Arten der Nutzerintegration. Der emanzipatorische und demokratiefördernde Charakter, der durch die frühen skandinavischen Arbeiten positioniert wurde, wurde teilweise stark verwässert. Folglich werden Methoden, die als „partizipativ“ bezeichnet werden, derzeit auf sehr unterschiedliche Weise verstanden und damit verbundene Aktivitäten ganz unterschiedlich verhandelt und umgesetzt. Die Ansätze reichen von stark vereinfachten Methoden-Auflistungen zur Nutzerintegration in AAL-Projekten (Ambient Assisted Living) (Nedopil et al., 2013) bis hin zu tiefergehenden Überlegungen, was Partizipation und Co-Design für kollaborative Settings zwischen akademischen Akteur:innen und Beteiligten aus Anwendungsfeldern bedeutet und welche Bedingungen für erfolgreiche Implementierungen erfüllt sein müssen (Vines et al., 2015). Technologieforschung im Bereich Altenpflege muss Alters- und Diversitätsaspekte ebenso berücksichtigen wie die Vielfalt von Kontexten und Lebenssituationen, z. B. komplexe Pflegearrangements und generationenspezifische Wert- und Normvorstellungen, sowie auch die digitalen Kompetenzen und Technologiebiografien der Nutzenden (Meurer et al., 2018). Diese Überlegungen müssen zwischen Vorstudien, Co-Design, Anwendungserprobung, Evaluation und Implementierung sowie der Gestaltung nachhaltiger Lern- und Aneignungssettings differenzieren und bedürfen der methodischen Weiterentwicklung (Joshi & Bratteteig, 2016).

Technologieprojekte zur Unterstützung älterer Menschen sind zudem in bestimmten gesellschaftlichen Diskursen eingerahmt, wie z. B. in Diskussionen zu einem guten Leben über alle Lebensspannen. Auffällig ist, dass die Lebensqualität im Alter häufig in einer gesundheitsökonomisch gefärbten Rationalität diskutiert wird. Dies hat zur Folge, dass die entsprechenden Diskurse mit eher technikgetriebenen Gestaltungsideen gekoppelt sind, bei denen die Beachtung von Alltagspraktiken, Lebensstilen, Normen und Wertvorstellungen älterer Erwachsener häufig zu kurz kommt oder ganz fehlt. Trotz einer hochvirulenten Forschungslandschaft im Bereich digitaler Systeme für ältere Menschen zeigen Studien, dass der Transfer von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen bisher nur mäßig fortgeschritten ist. Ein wichtiger Grund dafür liegt häufig in der Art und Weise, wie ältere Menschen als zukünftige Nutzende „konfiguriert“ werden. Neven und Peine (2017) verweisen auf zwei wesentliche Defizite in Designprozessen für ältere Menschen: Die Definition von Forschungszielen wird häufig von defizitorientierten Altersbildern geleitet. Infolgedessen werden ältere Menschen als passive Empfänger:innen von Technologie dargestellt. Sie gelten somit mehr als „Forschungsobjekte“ denn als Adressat:innen, welche als aktive Mitforschende in die Gestaltung von sozio-technischen Strukturen für die Unterstützung eines selbstbestimmten Lebens beteiligt werden müssen.

Weitere Umsetzungsprobleme bestehen in der Frage, ob ältere Menschen per se zu einer Technikskepsis neigen und ob es im Alter überhaupt noch möglich ist, den Umgang mit digitalen Medien zu erlernen. Diesbezügliche Diskussionen verweisen auf Barrieren im Zugang zu digitalen Medien, die von Usability-Problemen bis hin zu stereotypen und defizitorientierten gesellschaftlichen Bildern des Alters und des Alterns reichen (BMFSFJ, 2020). Die vorliegende Literatur berichtet über zahlreiche Befunde, die zeigen, dass F&E-Projekte häufig durch Technikzentriertheit und stereotype Altersbilder geprägt sind (Gallistl et al., 2020).

