FormalPara Zusammenfassung

Ausgehend von einer Analyse der Ursachen und Folgen sowie der Umgangsweisen mit Zeit- und Leistungsdruck fragt der Beitrag nach Bausteinen einer gesundheitsförderlichen Unternehmenskultur. Zeit- und Leistungsdruck ist, so die empirischen Befunde, die subjektive Wahrnehmung eines objektiven Leistungsproblems: Im Zusammenspiel steigender Anforderungen einerseits und einer kostenorientierten Personalpolitik andererseits entsteht – systematisch – eine Situation, in der die vollumfängliche Erfüllung hoher und widersprüchlicher Leistungserwartungen erschwert oder gar unmöglich ist. Angesichts einer solchen »systematischen Überlastung« muss eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur Bewertungs- und Handlungsorientierungen zum Umgang mit unerfüllbaren Leistungserwartungen bereitstellen. Vorgeschlagen werden in diesem Zusammenhang insbesondere zwei Bausteine: Zum einen eine Kultur des »gesunden Scheiterns« (wenn Scheitern möglich oder sogar unausweichlich ist, dann muss Scheitern auch erlaubt sein). Zum anderen die Klärung erwarteter Umgangsweisen: »Perfektionismus« muss möglich, »Pragmatismus« legitim sein.

1 Einleitung

Psychische Belastungen spielen in der gegenwärtigen Arbeitswelt eine große und wohl eher zunehmende Rolle (Junghanns u. Morschhäuser 2013; Meyer u. Meschede in diesem Band). Zeit- und Leistungsdruck dürfte dabei ein Schlüsselphänomen sein: Es gibt keine andere psychische Anforderung, die so weit verbreitet ist und die von so vielen Menschen als belastend wahrgenommen wird (Lohmann-Haislah 2012). Als eine Antwort auf diese Entwicklung gilt die Formulierung von Leitlinien einer gesundheitsförderlichen (oder »-orientierten«) Unternehmenskultur. Welche Rolle solche unternehmenskulturellen Leitbilder dann auch tatsächlich spielen und spielen können, ist allerdings eine offene Frage: Zum einen unterscheiden sich bekanntermaßen »offizielle« Leitbilder (»Werte«) und gelebte Praxis (etwa Bardmann u. Franzpötter 1990). Die Werte, die sich ein Unternehmen gibt, müssen nicht der in der Praxis herrschenden Kultur entsprechen – und nicht selten werden in den Unternehmen auch solche Widersprüche zwischen »explizierter« und »praktizierter« Kultur artikuliert. So etwa, wenn wie in einem unserer Interviews eine junge Mutter sagt: »Aber die (Firma) sagt ja, wir sind familienfreundlich. Aber da habe ich bis jetzt nichts bemerkt. … Ich finde hier keine Familienfreundlichkeit. Es ist alles nur … steht bloß da. Aber es wird nicht gelebt.«

Zum anderen – und das ist der Aspekt, der hier weiterverfolgt werden soll – ist die Unternehmenskultur vor allem dann ein wesentlicher Beitrag zur Lösung des Problems (steigender) psychosozialer Belastungen, wenn die Kultur auch das wesentliche Problem ist. Wenn sich psychosoziale Belastungen auch oder besonders auf die spezifische Kultur eines Unternehmens zurückführen lassen (etwa »Misstrauenskultur«, »Hochleistungskultur«), dann ist das sicher etwas anderes, als wenn das Hauptproblem – nur als Beispiel – in einem anhaltenden Personalmangel besteht. Wir wollen im Folgenden daher zunächst danach fragen, was eigentlich das Problem ist: Woher kommt Zeit- und Leistungsdruck, welche Folgen hat er und wie gehen Beschäftigte mit Zeit- und Leistungsdruck um? Daran anschließend stellt sich die Frage, wie eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur aussehen müsste, die dieses Problem auch adäquat adressiert.

Wir stützen uns dabei auf die Befunde eines kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojektes zu den Ursachen und Folgen von »Zeit- und Leistungsdruck bei Wissens- und Interaktionsarbeit«. Das Projekt »Zeit- und Leistungsdruck bei Wissens- und Interaktionsarbeit« wurde von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gefördert und vom ISF München in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Chemnitz (Christoph Handrich, Caroline Koch-Falkenberg; G. Günter Voß) und einem Eigenprojekt der BAuA (Anika Schulz-Dadazcinsky, Gisa Junghanns) durchgeführt.Footnote 1

