„Sag mir, wie viel Deine Freunde verdienen, und ich sage Dir, ob Du rauchst, welche Krankheiten Du hast und wie alt Du werden wirst!“ Ein Teil dieser Aussage dürfte für all jene, die sich für den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit interessieren, vertraut sein. Menschen mit vergleichsweise niedrigerem sozioökonomischem Status tragen höhere gesundheitliche Risiken, werden häufiger krank und sie sterben auch früher als jene, die ein höheres Einkommen, einen höheren Schulabschluss oder einen prestigeträchtigeren Beruf haben. Dieser Zusammenhang, oftmals auch als „sozialer Gradient“ bezeichnet, ist vielfach belegt und lässt sich in (fast) allen Ländern der Welt und auch in Deutschland anhand unterschiedlicher Gesundheitsindikatoren zeigen (vgl. z. B. Richter und Hurrelmann 2009).

In dem Satz wird aber nicht nach dem eigenen Einkommen gefragt, sondern nach dem Einkommen der Freunde. Ist diese Information wirklich aussagekräftig? Macht es wirklich einen Unterschied für die eigene Gesundheit, mit wem man befreundet ist, mit wem man sich in seinem Alltag umgibt und welche soziale Position diese Personen haben?

Wissenschaftlich gesprochen stellt dieser Satz einen Zusammenhang zwischen der sozialen Stellung von Akteuren im Beziehungsnetzwerk eines Menschen und dessen eigenem Gesundheitsverhalten, seiner Morbidität und seiner Mortalität her. Die Auskunft über den sozialen Status der Freunde einer Person – es können möglicherweise auch Familienangehörige, die Kollegen, Nachbarn oder andere, entfernter bekannte Personen sein – soll uns also Rückschlüsse auf das Gesundheitsverhalten, auf die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten und die Lebenserwartung geben und ggf. auch auf schichtspezifische Unterschiede in der Gesundheit. Für Familienangehörige liegt es nahe, wenn sie zusammen leben und einen gemeinsamen Haushalt führen, ein ähnliches Gesundheitsverhalten, ähnliche Gesundheitsrisiken und Belastungen anzunehmen, wie auch Einflüsse auf die Lebenserwartung und Erkrankungen, die erblich bedingt sind. Aber haben auch Personen aus dem weiteren Freundes- und Bekanntenkreis einen Einfluss auf meine Gesundheit? Welche neuen Perspektiven und Ergebnisse im Zusammenhang mit Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit kann die Betrachtung von sozialen Beziehungen ergeben?

Dieser Fragestellung werden die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes nachgehen. Aber nicht nur das, sie werden nicht nur danach fragen, ob es einzelne soziale Beziehungen sind (etwa ein Freund, der raucht und andere zum Rauchen animiert), die einen Einfluss auf individuelle Gesundheit haben, sondern auch, inwieweit es beispielsweise einen Unterschied macht, ob der eigene Freundeskreis sich untereinander kennt und mag, oder eben nicht? Ob meine Gesundheit oder mein Gesundheitsverhalten eher von mir ähnlichen oder mir eher unähnlichen Personen beeinflusst wird? Kurz: Die Beiträge des Bandes fragen danach, ob die Struktur sozialer Beziehungen – die sozialen Netzwerke, in die wir alle in unserem Wahrnehmen, Denken und Handeln eingebettet sind – einen Einfluss auf uns haben, dass einige von uns mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eher erkranken oder früher sterben als andere. Damit stellt sich auch die Frage, ob die Betrachtung sozialer Netzwerke sowie die Beschäftigung mit der soziologischen und inzwischen interdisziplinären Netzwerkforschung einen Beitrag zum Verstehen und Erklären gesundheitlicher Ungleichheiten leisten können.