Darüber hinaus weisen Bratteteig und Wagner (2012) darauf hin, dass „Nutzerpartizipation nicht nur bei der Gestaltung von IT, sondern auch in Bereichen wie dem Gesundheitswesen, der Gemeindeentwicklung und der Stadtplanung wichtig geworden ist“. Hier kristallisiert sich eine Herausforderung im partizipativen Design als zentral heraus: die Überwindung der vielfach bestehenden „Symmetrie der Ignoranz“ durch Schaffung einer „Symmetrie des Wissens“ (Fischer, 2000) zwischen Designer:innen/Entwickler:innen einerseits, die sich mit dem „Designraum“ bzw. mit technischen Möglichkeiten auskennen, und den beteiligten Nutzenden andererseits, die sich des „Problemraums“ bewusst sind. Was es braucht, um diese Symmetrie herzustellen, ist ein Prozess des gemeinsamen und dialogischen Lernens (Hornung et al., 2017), um einen gemeinsamen hybriden Raum oder „dritten Raum“ (Muller & Kuhn, 1993) zu etablieren, der beide Räume – design space und problem space – zu einem kollaborativen Lern- und Gestaltungsraum erweitert.

4 Projektbeispiel: Partizipatives IT-Design mit älteren Erwachsenen im ländlichen Raum

Der Wunsch vieler älterer Menschen ist es, selbstbestimmt und so lange wie möglich in der vertrauten Wohnung zu leben. Angesichts des demografischen Wandels und einer insgesamt alternden Gesellschaft wird es vor allem in ländlichen Gebieten mit schrumpfender Bevölkerung immer schwieriger, diesen Wunsch zu erfüllen.

Digitale Technik und sogenannte adaptive und selbstlernende Systeme können für das Alltagsleben von Senior:innen gewisse Hilfestellungen bieten. In Kombination mit sozialen Netzwerken und lokalen Organisationen bieten sie Potenziale zum Erhalt oder sogar zur Verbesserung der Lebenssituation. Ziel des Projekts „Cognitive Village“Footnote 1 war es, die Alltagspraktiken älterer Erwachsener im ländlichen Raum zu erforschen und die Erkenntnisse als Grundlage für die Entwicklung von innovativen Sensortechnologien zu nutzen. Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Universität Siegen arbeitete in einer ländlichen Gemeinde – bestehend aus mehreren Dörfern – mit einer Gruppe von älteren Bewohner:innen, mit lokalen Dienstleistern sowie mit einer Kirchengemeinde und einem Technik-Unternehmen zusammen.

Zwischen den formulierten Forschungszielen für innovative Sensorentwicklung einerseits und den alltäglichen Lebenswelten der älteren Bewohner:innen in der kooperierenden Dörfergemeinschaft andererseits bestand zu Beginn ein großer Kontrast. Die im Antrag formulierten Forschungsziele zur Erforschung technologischer Innovationen im Bereich adaptiver und selbstlernender Systeme -basierend auf Mustererkennungsalgorithmen – waren zunächst sehr abstrakt und kaum auf die aktuellen Lebensumstände der älteren Dorfbewohner:innen zu übertragen und abzubilden. Daher erschien es äußerst anspruchsvoll, einen partizipativen Gestaltungsprozess „auf Augenhöhe“ zu etablieren. Wie könnte es gelingen, in der lokalen Gemeinschaft Interesse für einige sehr abstrakte Sensorik-Ideen zu wecken? Und wie kann man dies in einer gemeinschaftsbasierten Perspektive tun, die verschiedene gesellschaftliche Gruppen im Dorf anspricht? Um Interesse und Motivation zur Zusammenarbeit zu wecken, wurde eine Reihe unterschiedlicher Strategien verfolgt, die im Folgenden dargestellt werden.