Ausgangspunkt dieses Projektverbundes ist der Befund, dass viele Befragungen die quantitative Bedeutung von Zeit- und Leistungsdruck zeigen, aber auch – und gerade für das Feld der (hoch)qualifizierten Dienstleistungstätigkeiten – viele Fragen offen lassen, so vor allem: Was ist eigentlich »Zeit- und Leistungsdruck«? Welche Ursachen und Folgen hat er? Wie wird Zeit- und Leistungsdruck wahrgenommen, wie mit ihm umgegangen? Die Beantwortung dieser – qualitativen – Fragen erfordert ein qualitatives Forschungsdesign; gewählt wurde für das hier zentrale Teilprojekt des ISF München das Design einer (industriesoziologischen) Betriebsfallstudie: Vor dem Hintergund der konzeptionellen Thesen »neuer Steuerungsformen« (etwa Kratzer u. Nies 2009) bzw. einer »subjektivierten Leistungspolitik« (Matuschek 2010) erscheint ein tätigkeitsbezogener Ansatz zur Erfassung von Zeit- und Leistungsdruck (Junghanns 2012) erweiterungsbedürftig: Zwar steht die Frage nach den Ursachen, Formen, Folgen und Umgangsweisen von bzw. mit Zeit- und Leistungsdruck bei qualifizierten Dienstleistungstätigkeiten im Zentrum, aber zu untersuchen sind sie »im Kontext« der betrieblichen Steuerung einerseits und subjektiver Praxen andererseits (vgl. dazu ausführlich Dunkel u. Kratzer 2016). Aus dem weiten Feld qualifizierter Dienstleistungstätigkeiten wurden zwei Tätigkeitsfelder ausgewählt, die für die Entwicklung der Dienstleistungsarbeit insgesamt von großer Bedeutung sind, sich aber in zentralen Tätigkeitsmerkmalen grundlegend unterscheiden: »Wissensarbeit« (Arbeit am Produkt) und »Interaktionsarbeit« (Arbeit mit Kunden). Durchgeführt wurden zwei Betriebsfallstudien: Als Beispiel qualifizierter Interaktionsarbeit wurde der telefonische und schriftliche Support von Kunden im »IT-Service« eines größeren Software-Unternehmens untersucht. Die Tätigkeiten umfassen die Beratung der Kunden, darüber hinaus aber oft aber auch noch die Mitwirkung bei internen Projekten und/oder etwa im Produktmanagement. Die Beschäftigten verfügen überwiegend über eine kaufmännische Ausbildung. Neben generellen Interaktionskompetenzen sind vor allem gute Kenntnisse der sehr komplexen Produkte des Unternehmens sowie der Arbeitsabläufe bei den Kunden unabdingbar. Das Tätigkeitsfeld Produktentwicklung steht demgegenüber exemplarisch für das Feld der hochqualifizierten Wissensarbeit. Die Untersuchungen zur »Produktentwicklung« wurden in einem mittelständischen Unternehmen der elektrotechnischen Industrie an einem reinen Entwicklungsstandort durchgeführt. Die untersuchten Beschäftigten sind allesamt Ingenieure und mit der Entwicklung von Software- oder Hardwarekomponenten für die Produkte des Unternehmens befasst.

Die empirische Basis der Untersuchungen umfasst insgesamt 66 Interviews: 15 ausführliche Interviews mit Vertretern aus Management, Betriebsrat und Gesundheitsschutz (IT-Service: 6; Entwicklung: 9), 20 Interviews mit Führungskräften auf Abteilungs- und Teamleiterebene (IT-Service: 10; Entwicklung: 10) sowie leifadengestützte Intensivinterviews mit Beschäftigten (IT-Service: 16; Entwicklung: 15). Darüber hinaus wurden betriebliche Materialien ausgewertet und jeweils mehrere Vorbereitungs- und Feedback-Veranstaltungen durchgeführt. Im nächsten Abschnitt werden die wichtigsten Befunde dieser Untersuchung kurz und fallübergreifend zusammengefasst (eine ausführliche Darstellung findet sich in Dunkel u. Kratzer 2016).

2 Zeit- und Leistungsdruck bei Wissens- und Interaktionsarbeit: Ursachen, Folgen und Umgangsweisen

2.1 Zeit- und Leistungsdruck: Definition und Verbreitung

Die Befunde zeigen, dass die Befragten vor allem dann »unter Druck« stehen, wenn sie mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert sind. Zwei Widerspruchskonstellationen haben sich dabei als besonders bedeutsam erweisen: Der quantitative Widerspruch zwischen der Anforderungsmenge und den vorhandenen zeitlichen oder personellen Ressourcen – die Beschäftigten haben dann schlicht zu viel zu tun – und eine qualitative Widerspruchskonstellation: Hier besteht der Widerspruch nicht zwischen Anforderungen und Ressourcen, sondern zwischen den Anforderungen selbstFootnote 2: Die Beschäftigten sind nicht mit einer, sondern mit mehreren und vor allem auch verschiedenen Anforderungen konfrontiert, die nicht selten auch zueinander im Widerspruch stehen: Hohe Qualität, aber wenig Zeit; gute Beratung, aber möglichst kurze Gespräche u. a. Diese beiden Widerspruchskonstellationen treten häufig zusammen auf und verstärken sich wechselseitig, sie können aber auch jede für sich zu Zeit- und Leistungsdruck führen (vgl. dazu auch Junghanns 2012).

»Zeit- und Leistungsdruck« ist nach unseren Befunden dann die subjektive Wahrnehmung einer Arbeitssituation, die durch widersprüchliche Anforderungen gekennzeichnet ist. Zum Problem wird diese Situation, das zeigen unsere Befunde, vor allem deswegen, weil sie die Erfüllung von Leistungserwartungen erschwert oder sogar unmöglich macht. Wir definieren Zeit- und Leistungsdruck deshalb als subjektive Wahrnehmung eines objektiven Leistungsproblems: Die Arbeitssituation wird als eine Situation erlebt, in der die Leistungserwartungen mit einer »normalen« Leistung nicht vollumfänglich erfüllt werden können, sondern (wenn überhaupt) nur durch eine erhöhte Anstrengung.

Die Situation »Zeit- und Leistungsdruck« haben alle Befragten schon erlebt – sei es in der jetzigen oder in einer früheren Tätigkeit (beim jetzigen oder einem anderen Arbeitgeber). Es gibt aber erhebliche Unterschiede insbesondere in der Art, Häufigkeit und Dauer von Zeit- und Leistungsdruck-Situationen: So wird Zeit- und Leistungsdruck in der Entwicklung vor allem als Termindruck wirksam, d. h. als drohendes Missverhältnis von spezifizierten Entwicklungszielen und festgelegten Fertigstellungsterminen, im IT-Services aber vor allem als Zeitdruck, d. h. als Missverhältnis zwischen der Menge an Servicenachfragen und der zur Bearbeitung verfügbaren Zeit (vgl. zur Unterscheidung von Zeitdruck und Leistungsdruck auch Junghanns 2012, S. 108). Aber auch innerhalb der Entwicklung und des IT-Service gibt es große Unterschiede, die u. a. mit der jeweiligen Kundenstruktur und den spezifischen Tätigkeitsanforderungen zu tun haben. Kurz: Manche erleben nur selten Zeit- und Leistungsdruck, für andere (insbesondere Führungskräfte) ist Zeit- und Leistungsdruck dagegen Alltag.

