1.1 Humanoide Ansätze in der Pflegerobotik am Beispiel „Rhoni“

Das Projekt „Rhoni“ beschäftigt sich mit der Konzeption und dem Aufbau eines humanoiden Roboters (Fervers und Esper 2016). Die Idee ist, einen menschenähnlichen Roboter zu entwickeln, der zukünftig einfache Handgriffe in Haushalt und Pflege übernehmen soll: beim Aufstehen und Anziehen helfen, aufräumen oder ein Teil aus dem Küchenregal holen. Dabei ist nicht der Ersatz von stationärer Pflege durch Roboter im Fokus, sondern es geht vielmehr um Entlastung des Personals durch Übernahme unterstützender Tätigkeiten: Wäschesäcke wegbringen, Essen oder Medikamente verteilen, Mülleimer leeren, Akten transportieren oder Getränke holen. Eine Chance für Senioren und behinderte Menschen, länger selbstständig in ihren eigenen vier Wänden zu bleiben. Die Konstruktion einer Skelettstruktur nach Vorbild des Menschen soll die Akzeptanz der Maschine erhöhen. Daneben sollen verhaltensorientierte „soziale“ Eigenschaften wie Intelligenz, Autonomie und Lernfähigkeit erreicht werden. Abb. 1.1 zeigt den Prototypen Rhoni mit einer Größe von 1,90 m und einem Gewicht von 80 kg. Es sind 54 Gelenke und Antriebe verbaut.

Abb. 1.1
figure 1

(Eigene Darstellung 2018)

Prototyp Rhoni: Humanoider Roboter an der HS Niederrhein.

Trotz intensiver Arbeit an dem Projekt sind viele Ziele noch nicht erreicht. Als Lessons Learned lassen sich aus unseren Forschungen jedoch bereits einige Thesen formulieren:

  • Das Gesamtsystem eines humanoiden Roboters ist außerordentlich komplex, die Einarbeitung von Bedien- und Wartungspersonal ist (bereits im Laborbetrieb) sehr schwierig.

  • Die Fehleranfälligkeit ist sehr hoch. Entsprechend hoch ist auch der Aufwand für Instandhaltungs- und Wartungsarbeiten.

  • Insbesondere die Bedienerschnittstelle ist problematisch. Die Bediener sind (bereits im Laborbetrieb) oft überfordert, da Checklisten und Schaltreihenfolgen unbedingt zu beachten sind. Pflegebedürftige Menschen sind mit der Bedienerschnittstelle überfordert. Das Problem der Mensch-Maschine-Kommunikation ist für humanoide Roboter noch ungelöst.

  • Bewegungen des humanoiden Roboters sind fest einprogrammiert und wenig sensorisch unterstützt. Es gibt keine Varianten im Bewegungsablauf oder autonome Bewegungen, die nicht vom Programmierer vorgesehen sind.

  • Der humanoide Roboter kann keine autonomen Entscheidungen treffen. Es ist ein maschinenbauliches Projekt und informationstechnische Verfahren sind daher bislang nur rudimentär abgebildet. Echte Autonomie erfordert leistungsstarke künstliche Intelligenz und lernbasierte Verfahren.

  • Schutzmechanismen sind keine vorhanden. Im Laborbetrieb wird die Sicherheit durch Doppelbesetzung und aktive Kontrolle hergestellt. Eine Zertifizierung nach aktuellen Normen und Gefährdungsanalyse ist ausgeschlossen.

  • Die dynamischen Prozesse der Bewegung sind kaum beherrschbar. Ein humanoider Roboter ist beim Schreiten nicht in der Lage, unbekannten Hindernissen auszuweichen, und ist daher ständig in Gefahr, umzufallen.

Rhoni ist eine Forschungs- und Experimentierplattform und wird im Rahmen der technischen Ausbildung an der Hochschule Niederrhein gern und viel genutzt. Nach heutigem Stand der Technik ist das humanoide Konzept für Pflegeanwendungen jedoch nicht einsetzbar.

1.2 Roboter als technische Assistenzsysteme

In vielen Lebensbereichen ist eine zunehmende Verbindung zwischen Mensch und Technik zu beobachten. Beispiele sind elektronische Geräte der Kommunikationstechnik, zum Beispiel Smartphones, aber auch technische Unterstützungssysteme im Haushalt und vieles mehr. Dabei kann ein stetiger Veränderungsprozess beobachtet werden: Mensch und Technik verbinden sich immer mehr, technische Systeme werden im Umfeld des Menschen immer bedeutsamer.

Entlang dieses Entwicklungsstrangs können folgende zwei verschiedene Arten von Unterstützungssystemen voneinander abgegrenzt werden:

  • Technische Systeme, die eine Person substituieren und dadurch zu einer Entlastung führen. Hierbei führt die Technik die Aufgabe für den Menschen aus.

  • Technische Systeme, die den Menschen bei der Ausführung seiner Aufgaben unterstützen, ohne ihn dabei zu ersetzen. Hierbei behält der Mensch die Kontrolle über die Abläufe und wird durch die Technik unterstützt.

Nach Wulfsberg et al. (2015) können kollaborierende Roboter weder der einen noch der anderen Gruppe zugeordnet werden. Es handelt sich um Systeme, die dem Menschen Aufgaben abnehmen können und sollen, die anstrengend sind, ungern gemacht werden oder sich negativ auf die Gesundheit auswirken können. Sie sind jedoch nicht dazu gedacht, den Menschen vollständig zu substituieren, sondern sollen ihn unterstützen. Der Mensch behält dabei zu jedem Zeitpunkt die Kontrolle. Die Mensch-Roboter-Kollaboration wird damit genau zwischen den zwei beschriebenen Bereichen angeordnet.

1.3 Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK)

Die Mensch-Roboter-Kollaboration (Abkürzung: MRK) wurde zunächst im industriellen Kontext eingeführt. Es ging dabei vorrangig darum, den Menschen mit seinen kognitiven Fähigkeiten als aktives Glied in der Fertigungskette zu erhalten. Qualität und Produktivität bei hoher Variantenvielfalt durch Automatisierung zu steigern, bei gleichzeitig älter und knapper werdendem Fachpersonal, erfordert es, neue Voraussetzungen für eine direkte Kooperation von Mensch und Roboter zu schaffen.