Dieser Sammelband ist ein Ergebnis einer mehrjährigen Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen (Soziologie, Medizinische Soziologie, Psychologie, Public Health, Erziehungswissenschaften, Gesundheitswissenschaften) mit unterschiedlichen theoretischen und methodischen Ausrichtungen. Diese Zusammenarbeit wurde als Wissenschaftliches Netzwerk „Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten (SoNegU)“ von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) seit 2016 für eine Laufzeit von drei Jahren gefördert. Ziele des Netzwerks waren es, 1) die soziologische Netzwerkforschung in der deutschsprachigen Gesundheitsforschung bekannter und 2) die Netzwerkperspektive für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten fruchtbar zu machen. Das Ziel dieser Buchpublikation ist es, den Forschungsstand aufzubereiten, Forschungsdesiderate zu benennen und Perspektiven für die zukünftige Forschung aufzuzeigen.

In dieser Einleitung soll gezeigt werden, dass der Einbezug der Netzwerkperspektive in der Erforschung gesundheitlicher Ungleichheiten gewinnbringend sein kann, was dann in den weiteren Kapiteln des Bandes vertiefend vorgestellt und diskutiert wird. Dazu führen wir zunächst in die Analyse sozialer Netzwerke ein (Abschn. 1) und geben daran anschließend (Abschn. 2) einen kurzen Überblick zu empirischen Befunden über gesundheitliche Ungleichheiten in Deutschland und präsentieren zwei wichtige theoretische Modelle zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten. Wir arbeiten heraus, welche Rolle soziale Beziehungen und soziale Netzwerke im Rahmen dieser Erklärungsmodelle spielen. Im Anschluss (Abschn. 3) legen wir dar, welche Rolle die soziologische Netzwerkforschung in diesem Zusammenhang einnehmen kann und stellen ein eigenes konzeptionelles Theoriemodell vor, welches auch für viele der einzelnen Beiträge als orientierender Rahmen fungiert. Wir enden dann mit einer Übersicht der Beiträge dieses Bandes in Abschn. 4.

1 Die soziologische Netzwerkforschung

Mit sozialen Netzwerken greifen wir ein sozialwissenschaftliches Konzept auf, das sich an handlungstheoretischen Grundannahmen orientiert, die davon ausgehen, dass Individuen nicht als Atome handeln, sondern „eingebettet“ sind in ein relationales Netzwerk zwischenmenschlicher Beziehungen (vgl. Burt 1982; Elias 2014; Emirbayer 1997; Fuhse und Mützel 2010; Granovetter 1985). Die Beziehungen zwischen den Akteuren sind dabei prägend für das Verhalten der Netzwerkmitglieder (vgl. z. B. Wellman 1988). Dieser relationale Denkansatz (vgl. Emirbayer und Goodwin 1994; s. auch Klärner und Keim 2019) geht davon aus, dass soziale Prozesse sowie Handlungen nicht alleine durch akteursspezifische Attribute wie beispielsweise soziodemografische Merkmale der Individuen (z. B. Alter, Geschlecht, Ethnie, Bildungsstand) zu erklären sind, sondern durch die Einbettung in ihr soziales Umfeld wie Familie, Freunde, Verwandte oder Bekannte. Die Netzwerkperspektive fokussiert damit auf die Meso-EbeneFootnote 1 der sozialen Beziehungen zwischen Individuen. Das soziale Umfeld wird somit als Struktur der sozialen Beziehungen verstanden, die Handlungsspielräume eröffnet oder einschränkt und etwa auch die Art und Weise beeinflusst, wie die Akteure sich selbst und ihre Handlungsfähigkeit wahrnehmen (vgl. Gamper 2015).