Eine große Rolle spielt dabei die Funktion der Person: Bei allen Unterschieden lässt sich als Faustregel feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit von Zeit- und Leistungsdruck, d. h. die Wahrscheinlichkeit, häufiger mit einem Leistungsproblem konfrontiert zu sein, mit der Anzahl der Kooperationsbezüge, d. h. der Schnittstellen (zu anderen Personen, Arbeitsgruppen, Funktionen) steigt. Die Führungskräfte beider Unternehmen weisen eine Vielzahl solcher Schnittstellen auf, aber es gibt eben auch eine ganze Reihe »normaler« Beschäftigter, die in eine größere Zahl von Kooperationsbezügen eingebunden sind. Dazu zählen etwa die Teilprojektleiter (ohne Führungsfunktion) in der »Entwicklung«, aber auch die Service-Mitarbeiter, die neben der Servicetätigkeit noch weitere Aufgaben haben (Produktmanagement, Sonderaufgaben, Projekte etc.). In beiden Fallbetrieben gewinnt man den Eindruck, dass die Zahl der Schnittstellen eher zu- als abnimmt: Mit komplexeren Produkten und wachsenden Kundenanforderungen steigt auch die Komplexität der Organisation – und mit dieser die Zahl der Schnittstellen.

Bei allen Unterschieden in der Betroffenheit und bei aller Subjektivität in der Wahrnehmung hat die Wahrnehmung von Zeit- und Leistungsdruck in Fallbetrieben einen objektiven Hintergrund: Im Fall Entwicklung ist es »normal«, dass die Produkte oder Teilprodukte zum festgesetzten Termin nicht in versprochener Qualität vorliegen. Auf dem internen Markt für Entwicklungsaufträge erhöhen knappe Kalkulationen die Chance der Genehmigung und auf dem externen Markt die Chance, den Auftrag zu erhalten oder die Anforderungen der Kunden zu erfüllen. Dass ein Meilenstein nicht erreicht wird, so sagte es ein Entwickler, »…ist eigentlich bei uns relativ normal«. Im Fall Service ist es ebenfalls so, dass die Vorgaben insbesondere zur Erreichbarkeit des Service häufig nicht erfüllt werden. Und auch hier gibt es ganz verschiedene Ursachen, aber auch hier ist die Diskrepanz zwischen Anforderungen und Ressourcen mindestens zum Teil auch »hausgemacht«: Die Anforderungen steigen, aber nicht zuletzt aus Kostengründen können die Personalkapazitäten nicht in gleichem Umfang wachsen. Die Qualitätsziele werden jedoch auch nicht nach unten korrigiert – und hier ist die Erreichbarkeit neben der Beratung an sich natürlich ein ganz wichtiger Faktor der für den Kunden erfahrbaren Servicequalität.

»Zeit- und Leistungsdruck ist keine neue Situation, sondern wird von den Beschäftigten und Führungskräften als selbstverständlicher Bestandteil einer anspruchsvollen Tätigkeit angesehen und im Prinzip auch weitgehend akzeptiert. Dabei war Zeit- und Leistungsdruck in der Vergangenheit an bestimmte, mehr oder weniger vorhersehbare und planbare, zeitlich befristete Situationen geknüpft (etwa Projektabschluss in der Entwicklung, Jahresabschluss im IT-Service). In beiden Fällen zeigt sich nun aber die Tendenz, dass Situationen, in denen Zeit- und Leistungsdruck entstehen, zunehmend häufiger und weniger vorhersehbar werden: Die Projekte in der Entwicklung unterliegen einer projekttypischen Dynamik mit einem zu wichtigen Terminen hin ansteigenden Zeit- und Leistungsdruck. Für eine Verstetigung sorgt hier, dass die Zyklen durch engere Termine kürzer werden und zugleich die Unterbrechungen häufiger, wobei diese ihrerseits teils indirekte Folge »unrealistischer« Ziele sind (weil man bei der Eskalation von Projekten woanders einspringen muss oder ausgelieferte Produkte zur Nachbearbeitung zurückkommen), teils Folge des »kundengetriebenen« Geschäfts sind. Auch im Service gibt es eine klare Tendenz zur Verlängerung der bekannten »Hochphasen«. Solche Phasen kommen häufiger vor, weil die Frequenz der Datenupdates bzw. der Produktentwicklung zugenommen hat. Der Ablauf von Hochphasen zum Jahresende und dem »Sommerloch«, wo wenig zu tun war, existiert – so ein Servicemitarbeiter – nicht mehr: »Das gibt es nicht mehr, jetzt ist Jahreswechsel-Stress und das ganze Jahr Stress, so Grundtendenz in der Firma.«