Der Erstkontakt mit den Dorfbewohner:innen wurde zunächst über Informationstreffen mit Schlüsselpersonen aus dem Dörferverbund hergestellt. Teilnehmende waren Vertreter:innen der Gemeinde, der örtlichen Vereine und der Kirchengemeinde, der ansässige Hausarzt und ehrenamtliche Betreiber:innen eines kürzlich eröffneten Dorfladens. Diese Personen übernahmen zwei wesentliche Funktionen. Zum einen brachten sie selbst Ideen ein, wie digitale Technik im Kontext von Dorfgemeinschaften möglicherweise zur Stärkung der Lebensqualität älterer Bewohner beitragen kann. Zum anderen fungierten sie als Multiplikatoren und Kommunikationsorgane, um bei den älteren Bewohner:innen Interesse und Motivation zu wecken, sich am Forschungsprojekt zu beteiligen.

In mehreren Informationstreffen, zu denen über die Schlüsselpersonen auch ältere Dorfbewohner:innen eingeladen werden konnten, kristallisierten sich mögliche Themen heraus, die auf das Interesse aller Gruppen stießen, darunter der Einsatz von Apps und einer häuslichen Trainingsanwendung zur Sturzprävention. Das Thema erwies sich als interessanter Ankerpunkt für das gesamte Projekt, um später Möglichkeiten für den Einsatz von Mustererkennungssoftware vorzustellen. Mit dem Thema Sturzprävention konnten 15 ältere Bewohner:innen für eine längerfristige Zusammenarbeit im Rahmen des Participatory Design gewonnen werden, mit denen in der Folge zweiwöchentliche Workshops durchgeführt wurden. Die Kirchengemeinde stellte ihren Gemeinschaftraum für die Aktivitäten zur Verfügung. Zu den Treffen brachten die Forschenden Kaffee und Kuchen mit, um eine angenehme Café- Atmosphäre einzurichten.

In diesen Workshops wurde zunächst durch die Forschenden handelsübliche Software für das Bewegungstracking (z. B. Schrittzähler) eingeführt und erläutert, welche die Teilnehmenden spannend fanden und ausprobieren wollten. Für die Forschenden war das Thema Bewegung ein Ausgangspunkt, um damit verbundene individuelle Interessen und Gewohnheiten zu erforschen.

Um das bereitgestellte technische System und die bewegungsorientierten Smartphone-Apps gut nutzen zu können, wurde den Teilnehmenden relativ schnell bewusst, dass der Aufbau digitaler Kompetenz für sie hilfreich und sinnvoll ist. So entwickelte sich über den für die Teilnehmenden relevanten Ankerpunkt des Sturzpräventionstrainings eine Bereitschaft und Affinität, den Umgang mit Smartphones, Tablet-PCs und Fitnessarmbändern zielgerichtet zu erlernen. Aus diesem Einstiegspunkt entwickelten sich im Verlauf weitere alltagsbasierte Interessen für die Nutzung der Digitaltechnik, die durch die Forschenden in den Workshops aufgenommen und unterstützt wurden. In den regelmäßigen Workshops bereiteten sie die sich aus den Alltagsinteressen der Teilnehmenden ergebenden Lernthemen nutzergerecht auf, um einen nachhaltigen und motivierenden Lernprozess zu unterstützen. Diese schrittweise Entwicklung von digitaler Kompetenz der Gruppe öffnete den gemeinsamen Kooperations- und Lernraum schließlich für die gemeinsame Bearbeitung komplexerer Themen und für die Gestaltung unterschiedlicher Prototypen und Interventionen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Aneignungscafé in Aktion

Die als Aneignungscafés bezeichneten Workshops wurden so zum zentralen Ort gemeinsamer Technikerkundung, -nutzung und -reflexion, die durch Treffen mit weiteren lokalen Akteursgruppen flankiert wurden. Mit zunehmender Erfahrung mit den Werkzeugen im Alltag wuchs auch das Interesse und die Kompetenz, gemeinsam nach weiteren Nutzungsmöglichkeiten von Digitaltechnologie für ländliche Gemeinschaften zu suchen. So wurden zum einen in den gemeinsamen Treffen Versionen der Mustererkennungssoftware getestet und reflektiert, als auch in Zusammenarbeit mit dem Dorfladen, der Kirchengemeinde und dem lokalen Hausarzt weitere Technologieideen entwickelt.