Zentral ist dabei, dass im Rahmen der Netzwerkforschung nicht nur einzelne Beziehungen oder Dyaden analysiert werden, sondern auch, wie einzelne Beziehungen untereinander verflochten sind und welche Struktur diese Beziehungsgeflechte aufweisen (Häußling 2010)Footnote 2. Interagierende Individuen, Paare, Familien und andere Interaktionseinheiten (auch Institutionen oder Organisationen) lassen sich demnach als „Gruppen interdependenter Menschen“ bzw. als „Netzwerke von Individuen“ (Elias 2014, S. 12 und 14) begreifen, und kulturelle Normen und Werte von Individuen werden in Sozialisationsprozessen sowie in alltäglichen Interaktionen mit ihren Mitmenschen gelernt, reproduziert, aber auch verändert. In der Sprache der neueren Netzwerktheorie werden Individuen (oder auch Organisationen und Institutionen) als Akteure begriffen, die „eingebettet“ (Granovetter 1985) sind in ein relationales Netzwerk sozialer Beziehungen, das Handlungsmöglichkeiten eröffnet oder restringiert (vgl. Burt 1982; Emirbayer und Mische 1998; Fuhse und Mützel 2010; Häußling 2010; Wellman 1988). Je nach der Stellung bzw. „Einbettung“ des Individuums in ein solches Netzwerk und nach der Netzwerkzusammensetzung und -struktur, hat das Individuum beispielsweise einen ganz spezifischen Zugang zu Ressourcen und Informationen. Damit soll mithilfe des sozialen Netzwerkansatzes das aktive Handeln und Erleben einzelner Personen im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen konzeptuell verstehbar und methodisch rekonstruierbar gemacht werden (siehe Kap. „Netzwerktheorie(n)“).

Auch wenn erste Ideen zu „Wechselwirkungen“ mit anderen Individuen, zu „sozialen Kreisen“ oder der Einbindung in Beziehungsmuster oder „Figurationen“ schon bei Klassikern der Soziologie und Psychologie wie Georg Simmel, Norbert Elias oder Urie Bronfenbrenner zu finden sind (vgl. z. B. Simmel 1999; Elias 2014; zur Rezeption dieser Klassiker in der aktuellen Netzwerkforschung siehe Hollstein 2010; Willems 2010; Flammer 2009), ist das methodische Vorgehen und die damit zusammenhängende Strukturanalyse noch relativ neu. In den letzten Jahren kam es zu einer sehr dynamischen und auch innovativen Entwicklung hinsichtlich der Analysetools, auch von großen Datensätzen, und seit geraumer Zeit existiert ein breites Instrumentarium an spezifischen Erhebungs- und Analysemethoden, die sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Forschung sowie in methodenintegrativen (mixed methods) Designs eingesetzt werden können. Das Hauptaugenmerk liegt dennoch auf der quantitativen Auswertung der Netzwerkdaten und damit auf den kausalen sowie statistischen Zusammenhängen (zur ausführlichen Darstellung der Geschichte relationaler Wissenschaft auch (Gamper 2015); siehe Kap. „Netzwerkanalyse“).

Diese Konzepte und Methoden haben in der anglo-amerikanischen Forschung schon lange Einzug gehalten, zu nennen wären hier beispielsweise die Analyse von starken und schwachen Beziehungen bei der Arbeitssuche (Granovetter 1973), von Diffusionsprozessen „guter Ideen“ (Burt 2004), der Aufteilung der zu erledigen Hausarbeit in Paarbeziehungen (Bott 1957) und auch im Bereich der Gesundheit (Valente 2010). Noch immer wird aber eine mangelnde handlungstheoretische Fundierung und eine nicht ausreichende Kenntnis über die in sozialen Netzwerken wirkenden Mechanismen u. a. des sozialen Einflusses konstatiert (vgl. z. B. Smith und Christakis 2008; Gulati und Srivasta 2014). Dies ist z. T. auch auf den methodischen Fokus, nämlich der quantitativen Forschung, zurückzuführen. Ferner wird in der bisherigen Forschung der Blick häufig auf positiv wirkende, unterstützende Beziehungen gerichtet, andere und (intendierte oder nicht intendierte) negative Effekte von sozialen Beziehungen und ihren Strukturen, wie etwa Kontrolle und Korruption oder auch die Wirkung und Dynamik konflikthafter Beziehungen (siehe dazu Kap. „Negative Beziehungsaspekte und gesundheitliche Ungleichheiten“), sind bisher kaum untersucht.