2.2 Zeit- und Leistungsdruck: Ursachen

Zur Entstehung des objektiven Leistungsproblems tragen in den beiden Fallbetrieben das Zusammenwirken von insbesondere vier Bedingungen bei: Beide Unternehmen sind erstens mit hohen Anforderungen der Kunden an die Qualität der Produkte, aber auch an die Qualität der Kundenbetreuung konfrontiert. Sie haben es mit anspruchsvolle(re)n Kunden zu tun, aber auch mit einer zunehmenden Komplexität der Produkte. Dies gilt für die Geräte des Entwicklungsfalls, aber auch für die Softwareprodukte des Servicefalls, die z. B. mehr Optionen für die Oberflächengestaltung durch die Kunden haben sollen. Zweitens berichten die Experten, die Führungskräfte und auch die Beschäftigten von einer umfassenden Beschleunigung der Innovationszyklen, der Organisationsentwicklung, aber auch der Arbeit selbst. Drittens sind beide Fallbetriebe hochkomplexe Organisationen mit einer Vielzahl von Schnittstellen und Kooperationsbezügen. So sind an Entwicklungsprojekten meist mehrere Teilprojekte beteiligt und darüber hinaus auch noch der Einkauf, der technische Service, das Produktmanagement usw. Auch die Serviceorganisation weist eine hohe Komplexität auf: Verschiedene Servicelevels bilden mit unterschiedlichen Serviceangeboten und Produktgruppen eine nicht leicht durchschaubare Matrix. Insbesondere im Fall der Entwicklung erhöhen zusätzlich ausländische Standorte und eine globale Kundenstruktur die Komplexität beträchtlich. Und viertens reichen in beiden Unternehmen die Personalressourcen regelmäßig nicht aus, um die Leistungserwartungen vollumfänglich zu erfüllen. Auch wenn beide Unternehmen aufgrund ihrer Eigentümerstruktur nicht so renditegetrieben sind wie wohl manche Aktiengesellschaft, müssen sie doch Rendite erwirtschaften und dies mit relativ hochpreisigen Produkten auf umkämpften Märkten. Beide Unternehmen »leben« von der hohen Qualität ihrer Produkte und der Qualität der Kundenbetreuung, müssen aber natürlich auch darauf achten, dass die Kosten nicht aus dem Ruder laufen. Das objektive Leistungsproblem entsteht, kurz gesagt, dadurch, dass hohe qualitative Anforderungen im Rahmen komplexer Prozesse und Organisationsstrukturen mit unzureichenden Ressourcen bearbeitet werden müssen. Es entsteht durch die – temporäre oder dauerhafte – Unvereinbarkeit bzw. Widersprüchlichkeit von Anforderungen, durch die Unerfüllbarkeit mindestens einer der verschiedenen Leistungsanforderungen (Termine, Qualität, Kosten, Kundenzufriedenheit u. a.). In der Folge sind die Leistungsversprechungen, die die Unternehmen dem Markt oder den Kunden gegenüber machen, mit den gegebenen Ressourcen allein nicht (immer) oder nicht in vollem Umfang einzuhalten. Die Maßnahmen der Unternehmen – Prozesse werden optimiert, Kosten gesenkt, Synergien gesucht (und gefunden), Personal eingestellt, Externe und Leiharbeitskräfte beschäftigt usw. – reichen aber ganz offensichtlich nicht aus, um die Lücke gänzlich zu schließen – teilweise wird sie sogar größer.

Diese Leistungslücke müssen nicht zuletzt die Beschäftigten schließen: durch Mehrarbeit, wenn es nötig ist, durch schnelleres Arbeiten, durch Verzicht auf Pausen, Abstriche bei der Qualität, durch Priorisieren usw. – eben nicht mit »normaler« Leistung, sondern durch eine erhöhte Leistungsverausgabung. Dass die Beschäftigten das dann auch tun, also mit einer erhöhten Leistungsbereitschaft und Leistungsverausgabung reagieren, setzt voraus, dass sie sich das unternehmerische Leistungsproblem aneignen, es zu ihrem eigenen Problem machen. Und das tun die von uns befragten Beschäftigten in einer Weise, dass (ihnen selbst) am Ende gar nicht mehr klar ist, ob man sich den Stress oder Druck nicht vor allem selbst macht. Aber warum tun sie das? Auf der Basis der Untersuchung lassen sich drei Antworten geben:

Erstens sind in beiden Fallbetrieben unerreichbare oder herausfordernde Ziele keine Seltenheit und für die Begründung dieser Situation werden Sachargumente angeführt (Engpässe, Kundenanforderungen, Kostendruck etc.), die von den meisten Beschäftigten auch akzeptiert werden. Die Leistungslücke ist damit ein legitimes, von den Beschäftigten akzeptiertes unternehmerisches Problem. Zweitens sehen sich die Beschäftigten in beiden Fallbetrieben in der Verantwortung für die Service- bzw. Produktqualität. An dieser Verantwortung halten sie auch fest, weil sie den Kern ihrer arbeitsinhaltlichen Orientierung und auch ihres Selbstbewusstseins ausmacht (vgl. dazu auch Nies 2015). Selbst wenn die Beschäftigten sich das unternehmerische Problem nicht unmittelbar aneignen, eignen sie es sich doch mittelbar an, weil sie prinzipiell selbst bestrebt sind, ihren eigenen Anspruch und den ihrer Leistungsabnehmer in dem durch die begrenzten Ressourcen enger gesteckten Rahmen zu erfüllen. Drittens – und nicht zuletzt: In ihrem Bemühen, trotz begrenzter Ressourcen die Leistungserwartungen zu erfüllen, stehen die Beschäftigten unter ständiger und eben auch intensivierter Beobachtung«:Footnote 3 Zum einen, weil mit der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitsprozesse immer mehr Daten zur Verfügung stehen, die auch Auskunft über die individuelle Leistung geben (etwa zum Projektstatus, zur Erreichbarkeit etc.); zum anderen, weil mit der wachsenden Komplexität der Organisationen die Zahl der Schnittstellen steigt – und damit auch die Zahl der Abnehmer und/oder Beobachter der eigenen Leistung. Dass die gestiegene Beobachtbarkeit die Beschäftigten oft zusätzlich unter Druck setzt, wurde in den Fallanalysen ebenso deutlich wie der Umstand, dass mit steigendem Mengen-, Qualitäts- und Koordinationsdruck auch die Beobachtungsintensität ansteigt: Droht sich die Auslieferung des Produkts zu verzögern oder sinkt die Erreichbarkeit des Service, steigt, wie es hieß, die »Management Attention« und erzeugt zusätzlichen Druck. Diese Mischung aus einer systematischen »Leistungslücke«, einem transparenten unternehmerischen Problem, einer hohen intrinsischen Motivation sowie einer verstärkten Beobachtungsintensität ist typisch für neue Formen der Leistungssteuerung (vgl. dazu Kratzer u. Nies 2009; Menz 2009; Kratzer et al. 2015).