Die regelmäßigen Aneignungscafés sind ein zentrales Element des partizipativen Gestaltungsprozesses. Ältere Menschen wollen (und können auch) verstehen, wozu sie die Technik nutzen können. Also muss es ihnen ermöglicht werden, sich auf eine „Lernreise“ zu begeben. Die Sinnhaftigkeit von Technologie fällt jedoch nicht vom Himmel, sondern braucht bestimmte Rahmenbedingungen, wie die begleiteten ersten Schritte im Umgang mit den Geräten und der Software und das gemeinsame Finden von Ankerpunkten in den Lebenswelten und Interessen der Nutzer:innen in Gesprächen und gemeinsamen Erkundungen mit den Forscher:innen. Durch diese dialogische Explorationsphase wurden Interessen geweckt, Motivation gestärkt und die notwendigen digitalen Kompetenzen für die Partizipation am Gestaltungsprozess erlernt (Struzek et al., 2019; Müller et al., 2015a). Diese Art der partizipativen Forschung ist jedoch kein linearer Prozess, wenn viele verschiedene Gruppen von Akteur:innen vor Ort, im Living Lab, mit Forschenden und Technikunternehmen zusammenarbeiten. Es wurden eine ganze Reihe von Ideen entwickelt, ausgearbeitet, diskutiert und teilweise auch wieder verworfen. Einige Projektideen wurden jedoch so umgesetzt, dass sie auch nach Projektende von der Dörfergemeinschaft weitergenutzt werden können.

Neben Fragen der Motivation und den Ermöglichungsfaktoren, insbesondere der praxisorientierten Kompetenzbildung älterer Forschungsteilnehmer:innen, ist ein weiteres zentrales Forschungsproblem der partizipativen Forschung im Living Lab die Skalierung. Insbesondere, wenn das Living Lab größere Räume umfasst, besteht die Herausforderung darin, wie möglichst viele lokale Akteur:innen für ein gemeinsames Forschungsprojekt gewonnen werden können. Typischerweise sind Participatory Design-Projekte eher kleinräumig als relativ übersichtliche Case Studies angelegt. Hinsichtlich der Ausweitung auf großflächigere räumliche Umgebungen, wie Stadtquartiere oder ländliche Räume, besteht bisher noch Forschungsbedarf (Müller et al., 2015b).

Nachdem sich die konstante Gruppe von 15 älteren Mitforschenden gefestigt hatte, wurde damit begonnen, die Frage zu diskutieren, wie man mehr Menschen in den Dörfern für den Technologieerkundungsprozess interessieren könnte. Die „Kern-Gruppe“ hatte Freude daran, darüber nachzudenken, wie man den gemeinsamen Technologieerkundungsprozess für andere ältere Dorfbewohner:innen sichtbarer machen könnte. In einigen folgenden partizipativen Design-Workshops entwickelte die Gruppe Ideen, wie man eine Kirchenkamera und ein digitales schwarzes Brett im Dorfladen implementieren könnte, was in eine Reihe von Prototyping- Sitzungen für die Anwendungen mündete. Beide digitalen Systeme wurden schließlich implementiert, und die Gruppe entwickelte Ideen und Maßnahmen zur Verbreitung der neuen digitalen Dorfwerkzeuge an andere ältere Erwachsene im Dorf.