In Deutschland erlangt die Netzwerkforschung erst seit neuerem an Popularität (vgl. z. B. Gamper et al. 2012; Hollstein und Straus 2006; Stegbauer 2010; Stegbauer und Häußling 2010).

2 Gesundheitliche Ungleichheiten

In der internationalen und nationalen Forschung gilt der Zusammenhang zwischen sozialen Ungleichheiten und der Gesundheit als empirisch gut bestätigt, dies zeigt sich in praktisch allen Ländern, in denen Daten zur Verfügung stehen (vgl. z. B. CSDH 2008; Marmot 2005; Rostila 2013; Schneider 2008; Thurston 2014; Vonneilich et al. 2011; Weyers et al. 2008, sowie die Beiträge in Richter und Hurrelmann 2009). Soziale Ungleichheiten – d. h. Benachteiligungen in vor allem den vertikalen Dimensionen „Bildung“, „Beruf“, „Einkommen“ – wirken sich demnach negativ sowohl auf den Gesundheitszustand (Morbidität, Mortalität) als auch auf das Gesundheitsverhalten (z. B. Substanzkonsum, Ernährung, Bewegung) aus (siehe u. a. Braveman et al. 2011; Brownson et al. 2005; Kanjilal et al. 2006; von dem Knesebeck und Schäfer 2009; Walque 2010; für Deutschland vgl. Richter et al. 2013). Auch horizontale Dimensionen sozialer Ungleichheit wie beispielsweise Geschlecht und Migrationshintergrund konnten bereits mit verschiedenen Gesundheitsindikatoren in Zusammenhang gebracht werden (siehe u. a. Babitsch 2000; Hurrelmann und Quenzel 2011; Singh und Hiatt 2006; Wengler 2013).

Erste Forschungsarbeiten zu gesellschaftlichen Ursachen von Krankheit und vorzeitiger Sterblichkeit gibt es in Deutschland bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts und als wissenschaftliche Disziplin, die auch politisch relevant wird, etablierte sich die „Sozialepidemiologie“ in den 1990er/2000er Jahren (z. B. in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes durch das Robert-Koch-Institut) (vgl. Lampert et al. 2015; Marmot und Wilkinson 2006; Mielck 1994; Richter und Hurrelmann 2016; Siegrist 2005).

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen für Deutschland erhebliche soziale Unterschiede bezüglich der Morbidität und Mortalität auf:

  • Die mittlere Lebenserwartung des untersten Einkommensquintils liegt 8,6 Jahre unter der des obersten Einkommensquintils bei Männern und etwa 4,4 Jahre bei Frauen (Lampert et al. 2019). Wird die fernere Lebenserwartung ab dem 65. Lebensjahr herangezogen, so beträgt die Differenz 3,7 Jahre bei Frauen und noch 6,6 Jahre bei Männern (ebd.).

  • Erwerbslose haben im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ein um 63 % höheres Mortalitätsrisiko (Roelfs et al. 2011).

  • Die koronare Herzerkrankung (KHK) als wichtigste Todesursache in Deutschland folgt einem sozialen Gradienten: Die Lebenszeitprävalenz einer KHK in hohen sozialen Statusgruppen beträgt knapp 7 %, in mittleren Statusgruppen knapp 9 % und in niedrigen Statusgruppen fast 14 % (Gößwald et al. 2013).

  • Soziale Unterschiede zeigen sich auch im Hinblick auf andere Krankheitsbilder und Formen gesundheitlicher Beeinträchtigungen wie Diabetes mellitus, Adipositas, depressive Symptomatik oder auch bei Krebserkrankungen (vgl. Lampert et al. 2013; Lange 2014).

  • Psychische Belastungen wie Stress und psychotische Symptome treten häufiger bei Personen mit niedrigem Sozialstatus auf (Robert Koch-Institut 2017; vgl. auch Siegrist 2005).