Es drängt sich der Eindruck auf, dass »unerfüllbare« oder »ehrgeizige« Ziele, »optimistische Planungen« etc. kein »Fehler im System« sind, sondern Ergebnis des Versuchs, eine bestimmte Leistung zu vertretbaren Kosten anzubieten. In der Folge steigt der Druck auf und für die Beschäftigten, weil das Verhältnis von (steigenden) Anforderungen und (begrenzten) Ressourcen (Beschäftigte, Zeit) nicht stimmt und dann auch die unterschiedlichen Anforderungen (Qualität, Zeit, Menge) zueinander in Widerspruch geraten. Zeit- und Leistungsdruck erfüllt dann aber eben auch eine wichtige Funktion zur Bewältigung betrieblicher Leistungsprobleme. Nur mit zumindest temporär immer wieder erhöhter Leistungsverausgabung lassen sich die betrieblichen Leistungsversprechen einlösen und systematisch angelegte Leistungsprobleme bearbeiten. Zeit- und Leistungsdruck ist aus betrieblicher Sicht eine Lösung für das systematisch angelegte Leistungsproblem.Footnote 4

2.3 Zeit- und Leistungsdruck: Folgen und Umgangsweisen

Zum Problem wird diese Lösung, auch für die Unternehmen, vor allem durch die Folgen: Den positiven Folgen – einer erhöhten Leistung und (teilweise) Erfolgserlebnissen – stehen ganz eindeutig negative Folgen gegenüber: Vor allem eine Arbeitssituation, die über längere Zeit hinweg durch Zeit- und Leistungsdruck geprägt ist, führt – so die Befragten – zu Qualitätsverlusten (und zwar sowohl der Ergebnis- als auch der Arbeitsqualität), MotivationsproblemenFootnote 5 und negativen Folgen für Gesundheit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Wohlbefinden.

Welche subjektiven Folgen Zeit- und Leistungsdruck hat, hängt von einer Reihe von Bedingungen ab, nicht zuletzt auch von den Umgangsweisen der Beschäftigten und Führungskräfte mit dieser Situation. Insgesamt dominieren reaktive Umgangsweisen, d. h. es geht nicht darum, die Situation zu verändern, sondern möglichst gut mit ihr zurechtzukommen. Die befragten Beschäftigten und Führungskräfte reagieren sowohl in ihrer Lebens- als auch in ihrer Arbeitsweise:

Die Situation Zeit- und Leistungsdruck wird zum einen als private Herausforderung für den Erhalt der eigenen Leistungsfähigkeit wahrgenommen. Die meisten sehen die Verantwortung für die richtige Balance zwischen Anstrengen und Erholen vor allem bei sich selbst und suchen gezielt nach einem Ausgleich für die negativen Begleiterscheinungen von Zeit- und Leistungsdruck. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Sport, aber auch ein ausgeglichenes Privatleben, das man entsprechend vor den Belastungen der Arbeitswelt auch schützen muss.

Zeit- und Leistungsdruck ist aber auch eine Herausforderung für die Arbeitsweise. Wenn man mit einem transparenten, objektiven Leistungsproblem konfrontiert ist, muss man in irgendeiner Form reagieren (oder agieren). Und bei aller Vielfalt im Konkreten scheint es dabei zwei (ideal)typische – konträre – Umgangsweisen zu geben, die sich systematisch auf das Problem eines widersprüchlichen Verhältnisses von Anforderungen und Ressourcen beziehenFootnote 6:

»Perfektionismus«: Das Ziel dieser Umgangsweise ist hier, auch unter erschwerten Bedingungen möglichst alle Leistungserwartungen und insbesondere auch die eigenen Anforderungen an das Ergebnis, aber auch die Arbeitsqualität zu gewährleisten. Konfrontiert mit zu hohen quantitativen und/oder widersprüchlichen Anforderungen zielt die Umgangsweise »Perfektionismus« darauf ab, das Leistungsproblem durch die Anpassung der Ressourcen zu lösen: durch eine effizientere Arbeitsweise (»Selbstoptimierung«) und/oder durch die (Selbst-)Extensivierung der Arbeitszeit, indem länger – und häufig auch außerhalb der erfassten Arbeitszeit – gearbeitet wird.

Eine zweite, dazu konträre Umgangsweise bezeichnen wir als »Pragmatismus«: Während im Perfektionismus die Ressourcenseite flexibel ist, ist es im Pragmatismus die Anforderungsseite. Die Anpassung von Anforderungen und Ressourcen erfolgt hier über eine Absenkung der Anforderungen. Während man aber die eigenen Vorstellungen von Qualität selbst senken (oder erhöhen) kann, entziehen sich die fremdgesetzten Anforderungen, also die betrieblichen Vorgaben im Hinblick auf Menge, Zeit, Qualität u. ä., auch in unseren Fallbetrieben weitgehend der subjektiven Einflussnahme: Hier geht es dann vor allem auch um eine Anpassung der Haltung zur Arbeit: Pragmatismus funktioniert bei überfordernden fremdgesetzten Anforderungen nur dann, wenn man sich zumindest teilweise der Aneignung des betrieblichen Leistungsproblems verweigert. Das Credo dieser Umgangsweise lautet: »Mehr als Arbeiten kann man nicht« (Servicemitarbeiter).