Bei MRK-Systemen gelten andere Sicherheitsanforderungen als bisher für Industrieroboter. Das Hauptprinzip der räumlichen Trennung von Mensch und Roboter wird aufgehoben. Die sicherheitstechnische Umsetzung von MRK-Systemen ist daher grundlegend neu zu bewerten. Die in der Sicherheitstechnik bisheriger Robotersysteme sehr oft eingesetzten Schutzzäune können in MRK-Systemen aus prinzipiellen Erwägungen der Kollaboration keine weitere Anwendung finden.

Im Gegensatz zum klassischen sechsachsigen Industrieroboter sind die meisten MRK-Systeme mit mehr als sechs Achsen ausgestattet. Als Beispiel sei hier der in unserem Labor vorhandene Kuka iiwa 14 R820 genannt (Kuka 2016), der über sieben Achsen entsprechend Abb. 1.2 verfügt. Auf der rechten Seite der Abbildung sind die Achsen A1 bis A7 dargestellt. Die linke Seite zeigt die unterschiedlichen Module des Roboters. Der Roboter ist mit einer zweiachsigen Zentralhand (1) ausgestattet. Die Motoren befinden sich in den Achsen A6 und A7. Im Inneren der Gelenkmodule (2) befinden sich die Antriebseinheiten. Die Antriebseinheiten sind über die Gelenkmodule miteinander verbunden. Das Grundgestell (3) unterhalb der Achse A1 ist die Basis des Roboters.

Abb. 1.2
figure 2

(Kuka 2016)

MRK-Roboter Kuka iiwa 14 R820.

Ein Roboter mit mehr als sechs Achsen ist kinematisch überbestimmt. Solche Roboter werden als redundant bezeichnet. Eine Rücktransformation für siebenachsige Roboter ist nicht ohne Einschränkungen möglich (Weber 2017). Jedoch bietet die Redundanz vielfältige Möglichkeiten und eine erweiterte Bewegungsfreiheit, die insbesondere in der MRK nützlich sind. Die Redundanz ermöglicht z. B., eine Positionsveränderung vorzunehmen, ohne dass sich dabei der Endeffektor im Raum bewegt. Sechsachsige Roboter bieten diese Funktion nicht, weil jede Achsbewegung hier aufgrund der direkten kinematischen Verknüpfung zwischen Achsstellung und Zielkoordinate immer auch die Position des Endeffektors verändert. Jedoch müssen in der MRK andere Programmierverfahren, die nicht ausschließlich auf mathematische Berechnungen angewiesen sind, Einsatz finden.

Insbesondere werden daher Anlernverfahren eingesetzt, diese werden in der Robotik als Teach-in-Programmierung bezeichnet. Hier wird der Roboter durch den Einrichter oder Bediener von Hand zu den einzelnen Positionen gefahren. Dieses Anfahren kann sowohl durch gezielte Bewegung einzelner Achsen erfolgen als auch durch kombinierte Bewegung mehrerer Achsen, z. B. um Linearbahnen zu erreichen. Entsprechende Funktionen stellt die Bedieneinheit dann zur Verfügung. Nach Erreichen der Zielposition werden die entsprechenden Positionskoordinaten in der Robotersteuerung gespeichert.

1.4 Taxonomien in MRK-Systemen

Entsprechend Tab. 1.1 werden drei verschiedene Formen der Interaktionen zwischen Mensch und Roboter unterschieden (Onnasch et al. 2016).

Tab. 1.1 Formen der Interaktionen zwischen Mensch und Roboter

Eine Klassifizierung kann auch über den gemeinsam genutzten Arbeitsraum definiert werden (Thiemermann 2004):

  • Arbeitsraum Roboter (AR):

    Der Arbeitsraum Roboter AR ist durch die Bewegungsfähigkeit und Reichweite des Roboters begrenzt. Zuführsysteme für die Handhabung sowie Peripheriegeräte des Roboters sind hier angeordnet.

  • Arbeitsraum Werker (AW):

    Der Arbeitsraum Werker AW ist der mit den Armen des Menschen erreichbare Raum in der MRK. Für eine Kollaboration ist eine Überschneidung mit AR sinnvoll und erforderlich.

  • Gemeinsamer Arbeitsraum (AG):

    Die räumliche Schnittmenge von AR und AW bildet den gemeinsamen Arbeitsraum AG. Dort findet die Bearbeitung am Werkstück statt. Beide Interaktionspartner haben im AG uneingeschränkten Zugriff auf das Werkstück, um es arbeitsteilig zu bearbeiten.

Tätigkeiten, die jeweils nur für einen der beiden Interaktionspartner Gültigkeit haben, wie z. B. die individuelle Materialbereitstellung, sollten idealerweise außerhalb des gemeinsamen Arbeitsraumes angeordnet sein.

1.5 Assistenzrobotik in der Pflege

Können Systeme aus der industriellen Mensch-Roboter-Kollaboration einen Ansatz für Assistenzsysteme in Pflegeinstitutionen liefern? Sind Roboter generell eine Option, das Pflegepersonal zu entlasten? Was könnte die Zukunft bringen und was ist bereits im Pflegealltag angekommen? Was wird in anderen Volkswirtschaften getan?

Ein Blick nach Japan zeigt, dass Robotertechnik tatsächlich zur Entlastung der Pflegekräfte eingesetzt werden kann. Keine andere Industrienation überaltert so schnell wie Japan, daher wurde hier schon frühzeitig Forschung an entsprechenden Systemen betrieben. Es existieren in japanischen Forschungseinrichtungen und Pilotinstallationen eine Reihe entsprechender Prototypen, jedoch hat sich selbst dort noch kein System wirklich durchsetzen können. Neben Hol- und Bringdiensten sind in der japanischen Forschung vor allem Systeme zum Heben, Tragen und Stützen von Pflegebedürftigen im Fokus. In Deutschland gibt es ebenfalls eine Reihe von Forschungsprojekten zu dem Thema Pflegeautomatisierung. Hier werden ebenfalls Hol- und Bringdienste automatisiert, jedoch fokussiert man eher auf die Unterstützung des Pflegepersonals. Autonome Pflegewagen sollen zum Beispiel das Personal stationärer Pflegeeinrichtungen unterstützen, indem Pflegeutensilien automatisch bereitgestellt werden. Der am Fraunhofer IPA entwickelte Care-O-bot kann daneben bereits einfache Assistenzfunktionen im häuslichen Umfeld übernehmen (Sorell und Draper 2014).