  • Soziale Ungleichheiten stehen in Zusammenhang mit Unterschieden in der gesundheitlichen Versorgung: Janßen et al. (2012) finden in einem systematischen Review etwa, dass 20 von 23 überprüften Studien klare Belege liefern für signifikante Zusammenhänge zwischen einem höheren sozialen Status und einer stärkeren Inanspruchnahme von Gesundheitsvorsorgeleistungen und -angeboten.

  • Das Gesundheitsverhalten unterscheidet sich meist deutlich je nach sozialem Status: Je niedriger der soziale Status, desto größer der Anteil der Raucher, derjenigen, die sich ungesund ernähren und körperlich inaktiv sind (Lampert 2010; Mackenbach 2006; Mielck 2005), nur beim Alkoholkonsum lassen sich diese Zusammenhänge nicht so eindeutig und nicht in der erwarteten Form finden.

  • Trotz aller Bemühungen konnten gesundheitliche Ungleichheiten in den letzten Jahren und Jahrzenten kaum verringert werden. Oftmals sind sie konstant geblieben oder zeigen eine Vergrößerung dieser Ungleichheiten. Dieser Trend zeigt sich für verschiedene Outcomes wie subjektive Gesundheit oder Mortalität sowohl international (Mackenbach et al. 2016; Granström et al. 2015) als auch für Deutschland (Moor et al. 2018; Pförtner und Elgar 2016; Kroll und Lampert 2011; Lampert et al. 2019; Siegel et al. 2014).

Insgesamt zeigt sich, dass gesundheitliche Ungleichheiten nach Ländern, aber auch nach Alter, Geschlecht oder auch nach Morbidität variieren (Kunst 2009; Lampert et al. 2013; Richter und Hurrelmann 2009).

Für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten gibt es unterschiedliche theoretische Modelle (vgl. Lampert 2016). Zu den einflussreichsten, in vielen Variationen weiterentwickelten gehören im internationalen Kontext das Modell von Dahlgren und Whitehead (1991) und im deutschsprachigen Kontext das von Elkeles und Mielck (vgl. Elkeles und Mielck 1997; Mielck 2005). Die Modelle eint, dass sie unterschiedliche Abstraktions- und Analyseebenen in ein Verhältnis setzen und den Einfluss von Makrostrukturen, genauer: gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen, auf die Mikroebene der Individuen, ihres gesundheitlichen Status, ihrer Morbidität und Mortalität durch verschiede vermittelnde Mesoebenen und der dort wirkenden Faktoren aufklären wollen.

Bei Dahlgren und Whitehead (1991) sind es auf der gesellschaftlichen Makroebene die allgemeinen sozioökonomischen Bedingungen, zu denen z. B. die wirtschaftliche Situation und die Entwicklung der jeweiligen Volkswirtschaft, die technische Infrastruktur, das Rechtssystem und Fragen von Frieden und Sicherheit zu zählen sind. Zu den Makrofaktoren gehört auch die kulturelle Umwelt, zu der auch das politische System, das Mediensystem und der Grad der Verfügbarkeit von Informationen, aber auch das Verhältnis der Geschlechter zu zählen ist. Ebenfalls bedeutsam ist die physische Umwelt, z. B. in Form besonderer klimatischer Bedingungen, Bodenqualität und Rohstoffreichtum, allgemein: der Zustand der Natur.

Diese Makrobedingungen haben im Modell von Dahlgren und Whitehead (Abb. 1) nun Einfluss auf die schon konkreteren Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen bzw. von sozialen Gruppen in der Gesellschaft: Lebensmittelversorgung und -produktion, Bildung, Arbeits- und Wohnverhältnisse, Zugang zu Wasser, Hygienebedingungen, das Gesundheitssystem, Mobilität, Freizeitangebote etc. sind hier zu nennen. Vermittelt, d. h. tradiert und institutionalisiert durch familiäre, schulische und außerschulische Sozialisationsprozesse, und in sozialen Interaktionen verstärkt oder abgemildert werden diese Lebens- und Arbeitsbedingungen durch soziale und Gemeinde-Netzwerke (social and community networks): Familie, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Vereine, die Gemeinde. Individuelle Lebensstile (individual lifestyle factors), Ess- und Trinkgewohnheiten, Substanzkonsum, sportliche Betätigung, gesundheitliche Vorsorge, aber auch der durch Schule, Arbeit, Familie etc. geprägte Tagesrhythmus beeinflussen die individuelle Gesundheit, die nicht zuletzt auch von Alter, Geschlecht und den Erbanlagen mitbestimmt wird.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Dahlgren und Whitehead 2006 (zuerst erschienen in Dahlgren und Whitehead 1991))