»Perfektionismus« und »Pragmatismus« sind empirisch vorfindbare Typen des unterschiedlichen Umgangs mit einem Missverhältnis von Anforderungen und Ressourcen – und keine Personentypen. Personentypen (das wären dann »Perfektionisten« und »Pragmatiker«) und Typen von Umgangsweisen weisen einige Entsprechungen auf, deckungsgleich sind sie aber eben nicht: Im Sample gibt es einige eindeutige »Perfektionisten« und genauso klare »Pragmatiker«, aber es gibt auch spezifische Dynamiken: Einige der Befragten berichten darüber, dass sie ihre Umgangsweise verändert haben, wobei die Richtung zumeist vom Perfektionismus zum Pragmatismus weist. Perfektionismus und Pragmatismus sind nicht nur Umgangsweisen der Person, sondern auch Umgangsweisen der Organisation – die in einem ungeklärten Verhältnis zueinander stehen: Erwünscht ist von den Beschäftigten sowohl Perfektionismus als auch Pragmatismus, und zwar Perfektionismus insbesondere im Hinblick auf die qualitativen Anforderungen und Pragmatismus im Hinblick auf die betriebswirtschaftlichen Anforderungen. Die Widersprüchlichkeit der Anforderungen verdoppelt sich in einer widersprüchlichen Anforderung an die Umgangsweise der Subjekte – auch deshalb sind die »Realtypen« von Umgangsweisen kaum jemals konsequent »perfektionistisch« oder »pragmatisch«, sondern zumeist eine Mischung aus beidem.

Die Spielräume für unterschiedliche Umgangsweisen sind nicht nur personenabhängig, sondern variieren auch je nach der jeweiligen Tätigkeit und der Leistungskultur des Bereichs. Deutlich wird das daran, dass es im Servicefall mehr Befragte gab, denen wir eine eher »pragmatische« Umgangsweise zuschreiben als im Fall der Entwicklung.

Unsere Befunde lassen erahnen, dass »Perfektionismus« und »Pragmatismus« mit unterschiedlichen Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden verbunden sind. »Pragmatismus« dürfte die gesündere Umgangsweise mit Zeit- und Leistungsdruck sein, während dem »Perfektionismus« die Gefahr der Selbstüberforderung bzw. »interessierten Selbstgefährdung« (Peters 2011) – und angesichts unerfüllbarer Leistungsanforderungen auch der Enttäuschung und des Scheiterns – inhärent ist. Hochproblematisch ist, dass »Perfektionismus« eine legitime und auch geforderte Umgangsweise ist (siehe oben), dass aber die möglichen negativen Folgen offensichtlich eher individualisiert werden. Scheitert jemand mit einer perfektionistischen Umgangsweise oder fällt gar krankheitsbedingt aus, dann kann ihm Perfektionismus durchaus auch implizit vorgeworfen werden – mit der Folge, dass eine an sich legitime Umgangsweise im Einzelfall für »falsch« erklärt und die »Schuld« letztlich beim Betroffenen gesehen wird.

Diese beiden idealtypischen Umgangsweisen sind nicht nur in empirischer Hinsicht bedeutsam, sie erfahren auch eine logische Bestätigung durch die Art und Weise, wie die Unternehmen mit »ihrem« Leistungsproblem umgehen. Wenn die Bearbeitung der »Leistungslücke« auch dadurch erfolgen soll, dass sich die Beschäftigten das unternehmerische Problem tendenziell unerfüllbarer Leistungsversprechen aneignen und in der Folge als eigenes, d. h. subjektives Leistungsproblem betrachten, das sie nur mit einer erhöhten Leistungsbereitschaft und Leistungsverausgabung bewältigen können, dann folgt daraus zweierlei: Erstens ist Zeit- und Leistungsdruck dann aus Sicht des Unternehmens zunächst kein zu bearbeitendes Problem, sondern im Gegenteil eine potenzielle Lösung für das Problem unerfüllbarer Leistungsanforderungen. Zum Problem für die Unternehmen wird Zeit- und Leistungsdruck dann erst über die negativen Folgen (v. a. Qualitätsprobleme, Gesundheitsprobleme). Zweitens: Wenn der subjektiv wahrgenommene Zeit- und Leistungsdruck eine Folge der Aneignung des betrieblichen Leistungsproblems durch die Subjekte ist, dann ist »Pragmatismus« als partiell verweigerte Aneignung tatsächlich – und eben: logisch – auch eine wirksame Entlastungsstrategie.

3 Unternehmenskulturelle Bausteine zur gesundheitsförderlichen Gestaltung von Zeit- und Leistungsdruck

Unternehmen (zumindest die allermeisten) haben ein großes Interesse daran, dass ihre Mitarbeiter auch langfristig gesund und leistungsfähig sind. Allerdings haben sie auch ein großes (und naturgemäß oft noch größeres) Interesse daran, ihren Kunden konkurrenzfähige Leistungen zu versprechen und das zu Kosten, bei denen sich Gewinne erzielen lassen. Infolge steigender Anforderungen und begrenzter Ressourcen entsteht dann aber oft eine »Leistungslücke«. Diese Leistungslücke erzeugt ein Leistungsproblem, das die Beschäftigten als Zeit- und Leistungsdruck wahrnehmen und erleben. Zeit- und Leistungsdruck ist, wie gesehen, somit eine »Lösung« für die Bewältigung dieser Leistungslücke – offensichtlich durchaus erfolgreich, aber eben auch hochproblematisch: Es drohen Qualitätsverluste, Demotivation und Überlastung.Footnote 7

Aber so problematisch Zeit- und Leistungsdruck ist, »abschaffen« lässt er sich wohl nicht. Oder jedenfalls nicht so einfach, weil Unternehmen dann entweder die versprochenen Leistungen nicht mehr liefern können oder die Erträge sinken. Die Frage ist deshalb, wie sich Zeit- und Leistungsdruck so gestalten lässt, dass sich die damit verbundene – eindeutige – Gefährdung für die Qualität, die Motivation, Vereinbarkeit, Gesundheit und das Wohlbefinden der Beschäftigten wenigstens einigermaßen begrenzen lässt.