Für die Entwicklung von Assistenzsystemen in der Pflegeautomatisierung bietet sich auch die Verwendung der oben beschriebenen MRK-Roboter in einer pflegespezifischen Systemtechnik an. Im Gegensatz zu den bisherigen Forschungsansätzen besteht hier die Möglichkeit, auf technisch verfügbare, standardisierte und somit auch wirtschaftlich interessante Automatisierungssysteme zurückzugreifen. Im Bereich der MRK existiert zudem ein beträchtliches Know-how, das dann auch für Neuentwicklungen in anderen Anwendungsfeldern verfügbar wäre. Die bisher im Fokus der Pflegeautomatisierung stehenden Assistenzfunktionen wie Holen, Bereitstellen, Anreichen, Bringen sind zudem aus Anwendungen der industriellen Handhabungstechnik bereits bekannt und in vielfältigen Formen gelöst.

Die Gefährdung des Menschen muss ausgeschlossen werden, die Sicherheit hat unbedingte Priorität. Dies ist jedoch kein Dogma der Pflegeautomatisierung. Auch in den bisherigen Einsatzbereichen der MRK ist die Sicherheit für den Menschen jederzeit zu gewährleisten. Hier existieren zudem eine Reihe von Erfahrungen, Methoden und nicht zuletzt Vorschriften, die genau beschreiben, wie Betriebssicherheit festgelegt und gemessen wird. Wenn diese Erkenntnisse um Methoden des Human-Factor-Engineerings erweitert und die Mensch-Maschine-Schnittstellen auf die neuen Anwendungen adaptiert werden, dann steht z. B. einem Einsatz eines MRK-Roboterarms auf einem autonomen Pflegewagen nichts mehr im Wege.

1.6 Sicherheit und Gefährdungsbeurteilung

Beschaffenheit und Betrieb einer Anlage müssen dem Stand der Sicherheitstechnik entsprechen. Dies gilt sowohl für technische Vorkehrungen als auch organisatorische Maßnahmen. Der Stand der Sicherheitstechnik wird dabei wie folgt definiert: „Stand der Sicherheitstechnik [ist] der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen und Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zur Verhinderung von Störfällen oder zur Begrenzung ihrer Auswirkungen gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Standes der Sicherheitstechnik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg im Betrieb erprobt worden sind.“ (Umweltbundesamt 2011).

Für Roboteranlagen werden oft Kombinationen von Schutzmaßnahmen verwendet, die vom Konstrukteur in der Konstruktionsphase angebracht werden. Des Weiteren gibt es ebenfalls Verhaltensanforderungen, die dem Benutzer der Anlage auferlegt werden, sowie auch persönliche Schutzausrüstungen. Die vom Konstrukteur getroffenen Maßnahmen haben Vorrang vor allen anderen Maßnahmen, die vom Verwender zu treffen sind. In der EN ISO 12100 ist die systematische Vorgehensweise der Festlegung der Schutzmaßnahmen beschrieben. In der Drei-Stufen-Methode entsprechend Tab. 1.2 sind die Gefährdungen zunächst konstruktiv zu beseitigen (unmittelbare Sicherheitstechnik). Sofern dies nicht zur vollständigen Sicherung der Anlage führt, werden Schutzeinrichtungen verwendet. Hinweisende Maßnahmen wie Betriebsanleitungen werden nur dann benötigt, wenn sowohl konstruktive Maßnahmen als auch die verwendeten Schutzeinrichtungen nicht zur vollständigen Beseitigung der Gefahr führen (DGUV 2015).

Tab. 1.2 Drei-Stufen-Methode

1.7 Schadensbegrenzung

Ziel der Schadensbegrenzung ist es, die Verletzung im Falle einer Kollision auf das kleinste Maß zu reduzieren. Verletzungen beim kollaborierenden Betrieb können aus unterschiedlichen Gründen entstehen. Zum einen durch die unmittelbare Berührung, z. B. bei einem Stoß, zum anderen durch die scharfen Kanten des Werkzeugs, welches am Roboter befestigt wird. Außerdem besteht die Gefahr, dass bestimmte Körperregionen durch einen Greifer eingeklemmt werden können. In allen Kollisionsfällen gilt es, den Schaden möglichst gering zu halten.

Um das Verletzungsrisiko zu minimieren, müssen sicherheitstechnische Gestaltungsmaßnahmen am Roboter vorgenommen werden. Dazu gehören entsprechend Tab. 1.3 die Leistungsbegrenzung, die Nachgiebigkeit und eine Dämpfung an Kontaktstellen.

Tab. 1.3 Verletzungsmindernde Gestaltung in MRK-Anwendungen

1.7.1 Leistungsbegrenzung

Unter Leistungsbegrenzung versteht man eine reduzierte Leistungs- und Kraftwirkung. Diese wird durch die biomechanischen Grenzwerte festgelegt, die bei einem Kontakt zwischen Mensch und Roboter nicht überschritten werden dürfen. Darunter fällt die Kraft- und Druckeinwirkung auf den Menschen, die zudem möglichst gering zu halten ist.

Da sich der Mensch in unmittelbarer Nähe zum Roboter befindet, muss dieser langsamer fahren, um die Kraftwirkung zu begrenzen. Diese kann durch permanente Überwachung der Leistungsaufnahme der Antriebe seitens der Robotersteuerung realisiert werden (Spillner 2014).