In der Zusammenschau wurden unterschiedliche Entwicklungslinien der digitalen Technologie verfolgt – sowohl das sensorgestützte „high tech“-Mustererkennungsprojekt in Verbindung mit Ansätzen der Sturzprophylaxe sowie die partizipativen Entwicklungsprozesse für die eher „low-tech“-basierten Anwendungen wie das Schwarze Brett des Dorfladens und die Kirchenkamera. Letztendlich erwies sich diese Strategie als erfolgreich, um einen nachhaltigen partizipativen Designprozess zu etablieren, der die IT-Entwicklung sowohl in den realen Lebensumständen älterer Erwachsener als auch im sozialen Gefüge einer lokalen Gemeinschaft verankert. Die alltäglichen Technologien wurden nach Projektende an die Betreiber:innen des Dorfladens und an die Kirchengemeinde übergeben. Der Teil des Mustererkennungsprojekts endete aber (noch) nicht in einem marktreifen Produkt, was auch nicht das Ziel der F&E-Förderlinie war. Die Entwickler:innen der Mustererkennung erhielten jedoch eine wertvolle Gelegenheit, ihre Algorithmenentwicklungsprozesse im alltagsweltlichen Kontext anzuwenden (Abb. 4 und 5).

Abb. 4
figure 4

Kirchenkamera

Abb. 5
figure 5

Digitales schwarzes Brett im Dorfladen

5 Zur „Erdung“ von high tech- und low-tech-Entwicklung in realen Lebenskontexten älterer Menschen

Partizipatives Design ist zeit- und ressourcenintensiv und findet daher meist in kleinem Rahmen statt. Daher stellen sich bei der Integration dieses Ansatzes in ein Living Lab- Forschungsdesign, welches darauf abzielt, unterschiedliche Interessengruppen in einer lokalen Gemeinschaft zusammenzubringen, einige Herausforderungen. Zum einen besteht die Notwendigkeit, eine Brücke zu schlagen zwischen 'high tech'-Forschungszielen (z. B. Algorithmen zur Mustererkennung) und den tatsächlichen Alltagspraktiken und -interessen älterer Erwachsener. Wie kann man über zukünftige Technologien mit Menschen sprechen, die kaum bzw. noch nicht einmal mit „einfachen“ Smartphones vertraut sind? Wie kann man zwischen der innovativen Algorithmenforschung, die überwiegend durch die Programmierenden im Labor stattfindet, und den realen Lebenskontexten älterer Erwachsener, die meist noch nicht digitalisiert sind, Anknüpfungspunkte finden? Wenn man partizipative F&E-Forschung in Alltagskontexten ernsthaft angehen will, muss man sich in diesen Kontexten aufhalten und das Thema von beiden Seiten beleuchten.

Die Verankerung eines Technologieforschungsprojekts in einer Kommune muss zunächst das Interesse der Menschen wecken. Treffen mit lokalen „Türöffnern“, d. h. kommunalen Akteur:innen, engagierten Menschen in lokalen Vereinen u.ä. sind wichtig, um ins Gespräch zu kommen und sich von ihnen helfen zu lassen, mit weiteren, älteren, Bewohner:innen der Gemeinde in Kontakt treten zu können. Weiterhin ist die „Ermöglichung von Beteiligung“ („enabling for participation“) sehr bedeutsam, wenn das Projekt ältere Bewohner:innen für eine langfristige Zusammenarbeit gewinnen möchte. Der Projektansatz, Treffen mit Kaffee und Kuchen zu organisieren und für eine angenehme (Lern-) Atmosphäre zu sorgen, nutzt einen niedrigschwelligen Weg, um miteinander in Kontakt zu kommen, um Themen zu verhandeln, welche die Teilnehmenden aus der Sicht ihrer individuellen Lebenswelten interessiert.