Determinanten der Gesundheit – Modell von Dahlgren und Whitehead (1991).

Das im deutschsprachigen Raum populäre und ebenfalls vielfach weiterentwickelte Modell von Elkeles und Mielck (vgl. Elkeles und Mielck 1997; Mielck 2005) zeichnet sich dadurch aus, dass es genauer als das eben beschriebene Modell von Dahlgren und Whitehead Wirkungspfade postuliert und dabei auf allgemeine soziologische Theorien der Reproduktion sozialer Ungleichheit Bezug nimmt (vgl. dazu auch Röding 2018).

Das Modell (Abb. 2) orientiert sich an den klassischen, vertikalen sozialen Ungleichheiten nach Bildung, beruflicher Stellung und Einkommen, kurz: dem sozioökonomischen Status bzw. der Position einer Person oder einer sozialen Gruppe in einer gesellschaftlichen Ungleichheitsstruktur (Klasse, Schicht, Milieu etc.). Der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit wird vermittelt durch Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen und Bewältigungsressourcen, z. B. strukturelle Aspekte wie Wohn- und Lebensbedingungen, Erholungs- und Freizeitmöglichkeiten, materielle Aspekte wie z. B. Einkommen und psychosoziale Aspekte wie Stress, soziale Unterstützung und Kontrollüberzeugungen (vgl. von dem Knesebeck 2005; Mielck 2005; Richter et al. 2009; Richter et al. 2012; Thurston 2014; Vonneilich et al. 2012). Die Bedeutung zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten wurde in einem systematischen Review zusammengetragen und zeigt auf, dass ein Großteil der Ungleichheiten durch diese drei Faktoren erklärt werden kann (Moor et al. 2016).

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Elkeles und Mielck (1997), leicht modifizierte eigene Darstellung)

Zusammenhänge zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit nach Elkeles und Mielck (1997).

Des Weiteren spielen Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung und Unterschiede im Gesundheits- und Krankheitsverhalten eine wichtige Rolle. Die einzelnen Mechanismen stehen miteinander in Verbindung. So kann eine weniger vorteilhafte Position im Klassen- oder Schichtungsgefüge einer Gesellschaft zu Unterschieden in den gesundheitlichen Belastungen führen, die etwa durch mehr oder weniger gesundheitsförderliche Wohn- und Arbeitsbedingungen (materielle/strukturelle Faktoren) hervorgerufen werden. Bewältigungsressourcen – wie soziale Unterstützung – können die krankmachende Wirkung gesundheitlicher Belastungen abfedern, sind sie jedoch bei Personen mit einem geringeren Einkommen oder geringerer Bildung weniger stark ausgeprägt, tragen sie auch dazu bei, gesundheitliche Ungleichheiten weiter zu verstärken.

In beiden vorgestellten Modellen werden in unterschiedlicher Weise soziale Beziehungen thematisiert und als relevant erachtet. Im Modell von Dahlgren und Whitehead ist in diesem Zusammenhang die Rede von „social and community networks“, d. h., die unseren Fokus bildenden sozialen Netzwerke werden explizit und prominent erwähnt, wenn auch eher als Metapher und nicht in einem netzwerkanalytischen Sinne (siehe Kap. „Netzwerktheorie(n)“). Im Modell von Elkeles und Mielck kommen sie eher implizit, etwas versteckt in den Bewältigungsressourcen zum Vorschein, wenn dort „soziale Unterstützung“ als ein Faktor genannt wird, der z. B. Gesundheitsverhalten und Lebensqualität beeinflussen kann. Eine darüber hinausgehende, explizit netzwerkstrukturelle Perspektive ist in beiden Modellen nicht enthalten.