1.7.2 Nachgiebigkeit

Unter den Begriff „Nachgiebigkeit“ fällt die plastische Verformung bestimmter Roboterteile im Fall einer Kollision. Dies kann mit speziellen elastischen Materialien erreicht werden, mit denen die Armglieder konstruiert oder ausgestattet werden. Zudem werden elastische Antriebe als Schutzkonzept vorgeschlagen (Spillner 2014); ein damit ausgerüsteter Roboter kann abtriebsseitig bei Kollisionen flexibel und elastisch reagieren.

Ein weiterer Ansatz der Nachgiebigkeit ist der Einbau von Sollbruchstellen. Neben dem MRK-Roboter selbst können die an dem Roboter befestigten Werkzeuge zu Verletzungen führen. Beispielsweise kann ein am Flansch montierter Greifer durch eventuell vorhandene Kanten den Menschen verwunden. Hier würde eine Bruchstelle an dem Gelenk des Greifers dazu führen, dass dieser abbricht, um eine weitere Verletzung zu verhindern. Dabei müsste bei der Kollision eine Kraft auf den Menschen wirken, welche die festgelegten biomechanischen Grenzwerte überschreitet. Das Ziel von Sollbruchstellen ist die Erhöhung der Sicherheit und die Minimierung der Verletzungsrisiken.

1.7.3 Dämpfung an Kontaktstellen

Unter Dämpfung an Kontaktstellen versteht man die äußerliche Abdeckung von spitzen, scharfen oder harten Oberflächen durch eine elastische Hülle. Dabei wird der Roboter so gestaltet, dass möglichst wenige Gefahrenstellen während einer Kollision auftreten können. Die elastische Hülle, die am Roboter angebracht wird, dient dazu, die gespeicherte kinetische Energie an exponierten Stellen des Roboters abzubauen. Diese Stellen können beispielsweise Bereiche im Umfeld der Achsen sein, da dort ein hohes Quetschrisiko besteht. Scharfe Kanten werden verdeckt und sicher gepolstert.

1.8 Betriebsarten in der Mensch-Roboter-Kollaboration

Die faktische Aufhebung des bisherigen Prinzips der räumlichen Trennung von Industrieroboter und Mensch durch MRK-Systeme erfordert eine genauere Betrachtung der jeweiligen Betriebsart, um die jeweiligen Sicherheitsanforderungen zu definieren. Für eine sichere MRK werden vier Betriebsarten abhängig vom Kollaborationsraum unterschieden (Barho et al. 2012).

1.8.1 Sicherheitsbewerteter überwachter Halt

Der Roboter hält bei Personenzutritt in den Kollaborationsraum sicher an. Sobald die Person den Kollaborationsraum verlässt, erfolgt ein automatischer Wiederanlauf des Roboters. Mensch und Roboter teilen sich den Kollaborationsraum, arbeiten dort aber nicht gleichzeitig. Ein Schutzzaun ist nicht erforderlich, allerdings muss eine Sensorik die Annäherung des Menschen automatisch erkennen. Der sicherheitsbewertete überwachte Halt eignet sich für die Interaktionsart Ko-Existenz. Die Betriebsart ist für viele industrielle Einsatzbereiche sinnvoll, jedoch für Anwendungen in der Pflegerobotik nur wenig geeignet.

1.8.2 Handführung mit reduzierter Geschwindigkeit

Der Roboter wird vom Bediener geführt, z. B. mittels eines Griffs, der direkt am Roboter montiert ist. Die Bewegungen und Kräfte, die der Mensch auf den Roboter ausübt, werden von Sensoren erfasst und in eine unmittelbare Bewegung des Roboters umgesetzt. Zur Erhöhung der Sicherheit wird die Geschwindigkeit des Roboters begrenzt. Die Handführung ist geeignet für die Interaktionsart Kooperation. Auch hier stehen eher industrielle Anwendungsbereiche im Fokus. Für Anwendungen in der Pflegerobotik ist diese Betriebsart nur bedingt geeignet.

1.8.3 Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung

Der Roboter hält bei Personenzutritt in den Kollaborationsraum nicht an. Die Sicherheit wird durch Abstand zum Roboter gewährleistet. Mensch und Roboter arbeiten gleichzeitig im Kollaborationsraum. Eine Sensorik überwacht dabei den Abstand zwischen Mensch und Roboter, die Geschwindigkeit des Roboters wird bei Annäherung verlangsamt. Ein Kontakt ist nicht erlaubt, bei Unterschreiten eines Mindestabstands wird ein sicherheitsbewerteter überwachter Halt ausgelöst. Eine Kollision wird damit ausgeschlossen. Die Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung eignet sich für die Interaktionsart Kooperation. Die Betriebsart ist auch für Anwendungen in der Pflegerobotik geeignet.

1.8.4 Leistungs- und Kraftbegrenzung

Hier erfolgt eine sensorische Überwachung bzw. eine Verlangsamung des Roboters vergleichbar mit den anderen Betriebsarten. Ein Kontakt zwischen Mensch und Roboter wird jedoch nicht ausgeschlossen. Das Gefährdungspotenzial des Roboters wird durch die Beschränkung seiner dynamischen Parameter auf ein akzeptables Maß reduziert. Dazu erfolgt eine Limitierung der maximalen Kraft des Roboters und der dynamischen Leistung, um Verletzungsfreiheit auch im Falle eines Kontaktes zu garantieren. Die Schwierigkeit liegt in der Definition verifizierter Leistungs- und Kraftgrenzwerte für Schmerz- und Verletzungseintrittsschwellen (Huelke et al. 2010). Die Leistungs- und Kraftbegrenzung ist geeignet für die Interaktionsart Kollaboration und für Anwendungen in der Pflegerobotik ideal.