Darüber hinaus ist die Auseinandersetzung mit handelsüblichen Geräten wie Smartphones und Tablet-PCs und das langsame und schrittweise Ausprobieren von digitalen Anwendungen entlang der alltagsbasierten Interessen hilfreich, um Ankerpunkte in den realen Alltagskontexten zu identifizieren, welche zur Technologienutzung und zum Lernen motivieren. Das ethnographische und dialogische Lernformat hat somit auch den Forschenden wichtige Einblicke in Interessens- und Bedürfnislagen der Teilnehmenden ermöglicht. Nach mehreren Monaten des Kennenlernens der Geräte und der Software für ihre eigenen Nutzungsinteressen, u. a. die Anwendungen zur Bewegungsverfolgung, fühlten sich die älteren Forschungspartner:innen mit den Geräten vertraut und entwickelten ein weitergehendes Interesse daran, über ihre individuellen Horizonte hinaus zu denken und Strategien zu entwickeln, wie weitere ältere Gemeindebewohner:innen für technologische Unterstützung interessiert werden könnten.

Die gemeinsam entwickelten Anwendungen der Kirchenkamera und das Schwarze Brett des Dorfladens dienten schließlich als „boundary objects“ zu anderen älteren Bewohner:innen, die bisher kein Interesse gezeigt hatten, sich mit dem Projekt und mit digitaler Technologie im Allgemeinen zu beschäftigen. In einem gemeinsamen Ansatz mit Gemeindemitgliedern und den Akteur:innen des Dorfladens und der Kirchengemeinde blieben diese Systeme nach dem Projekt bestehen und konnten Überlegungen und Gespräche über Folgeprojekte in der Dörfergemeinschaft anregen.

6 Fazit

Partizipatives Design und Living Lab-Methoden werden als nutzerorientierte Innovationsansätze aktuell häufig genannt – allerdings werden sie auf sehr unterschiedliche Weisen umgesetzt. Die Herausforderungen, die sich in der kooperativen Forschung in realen Alltagskontexten mit älteren Menschen ergeben, werden bisher relativ kursorisch behandelt und erfordern in Zukunft weitere vertiefende Analysen. Nutzereinbindung in Innovationsprozesse zur Förderung der Lebensqualität älterer Menschen muss sich in deren konkrete Lebenswelten hineinbegeben und an individuellen Bedürfnissen und Interessen ansetzen. Nachhaltige Designideen zu entwickeln, die auch in eine reale Nutzung überführt werden können, erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit lebensweltlichen Fragestellungen. Dazu gehört die Frage der Befähigung zu Co-Design („enabling for co-design“), mit der Entwicklung von Maßnahmen des dialogischen Lernens, das einerseits Forschungspartnerinnen ermöglicht, sich auf niedrigschwellige Weise mit Digitaltechnik vertraut zu machen, und das andererseits Forschenden dadurch ein Verständnis für mögliche Einsatzoptionen der Technologie verschafft. Die Einführung von Standardprodukten als einem ersten Schritt für den Beginn einer gemeinsamen Erkundung- und Sinnfindungsphase zeigt sich als eine erfolgreiche Strategie im Rahmen partizipativer Living Lab-Forschung.

Eine alltagsweltlich orientierte Designperspektive sollte auch gleichzeitig eine Community-Perspektive einnehmen, die die sozialen Netzwerke der älteren Menschen mit in Betracht zieht, wie dies der Living Lab-Ansatz verfolgt. Fragen der Skalierung solcher Ansätze auf größere räumliche Zusammenhänge wie Dörferverbünde oder Stadtquartiere werden bisher allerdings nur spärlich behandelt.

Dies impliziert, dass es einer langfristigen Perspektive für die Entwicklung von gemeindebasierten Strategien zur Technologieeinführung bedarf, die über einzelne Projektzeiträume hinausgeht (Meurer et al., 2018). Lokale partizipative Design-Projekte können idealerweise als einzelne Schritte in einem regionalen, langfristigen Living Lab verstanden werden, das eine große Bandbreite an Erfahrungen sammelt und diese sowohl in die IT-Entwicklung als auch in die Gemeindeentwicklung zurückführt.