3 Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten

Im Bereich der Gesundheitsforschung weisen zahlreiche Studien darauf hin, dass eine netzwerkanalytische Perspektive und eine Berücksichtigung von Mechanismen, die in diesen Netzwerken wirken (siehe Kap. „Wirkmechanismen in sozialen Netzwerken“), einen wichtigen Beitrag zur Erklärung verschiedener Dimension von Gesundheit und Gesundheitsverhalten leisten können (vgl. dazu Valente 2010 sowie folgende Reviews: De et al. 2007; Fletcher et al. 2011; Macdonald-Wallis et al. 2012; Seo und Huang 2012; Smith und Christakis 2008). Mit Daten der Alameda-County-Studie etwa konnten Berkman und Syme (1979) zeigen, dass sozial weniger eingebundene Personen ein höheres Mortalitätsrisiko aufweisen. Schwarzer und Knoll (2007) belegen, dass soziale Unterstützung das Coping mit den Folgen einer Herzoperation begünstigen kann und die Studien von Christakis, Fowler und Kollegen weisen darauf hin, dass Glück, Fettleibigkeit, Alkoholkonsum und Rauchverhalten in Netzwerken ansteckend wirken (Christakis und Fowler 2007, 2008; Fowler und Christakis 2008; Rosenquist et al. 2010).

Im Zusammenhang mit der Erforschung gesundheitlicher Ungleichheiten wird der Netzwerkansatz allerdings bisher nur selten angewandt. Dies gilt, wie DiMaggio und Garip (2012) zeigen, auch für andere Bereiche der Ungleichheitsforschung, und dass obwohl theoretisch davon auszugehen ist, dass etwa die in Netzwerken zu findenden Mechanismen der Homophilie – „gleich und gleich gesellt sich gerne“ – und der Transitivität – „der Freund meines Freundes ist mein Freund“ – zur Reproduktion sozialer Zugehörigkeiten führen und soziale Ungleichheiten damit verstärken können. Der soziale Status beeinflusst Gelegenheitsstrukturen, Kontakte zu knüpfen, indem etwa durch eine höhere Position der Zugang zu sozialen Kreisen (Clubs etc.) ermöglicht wird, die (beruflich) förderliche soziale Kontakte vermitteln. Empirisch konnte gezeigt werden, dass Personen mit einem höheren Status über größere Netzwerke mit geringerer Dichte, einem geringeren Verwandtenanteil und einer höheren räumlichen Spannweite verfügen (Mewes 2010; Fuhse 2010). Dass diese Netzwerkstruktur, in der sich auch ein höherer Anteil an schwachen Beziehungen findet, etwa bei der Suche nach einem Job hilfreich ist, hat Granovetter (1973) in seiner Studie gezeigt. Im Kontrast dazu kann der Mangel an finanziellen Mitteln, der etwa bei Erwerbslosen zu finden ist, die Aufrechterhaltung von Reziprozität(serwartungen) in Netzwerken bedrohen, damit zum Verlust von Beziehungen führen und die Überwindung von Arbeitslosigkeit erschweren (siehe Kap. „Arbeitslosigkeit, soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheit“).