Natürlich muss es dabei in erster Linie darum gehen, die geschilderten Verhältnisse möglichst so zu gestalten, dass Beschäftigte nicht immer wieder – und wohl auch immer häufiger – mit einem Missverhältnis von Anforderungen und Ressourcen konfrontiert sind, das sie beinahe automatisch in die schwierige Situation bringt, mit einer »normalen« Leistung die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllen zu können und am Ende selbst – Stichwort: »Interessierte Selbstgefährdung« (Peters 2011) – gegen die Richtlinien einer gesunden Arbeitsweise zu verstoßen. Gefragt ist in erster Linie eine »realistischere« Planung bzw. eine «balanceorientierte Leistungspolitik«, die das Verhältnis von Anforderungen und Ressourcen selbst zum Gegenstand einer gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung macht (vgl. dazu Kratzer et al. 2015).Footnote 8

Aber auch die Unternehmenskultur kann einen Beitrag zur Begrenzung der Gefahr einer »systematischen Überlastung« leisten. Wenig hilfreich ist dafür allerdings die Formulierung allgemeiner Leitsätze etwa zum »wertschätzenden Umgang« und dem »nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen«. Was das in der Praxis konkret heißen soll, bleibt oft unklar – eine Handlungsorientierung ist damit kaum zu vermitteln. Ebenfalls wenig hilfreich ist es, eine mehr oder weniger ausschließlich auf das Verhalten der Beschäftigten gerichtete »Gesundheitskultur« zu propagieren: Der Appell, sich in- und außerhalb der Arbeit gesundheitsbewusst(er) zu verhalten, erzeugt nicht nur zusätzlichen Druck, er unterstellt auch implizit, dass die Beschäftigten und ihr Verhalten das wesentliche Problem darstellen und individualisiert so strukturelle Probleme (vgl. dazu auch Kölker u. Bittlingmayer 2013).

Hilfreicher erscheint es hier, gerade nicht davon auszugehen, dass Leistungsanforderungen und Gesundheit prinzipiell gut zusammengehen und auch nicht davon, dass das Problem vor allem die Beschäftigten sind. In einer Arbeitssituation, die durch eine systematische Diskrepanz zwischen Anforderungen und Ressourcen gekennzeichnet ist (so etwa die typische »optimistische« Projektplanung)Footnote 9, muss eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur Bewertungs- und Handlungsorientierungen für diese Situation einer »systematischen Überlastung« (vgl. dazu Kratzer et al. 2011; Kratzer et al. 2015) bieten. Genau das zeichnet eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur in Zeiten wachsender psychischer Belastungen aus.

Wir wollen im Folgenden die zwei Bausteine einer Kultur des (immer möglichen) Scheiterns kurz umreißen. Der erste Baustein zielt auf die Ebene der organisationalen Beobachtung und Bewertung von Leistung. Im zweiten Baustein geht es dagegen um die Umgangs- bzw. Arbeitsweisen von Beschäftigten und Führungskräften:

3 1. Gesundes Scheitern: Wenn Scheitern immer möglich ist, dann muss Scheitern auch erlaubt sein

Eine Kultur des »gesunden Scheiterns« geht davon aus, dass angesichts der Diskrepanz von steigenden Anforderungen und begrenzten Ressourcen die vollumfängliche Erfüllung aller Leistungserwartungen eher die Ausnahme als die Regel ist. Eine solche Kultur ist das Gegenmodell zur dominanten »Erfolgskultur« (Neckel 2008) – und wäre in den Betrieben auch ein Gegenmodell zur üblichen Praxis. Die »Erfolgskultur« in vielen Unternehmen hat dazu geführt, dass das tatsächliche Scheitern durch Herumtaktieren, Zahlenspielereien und Manipulationen so lange wie möglich verdeckt wird. Ein aktuelles und besonders spektakuläres Beispiel ist der VW-Abgasskandal: »Grund für die Manipulation …«, so das Manager Magazin unter Berufung auf Insider, »…sei gewesen, dass die vom inzwischen zurückgetretenen VW-Chef Martin Winterkorn gesteckten Ziele nicht mit legalen Mitteln hätten erreicht werden können« (Manager Magazin 2015). Und in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung: »Nach Angaben eines der Mitwirkenden habe es sich um eine Art ‚Verzweiflungstat‘ gehandelt. Im Konzern habe das Klima geherrscht: Wir können alles; dass etwas nicht geht, gibt es nicht.« (Mascolo u. Ott 2016, S. 27). Solche spektakulären Beispiele für die Auswüchse der »Erfolgskultur« gibt es einige (z. B. aus Banken im Zuge der Finanzkrise 2008/2009), aber es gibt eben auch – und auch in den von uns untersuchten Betrieben – die Praxis des (wie es oft heißt) »kreativen« Umgangs mit Vorgaben und PlanungenFootnote 10: Ein solcher Umgang reduziert den Erfolgsdruck, stabilisiert und reproduziert aber letztlich die »Erfolgskultur« und führt – siehe VW – zur zunehmenden Entkoppelung betrieblicher Parallelwelten: Hier eine Welt der Erfolgsmeldungen und Planzahlen, dort eine Welt des »Muddling Through«. Die »offizielle« Anerkennung des (immer möglichen) Scheiterns würde demgegenüber den Druck verringern, trotz schwieriger Bedingungen unter allen Umständen erfolgreich sein zu müssen, würde mehr Ehrlichkeit und Transparenz (und damit auch bessere Planzahlen) bedeuten und nicht zuletzt Zeit sparen, die man ansonsten allein für den »strategischen« Umgang mit unerreichbaren Zielen bräuchte.