Tab. 1.4 zeigt das aktuell gültige Schmerzschwellenkataster nach den Vorgaben der BG/BGIA (DGUV 2011). Es wird ein Körpermodell mit vier Körperhauptbereichen (KHB) und 15 Körpereinzelbereichen (KEB) innerhalb der KHB zugrunde gelegt. Damit lassen sich alle wesentlichen anthropometrischen Punkte der Körperoberfläche diesem Körpermodell zuordnen. Die Verletzungsschwere wird bezogen auf alle KEB durch folgende Verletzungskriterien erfasst:

Tab. 1.4 Schmerzschwellenkataster nach DGUV (2011)
  • Klemm-/Quetschkraft KQK, Einheit [N]

  • Stoßkraft STK, Einheit [N]

  • Druck/Flächenpressung DFP, Einheit [N/cm2]

Der in den KEB jeweils tolerierbare Verletzungsschwerebereich wird durch Einhaltung der Grenzwerte nicht überschritten. Für die KEB sind Kompressionskonstanten KK mit der Einheit [N/mm] angegeben, durch die der maximale Kompressionsweg der Körperbereiche bis zum Erreichen der Grenzwerte abgeschätzt werden kann. Hierbei wird ein lineares Verformungsverhalten angenommen.

In eine Risikoanalyse sind die Grenzwerte der Verletzungskriterien als einzuhaltende Anforderungswerte und die Werte der Kompressionskonstanten als Orientierungsgrößen für alle KEB mit Kollisionsrisiko einzubeziehen. Die Einhaltung der Grenzwerte für die betroffenen KEB muss nach Einrichtung eines Arbeitsplatzes im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung an relevanten Punkten der Kollisionsflächen überprüft werden.

1.9 Simulation unter Einbeziehung des Menschen

Die neue Methode der MRK erfordert ein spezielles Vorgehen in der Planung von Anlagen. Dazu wird eine Kombination aus realem Testumfeld und Simulator genutzt und als Full-Scope-Simulator bezeichnet. Dieses in der MRK neuartige Konzept soll im Folgenden beschrieben werden. Natürlich existieren bereits eine Vielzahl von Simulationsmethoden im Umfeld der Robotik. Diese beschränken sich jedoch, je nach Simulationstyp und Anwendungszweck, auf die Fragestellungen der Kinematik (z. B. Erreichbarkeit von Greifpositionen) oder Taktzeiten. Der Mensch ist in diesen Simulationen allenfalls als kinematisches Modell einer Ergonomiesimulation enthalten.

Insbesondere in der MRK gibt es jedoch auch eine Vielzahl von arbeitswissenschaftlichen und psychologischen Aspekten, die Gegenstand der Planung der MRK-Anlage sein sollten. Wie wird die Aufmerksamkeit des Bedieners auf eine bestimmte Situation fokussiert? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Gefährdungspotenzial, der in der Sicherheitsbetrachtung Relevanz hat? Solche und ähnliche Fragestellungen können mit den heutigen Simulatoren nicht oder nicht umfassend beantwortet werden. Daher werden im Full-Scope-Simulator der Hochschule Niederrhein Abläufe von MRK-Systemen einschließlich aller Bedienerfunktionen vollständig nachgebildet. Diese können dann mit einer beliebigen Anzahl von Probanden durchsimuliert werden. Im Folgenden werden zunächst einige Grundlagen der Simulation und Modellbildung erörtert, bevor dann ein Konzept der Full-Scope-Simulation aus einem anderen Technologiebereich beschrieben und teilweise übernommen wird.

1.9.1 Simulationstechnische Grundlagen

Tätigkeiten und Prozesse mit dem Ziel, ein Modell eines Realsystems zu entwerfen und anschließend Experimente mit diesem Modell durchzuführen, werden als Simulation bezeichnet. Dabei stehen sowohl das dynamische Verhalten des Realsystems als auch der Umgang und die Bedienung des Realsystems im Fokus der Untersuchungen.

Der Begriff der Simulation wird nach der VDI-Richtlinie 3633 folgendermaßen definiert: Simulation ist das Nachbilden eines dynamischen Prozesses in einem System mithilfe eines experimentierfähigen Modells, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die auf die Wirklichkeit übertragbar sind (VDI 2014). Im weiteren Sinne wird unter Simulation das Vorbereiten, Durchführen und Auswerten gezielter Experimente mit einem Simulationsmodell verstanden.

Simulationen und Modelle dienen der Wissenschaft und Forschung, um verallgemeinerbare Prinzipien und Prozesse in der Realität zu erkennen und diese zu untersuchen. Modelle existieren in den verschiedensten Varianten, von einer verkleinerten realistischen Darstellung des Originals bis zum kompletten Funktionsdiagramm. Dabei kann das Modell einem Computerprogramm entstammen oder auch aus Analogien sowie mathematischen Formeln bestehen. In realitätsgetreuen Simulatoren wird der Mensch als mitagierendes System mehr und mehr einbezogen (Bossel 1994).

1.9.2 Simulation in Automation und Robotik

Im Umfeld der Automatisierungstechnik werden seit vielen Jahren Simulationssysteme eingesetzt; dabei wird grundsätzlich zwischen diskreter und kontinuierlicher Simulation unterschieden (Law und Kelton 2000). Bei der diskreten Simulation verändern sich die Zustandsvariablen unmittelbar zu bestimmten Zeitpunkten. Bei der kontinuierlichen Simulation ändern sich die Zustandsvariablen kontinuierlich, unter Umständen können jedoch auch Sprungfunktionen enthalten sein. Während kontinuierliche Systeme zu jedem belieben Zeitpunkt definiert und messbar sind, z. B. die kontinuierliche Bewegung eines Pendels (Bossel 1994), sind die Systemzustände von diskreten Systemen deutlich voneinander abgegrenzt (Banks et al. 2010).

In den klassischen Anwendungsfeldern der Automatisierungstechnik findet man die kontinuierliche Simulation in Anwendungen der Mehrkörpersimulation. Diese wird zur Untersuchung des kinematischen Verhaltens von Systemen eingesetzt, die aus mehreren Komponenten (starren Körpern) bestehen. In einfacheren Systemen werden dabei lediglich die kinematischen Beziehungen der mathematischen Transformation in der Robotik dargestellt, z. B. um in der Arbeitsvorbereitung Roboterprogramme zu erstellen oder in der Anlagenplanung Robotersysteme auszulegen. Bisweilen werden auch äußere Kräfte und Momente und Masseträgheiten sowie die Reibung in Gelenken berücksichtigt. Solche Simulationssysteme werden z. B. bei der Konstruktion von mechatronischen Komponenten eingesetzt oder auch bei der virtuellen Inbetriebnahme von Roboteranlagen.

Die Einbeziehung des Menschen in der kontinuierlichen Simulation wird durch Ergonomiesimulatoren geleistet. Diese werden bei der Auslegung manueller Arbeitsplätze eingesetzt, um Greifbewegungen anhand eines Menschmodells zu studieren und ergonomisch zu optimieren. Das menschliche Bewegungsverhalten wird dabei ebenfalls mithilfe von Mehrkörpersystemen modelliert.

Diskrete Simulationssysteme reagieren auf Ereignisse oder Zeitpunkte. Sie werden eingesetzt, um z. B. logistische Ketten zu analysieren, Warteschlangen oder Lagerkapazitäten zu dimensionieren oder Antwortzeiten stochastischer Systeme zu prognostizieren. Bei der ereignisdiskreten Simulation erfolgen die Zustandsänderungen sprunghaft durch das Auftreten eines Ereignisses, wie z. B. das Eintreffen eines Sensorsignals (Banks et al. 2010). Die Einbeziehung des Menschen in diskreten Simulatoren wird ebenfalls über Ereignisse definiert, die z. B. ein Werker im Produktionsprozess zu leisten hat. Im Prinzip wird dabei mit Zeiten und Wahrscheinlichkeiten gearbeitet, die die Leistung des Werkers quantitativ in das Gesamtsystem übernehmen.

Die Einbeziehung des Menschen in den klassischen Simulatoren der Automatisierungstechnik und Robotik ist also gegeben, jedoch sehr stark auf die jeweilig zugrunde liegende Simulationsmethodik bezogen. Geht es in der kontinuierlichen Simulation um physikalische Aspekte wie Greifraumdimensionierung oder Geschwindigkeit der menschlichen Bewegung, so sind in der ereignisorientierten Simulation vor allem Taktzeiten und Ausfallwahrscheinlichkeiten gefragt. Arbeitspsychologische Erkenntnisse sind nicht, zumindest nicht direkt, aus diesen Simulationen ableitbar. Daher ist der Einsatz dieser Simulatoren in der MRK zwar sinnvoll, aber nicht ausreichend. Zur Planung, Auslegung und Programmierung von MRK-Systemen können kontinuierliche Simulatoren mit Ergonomiesimulation kombiniert werden. Die Integration von MRK-Systemen in Supply-Chain-Abläufe lässt sich mithilfe diskreter ereignisorientierter Simulatoren logistisch planen und optimieren.

Aussagen zur Verbesserung leistungsrelevanter arbeitswissenschaftlicher Parameter lassen sich mithilfe dieser Systeme jedoch nicht erzielen. Einen möglichen Ansatz zur Lösung dieser Problematik stellt die in der Kraftwerkstechnik verbreitete Methode der Full-Scope-Simulation dar.

1.9.3 Full-Scope-Simulation

Full-Scope-Simulatoren werden bislang ausschließlich in der Kraftwerkstechnik eingesetzt, dort insbesondere in der Nukleartechnik. Eine typische Definition aus der Literatur lautet wie folgt:

„A full scope simulator is a simulator incorporating detailed modeling of systems of Unit One with which the operator interfaces with the control room environment. The control room operating consoles are included. Such a simulator demonstrates expected plant response to normal and abnormal conditions“ (Licence-Document-1093 2006).

Demnach wird unter einem Full-Scope-Simulator ein Simulator verstanden, der das Verhalten der modellierten Referenzanlage (hier in der Fachsprache der Kraftwerkstechnik: Unit One) nachbildet, um die Interaktionen des Bedieners mit der Anlage zu untersuchen. Die Bedienelemente der Referenzanlage sind Bestandteil der Full-Scope-Simulation. Ein solcher Simulator wird eingesetzt, um Bediener im Umgang mit den regulären und irregulären Betriebszuständen der Anlage zu schulen.

Im Kraftwerksbetrieb wird eine ständige und effektive Schulung der Bediener gefordert. Dabei ist das Ziel, die Kraftwerke sicher und effizient zu betreiben. Viele wichtige Teile der Schulungsprogramme werden dabei durch solche Full-Scope-Simulatoren durchgeführt. Diese Schulungsprogramme sollen die Entscheidungsfähigkeit und Analysekompetenz der Bediener erhöhen und diese auf Probleme vorbereiten, die beim Betrieb der eigentlichen Anlage auftreten können (Tavira-Mondragon und Cruz-Cruz 2011). Full-Scope-Simulatoren sind dabei als ein effektives Werkzeug für die Bedienerschulung anerkannt und werden insbesondere für Kernkraftwerke eingesetzt.

Durch den Einsatz einer Vielzahl unterschiedlicher Mensch-Maschine-Schnittstellen wird der Mensch unmittelbar in die Abläufe der Simulation einbezogen. Darüber hinaus ergibt sich ein kausaler Zusammenhang zwischen den Handlungen des Menschen und den daraus resultierenden Systemzuständen. Zusätzlich zur Verbesserung der Bedienerleistung durch die Schulungsprogramme werden solche Simulatoren auch zur Verbesserung der Anlagen- und Personalsicherheit, der Zuverlässigkeit sowie zur Senkung der Betriebskosten eingesetzt. Full-Scope-Simulatoren werden oft auch zur Einarbeitung neuer Mitarbeiter, für die Personalentwicklung und für die Öffentlichkeitsarbeit der Betreiber verwendet. Daneben sind arbeitswissenschaftliche und psychologische Aspekte (Human Factors) Teil von Full-Scope-Simulationen. Dazu zählen Untersuchungen zu Wahrnehmung, Aufmerksamkeitssteuerung und Situation Awareness.

1.9.4 Human Factors und Situation Awareness

Die wissenschaftliche Disziplin Human Factors wird definiert als das Verständnis von Interaktionen zwischen dem Menschen und anderen Systemelementen. Darunter sind vor allem Methoden, Theorien und Prinzipien zu verstehen, die zur Optimierung des menschlichen Wohlbefindens und zu der Gesamtsystemleistung beitragen (Czaja und Nair 2012). Der Begriff „Human Factors“ ergibt sich aus den psychischen, kognitiven und sozialen Einflussfaktoren in soziotechnischen Systemen. Ein Schwerpunkt liegt im Design von Mensch-Maschine-Schnittstellen, insbesondere bei Sicherheitsfragen und psychologischen Aspekten (Badke-Schaub et al. 2012).