3 2. Perfektionismus ermöglichen, Pragmatismus legitimieren

Wie gesehen lassen sich empirisch und »logisch« zwei idealtypische Umgangsweisen mit dem Problem eines Missverhältnisses von Anforderungen und Ressourcen erkennen: Beim »Perfektionismus« versuchen Beschäftigte und Führungskräfte, ihre Ressourcen den gestiegenen Anforderungen anzupassen – nicht selten auch auf Kosten ihrer Gesundheit und ihres Privatlebens. »Pragmatismus« beinhaltet dagegen, die Anforderungen den Ressourcen anzupassen. Während der »Perfektionismus« eher in der Linie offizieller Unternehmenskulturen liegt – den Kunden werden schließlich »maßgeschneiderte Lösungen« auf »höchstem Niveau« versprochen, entspricht der »Pragmatismus« eher der gelebten Kultur. Das Problem ist nun erstens, dass zwar Pragmatismus die realistischere – und so wie es aussieht auch gesündere – Umgangsweise ist, Unternehmen aber beides brauchen: Perfektionismus und Pragmatismus. Perfektionismus gilt allerdings nur solange als die richtige (und auch lobenswerte) Umgangsweise, bis es am Ende ein gutes Ergebnis gibt und die Betroffenen nicht daran zerbrechen. Ist das jedoch der Fall, wird Perfektionismus, wie wir in unserer Empirie sehen konnten, zur individuellen Unfähigkeit erklärt, sich mit den Realitäten (hoher Anforderungen bei knappen Ressourcen) arrangieren zu können. Das Problem ist zweitens, dass Pragmatismus eine überaus gängige Umgangsweise in der Praxis ist – dass diese Umgangsweise aber eine Eskalationsstrategie ist, die erst dann eine gewisse Legitimation erhält, wenn endgültig klar ist, dass man die Ziele nicht vollumfänglich erreichen können wird. Auch dann begegnen sich Führungskräfte und Beschäftigte häufig in einer Grauzone nur halb legitimierten Handelns. Drittens mag Pragmatismus zielführend und realistisch sein, er befreit einen jedoch nur begrenzt aus seiner Not: Die Beschäftigten sind dann selbst mit dem Ergebnis unzufrieden – und der Kunde ist es in der Regel auch. Wichtig wäre hier eine Kultur, die zum einen die Widersprüchlichkeit der Lösung widersprüchlicher Verhältnisse aufgreift und Leitlinien für eine bessere Balance von Perfektionismus und PragmatismusFootnote 11 bereithält (auch Perfektionismus muss möglich sein!) und die zum anderen den Pragmatismus aus der Schmuddelecke nur halb legitimer Notstrategien befreit und zu einer absolut legitimen Umgangsweise erklärt.

Diese beiden Bausteine einer gesundheitsförderlichen Unternehmenskultur sind weniger revolutionär als sie womöglich erscheinen: Sie sind auch heute schon Teil der gelebten Kultur, mit »unrealistischen« Zielen zurechtzukommen. Das immer mögliche Scheitern heißt dann »Fehlertoleranz«, der Pragmatismus steckt schon in der oft geäußerten »80-Prozent-Lösung«. Unsere Fallbetriebe sind in dieser Hinsicht nicht nur gute Beispiele für systematisch erzeugte Leistungsprobleme, sondern auch für eine – positive – Kultur des Umgangs mit unrealistischen Zielen. So berichten etwa die Entwickler darüber, dass eine Zielverfehlung keine unmittelbaren Konsequenzen hat und es auf Seiten der Vorgesetzten viel Verständnis für durch technische Probleme bedingte Verzögerungen gibt. Schon etwas revolutionärer wäre es aber, diese implizite Kultur des Umgangs mit systematischer Überlastung auch zu explizieren, weil das eben auch hieße, offiziell anzuerkennen, dass Anforderungen und Ressourcen nicht immer oder nicht so einfach zusammengehen und Scheitern immer möglich, manchmal auch unausweichlich ist. Man kann auf der Unternehmensebene natürlich schlecht das »Scheitern« zum Unternehmensziel erheben, aber vielleicht doch realistischere Erwartungen formulieren (und dazu gehört dann eben auch die Erwartung, dass sich u. U. nicht alle Ziele erreichen lassen werden) – und im Gegenzug darauf verzichten, unrealitische Zielvorstellungen mit Sportmetaphern (»sportliche Ziele« etc.) auf der Erfolgs(kultur)schiene halten zu wollen. Und auf der Arbeitsebene ginge es eben darum, von vornherein abzuschätzen, ob die Ziele erreichbar sind, und dann darauf bezogene Handlungsorientierungen zu vermitteln. So hielt etwa eine Führungskraft im Fall »IT-Service« die vorgegebenen Erreichbarkeitsziele für unrealistisch und hat offen – nach oben wie nach unten – kommuniziert, dass diese Ziele für ihre Bewertung der Leistung keine Relevanz haben. Mit einer expliziteren Thematisierung der Möglichkeit des Scheiterns und der Notwendigkeit des Pragmatismus würde nicht nur die bisherige Praxis kulturell legitimiert, sondern wäre auch die Grundlage geschaffen für einen betrieblichen Dialog über die Erreichbarkeit von Zielen und den Umgang mit unerreichbaren Zielen – auch und gerade mit den Führungskräften der untersten Ebene und den Beschäftigten.

Angesichts einer zunehmend systematischen Überlastung zeichnet sich, so das Fazit, eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur gerade dadurch aus, dass sie legitime Handlungsorientierungen für den Umgang mit unrealistischen Leistungserwartungen bereitstellt. Unternehmen brauchen nicht nur eine Erfolgskultur, sondern auch eine Kultur des »gesunden Scheiterns«.