Durch den zunehmenden Automatisierungsgrad bekommen menschliche Fertigkeiten im System eine andere Rolle, zum Beispiel in Form von Kontrolltätigkeiten. Es stellt sich die Frage, welche Eigenschaften des Menschen, zum Beispiel in der Kooperation mit Robotern, berücksichtigt werden können und sollten. Dabei spielen unter anderem die Themen Umgebungsgestaltung, Aufgabenzuweisung und Verantwortlichkeiten eine wichtige Rolle.

Wahrnehmung ist eine bewusste sensorische Erfahrung (proximaler Reiz mit nachfolgender Informationsverarbeitung), die durch einen physikalischen, distalen Reiz hervorgerufen wird, z. B. Sehen, Hören, Schmecken und Riechen, Tast- und Schmerzsinne. Die Wahrnehmung kann danach beispielsweise ein auditiver bzw. visueller Prozess sein, wobei auch weitere Wahrnehmungskanäle in Betracht kommen können. Für die Wahrnehmung von Umweltreizen müssen diese auf ein Sinnesorgan treffen. Die Rezeptoren des Sinnesorgans wandeln die Reize in elektrische Signale um, die über Nervenbahnen an das Gehirn geschickt werden. Die von den Rezeptoren erzeugten Signale werden auf dem Weg zum Gehirn und im Gehirn selbst analysiert und verarbeitet, bis schließlich ein bewusstes Wahrnehmungserlebnis eintritt. Wahrnehmungsbeeinflussende Umweltfaktoren, die in einer Full-Scope-Simulation eine Rolle spielen könnten, sind u. a. Beleuchtung, Lärmexposition und Vibrationen.

Ein Blick in den menschlichen Wahrnehmungsprozess zeigt, dass am Ende der Informationsverarbeitung idealerweise umfassende mentale Modelle entstehen, die Situationswahrnehmungen ermöglichen. Von den einströmenden Reizen der Außenwelt werden nur diejenigen aufgenommen und dann handlungsrelevant, denen aus der Fülle der einströmenden Reize aufgrund von Erfahrung, Erwartung oder Einstellungen Aufmerksamkeit gewidmet wird (Wenninger 1991). Der Prozess, wie Personen eine große Menge an Informationen wahrnehmen und geistig repräsentieren, um in einer gegebenen Situation effektiv handeln zu können, wird von Endsley als Situation Awareness bezeichnet (Endsley 1995a, b).

Situation Awareness wird wie folgt definiert: „The perception of the elements in the environment within a volume of time and space, the comprehension of their meaning and the projection of their status in the near future“ (Endsley 1988). Endsley definiert Situation Awareness als ein Konstrukt, das aus drei Ebenen besteht. Dabei beschreibt Ebene 1 die Wahrnehmung der Elemente der Umwelt. Hier kann es aufgrund unzureichender Darstellung und kognitiver Abkürzungen zu Fehlwahrnehmungen und somit falschem Situationsverständnis kommen. Ebene 2 beschreibt das Verständnis der Situation und befasst sich mit Fehlern bei der korrekten Integration der Informationsaufnahme. Ein Mangel an mentalen Modellen oder blindes Vertrauen können zu falschen Prognosen und somit einer falschen Entscheidung führen. Ebene 3 bezieht sich auf die Vorhersage der zukünftigen Ereignisse. Dies ist abhängig vom Expertenstatus der Personen.

Zur Erfassung der Situation Awareness existieren verschiedene Methoden. Dabei wird zwischen direkten und indirekten Verfahren unterschieden. Direkte Verfahren ermöglichen einen direkten Zugang zum Produkt der Situation Awareness, während indirekte Verfahren sich auf den Prozess der Situationserfassung oder das Ergebnis der Bewusstheit in der Situation beziehen. Zur Untersuchung von Situation Awareness können nach Endsley verschiedene Prozessmaße verwendet werden. Dazu zählen verbale Protokolle (thinking aloud), psychophysiologische Maße (EKG, Puls) oder die Kommunikationsanalyse. Solche Prozessmaße werden jedoch beispielsweise in der Aviation selten verwendet, da diese Verfahren subjektive Interpretationen zulassen oder sehr aufwendige Messtechniken beim Erfassen von psychophysiologischen Maßen erfordern. Bei objektiven Verfahren wird das Wissen der Person über die aktuelle Situation abgefragt und damit das Maß der Situation Awareness gebildet.

Die Methode Situation Awareness Global Assessment Technique (SAGAT) wird zur Untersuchung und Bewertung für Situation Awareness benutzt. Voraussetzung für eine solche Untersuchung ist eine realitätsgetreue Simulationsumgebung. Diese Simulation wird zu zufällig ausgewählten Zeitpunkten eingefroren. Dann werden die Personen im System zu ihrer Wahrnehmung der Situation zu diesen Zeitpunkten von einem Operator befragt. Die Simulation wird zu diesem Zeitpunkt angehalten und sämtliche Informationsquellen werden ausgeschaltet. Dies wird als Freezing bezeichnet (Endsley und Kiris 1995).

1.9.5 Full-Scope-Simulator in der MRK

Die Idee der Full-Scope-Simulation wurde im Human-Factors-Labor der Hochschule Niederrhein aufgegriffen und auf Anwendungen der MRK übertragen. Auch hier sollen die unterschiedlichen Mensch-Maschine-Schnittstellen bedient und der Mensch unmittelbar in die Abläufe der Simulation einbezogen werden.

Als abgeschlossener Simulationsraum steht ein modulares, erweiterbares Kleinraumsystem zur Verfügung. Dabei können die Abmessungen des Kleinraums je nach Simulationsaufgabe variieren. Einerseits soll der Full-Scope-Simulator eine räumlich enge Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter nachbilden. Andererseits ist es sinnvoll, den verfügbaren Innenraum im Simulator auf die jeweilige MRK-Situation anpassen zu können. Die Anforderung der Umrüstflexibilität ist daher essenziell, um auf wechselnde Konfigurationen vorbereitet zu sein.

Abb. 1.3 zeigt eine Skizze dieses Kleinraums. Innerhalb des Kleinraums herrschen steuerbare Umweltbedingungen, um Einflüsse von Licht, Lärm und Temperatur studieren zu können bzw. deren Einfluss auszuschließen. Im MRK-Full-Scope-Simulator wird die zu untersuchende MRK-Anlage aufgebaut, um daran Probandenexperimente unter vorgegebenen Bedingungen durchzuführen. Das Ziel ist, zu statistisch relevanten Aussagen zu Situation Awareness, gefühlter Sicherheit und fokussierter Aufmerksamkeit zu gelangen. Auch Ablenkung und Fehleranfälligkeit können untersucht werden.

Abb. 1.3
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MRK-Full-Scope-Simulator im Human-Factors-Labor

Die Grundmaße sind für einen kompakten MRK-Arbeitsplatz ausreichend. Durch den modularen Aufbau der „Studio Box“ ist es möglich, durch Zukauf von Erweiterungsmodulen den Raum zu vergrößern oder zu verändern. Die Schalldämmung von 44 dB reicht aus, um typische Außengeräusche eines Raumes, wie Gespräche oder Computerlüftungen, so zu minimieren, dass diese im Innenraum kaum zu registrieren sind, geschweige denn zu Konzentrationsverlust führen.

1.9.6 Ablauf der Full-Scope-Simulation

Bei einem typischen Simulationsexperiment im Full-Scope-Simulator wird in zwei Schritten vorgegangen:

  • Aufbau und Vorbereitung der Simulation:

    Eine jede Simulation muss grundsätzlich ordnungsgemäß aufgebaut und vorbereitet werden. Dabei ist der Simulationsraum immer an die jeweilige Simulationsaufgabe anzupassen. Eventuell fallen aufwendige Umbauarbeiten zur Änderung der räumlichen Gegebenheiten an. Auch der Aufbau des Experiments ist aufwendig und muss gut vorbereitet sein.

  • Durchführung der Simulationsexperimente:

    Nach Abschluss des Aufbaus und der Vorbereitung der Simulation können die Probandenexperimente durchgeführt und dokumentiert werden.

Zu Beginn eines Simulationsprojekts im Full-Scope-Simulator ist also zunächst die Aufgabe, die Simulation selbst zu definieren, zu gestalten sowie sicher und verifiziert in Betrieb zu nehmen. Tab. 1.5 zeigt die einzelnen Schritte, die hierfür durchzuführen sind.

Tab. 1.5 Vorbereitung der Full-Scope-Simulation

In jeder Phase können Abweichungen von der Spezifikation, technische oder arbeitswissenschaftliche Probleme bei der Umsetzung, Machbarkeitsprobleme oder Gefährdungen dazu führen, dass im Projektablauf zu einem vorherigen Schritt zurückgekehrt werden muss, um z. B. kritische Vorgaben anzupassen.

Danach können die Simulationsexperimente durchgeführt werden. Den Simulationsablauf im Probandenexperiment zeigt Tab. 1.6. Dieser Ablauf ist für jeden einzelnen Probanden durchzuführen.

Tab. 1.6 Simulationsablauf im Probandenexperiment

Die Ablaufsteuerung führt nach programmierter Vorgabe ein Freeze nach der SAGAT-Methode in Schritt 4 automatisch durch. Dazu wird der Prozess zwar geplant, aber unerwartet für den Probanden angehalten. Die Beleuchtung wird verändert, um den Arbeitsplatz abzudunkeln, sodass der Proband den Arbeitsplatz aus dem Fokus verliert. Eingespielte Geräusche über die Audioanlage werden gestoppt. Stattdessen werden dem Probanden Fragen gestellt, um arbeitspsychologische Aspekte zur Situation Awareness abzufragen. Nachdem die Fragen beantwortet sind, schaltet das Licht um, der Ton geht wieder an und der eingefrorene Prozess läuft automatisch weiter. Das Experiment wird entsprechend Schritt 5 fortgesetzt. Das Freeze entsprechend Schritt 4 kann, je nach Vorgabe und Planung des Experimentablaufs, mehrfach durchgeführt werden.

1.10 Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird der wichtigen Frage nachgegangen, wie Konzepte der Mensch-Roboter-Kollaboration als neue Anwendungsrichtung vor allem der industriellen Robotik auf Anwendungen von Assistenzsystemen, z. B. von Pflege- und Haushaltssystemen, übertragen werden können. Hier besteht die Chance, auf technisch verfügbare, standardisierte und auch wirtschaftlich interessante Automatisierungsgeräte zurückzugreifen und verfügbares Know-how zu nutzen. Assistenzfunktionen wie Holen, Bereitstellen, Anreichen, Bringen sind in der industriellen Handhabungstechnik in vielfältigen Formen gelöst und könnten einfach übertragen werden. Dabei ist eine Gefährdung des Menschen auszuschließen. In bisherigen Einsatzbereichen der MRK existieren Erfahrungen, Methoden und Vorschriften, die festlegen, was Betriebssicherheit ausmacht und wie sie gemessen wird. Diese werden im Beitrag beschrieben.

Außerdem wird der Frage nachgegangen, wie man zu statistisch relevanten Aussagen zu Situation Awareness, gefühlter Sicherheit und fokussierter Aufmerksamkeit gelangen kann. Dies ist relevant, um Gefährdungen z. B. durch Ablenkung zu vermeiden. Diese Aussagen sollen mithilfe einer Simulationsmethode erzielt werden. Aufbauend auf dem Konzept der in der Energietechnik bekannten Full-Scope-Simulation wird eine speziell auf die arbeitspsychologischen Anforderungen der MRK hin weiterentwickelte Simulation mit Realanteilen vorgestellt. Mit Probandenexperimenten unter konstanten Umweltbedingungen können dort Untersuchungen zu Situation Awareness, gefühlter Sicherheit und fokussierter Aufmerksamkeit durchgeführt werden.