Relativ häufig finden sich in Arbeiten zu gesundheitlichen Ungleichheiten mit dem Konzept der sozialen Netzwerke eng verbundene Konzepte wie „soziale Beziehungen“, „soziale Unterstützung“ oder „soziales Kapital“ und diskutieren deren möglichen Erklärungsbeitrag für gesundheitliche Ungleichheiten (für einen Überblick z. B. Blättner und Waller 2011; Hurrelmann 2010; Kawachi und Kennedy 1997; Kroll und Lampert 2007; Kroll und Lampert 2011; Siegrist et al. 2009; Vonneilich 2016; Vonneilich et al. 2011; Vonneilich et al. 2012). Diesen Ansätzen liegt häufig die Vorstellung zugrunde, dass benachteiligte sozioökonomische Schichten der Gesellschaft möglichweise auch dadurch höhere Morbiditäts- und Mortalitätsraten aufweisen, da sie weniger auf hilfreiches, unterstützendes und gesundheitsförderliches soziales Kapital bzw. soziale Unterstützung zurückgreifen können als jene Schichten, die per sozioökonomischer Lage mehr davon zur Verfügung haben. Da sich eine netzwerktheoretische und -analytische Perspektive für die Erforschung von Gesundheit, Krankheit und Sterblichkeit als gewinnbringend erwiesen hat und auch bereits mit sozialen Netzwerken eng verbundene Konzepte wie soziale Unterstützung auf die Erforschung gesundheitlicher Ungleichheiten angewendet werden, gehen wir davon aus, dass eine soziologische Netzwerkperspektive auch für die Erforschung gesundheitlicher Ungleichheiten relevant sein kann. Mit dieser Einleitung und mit den Beiträgen dieses Bandes regen wir daher an, durch den Einbezug einer soziologische Netzwerkperspektive über die in der Forschung beziehungsweise in den theoretischen Erklärungsmodellen zu gesundheitlichen Ungleichheiten erwähnten Aspekte der sozialen Beziehungen und der sozialen Unterstützung hinauszugehen.

Im Rahmen des Wissenschaftlichen Netzwerks „Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten“ (SoNegU) haben wir dafür ein netzwerktheoretisches Erklärungsmodell entwickelt (siehe Abb. 3), das wir im Folgenden vorstellen wollen.

Abb. 3
figure 3

(Quelle: Eigene Darstellung, angelehnt an: Berkman und Glass (2000) sowie Elkeles und Mielck (1997) und Dahlgren und Whitehead (1991))

Ein Netzwerkmodell gesundheitlicher Ungleichheiten.

Beziehen können wir uns mit dem netzwerktheoretischen Erklärungsmodell gesundheitlicher Ungleichheiten neben den Modellen von Dahlgren und Whitehead sowie von Elkeles und Mielck auf ein von Berkman zusammen mit Glass publiziertes wegweisendes Modell, in dem unterschiedliche theoretische Konzepte zu sozialen Netzwerken, sozialer Integration, sozialem Einfluss, sozialer Unterstützung etc. und deren Einfluss auf Gesundheit zusammengeführt werden (Berkman und Glass 2000; siehe dazu ausführlicher Kap. „Sozialer Status, soziale Beziehungen und Gesundheit“). Bei der Systematisierung der Netzwerkmechanismen orientieren wir uns neben dem Vorschlag von Berkman und Glass auch an Arbeiten von Bernardi, Keim und Kollegen (Bernardi und Klaerner 2014; Keim 2011; Keim et al. 2009); siehe auch Kap. „Wirkmechanismen in sozialen Netzwerken“), die sich intensiv mit den Wirkmechanismen in sozialen Netzwerken auseinandergesetzt haben.

In unserem Modell, das explizit nur einen Ausschnitt aus den theoretisch möglichen und in den oben erwähnten Modellen ausführlicher berücksichtigten Erklärungspfaden und Zusammenhängen von sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten aufgreift, gehen wir davon aus, dass Ungleichheiten sowohl auf der Ebene von Bildung, beruflicher Stellung und Einkommen, als auch auf einer Ebene von Alter, Geschlecht, natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit etc. einen Einfluss haben auf die Struktur und die Art der Beziehungen innerhalb der sozialen Netzwerke, in die Akteure und Individuen eingebettet sind. So zeigen beispielsweise zahlreiche Untersuchungen, dass eine höhere Bildung, ein höheres Einkommen und eine höhere berufliche Position in der Regel mit größeren Netzwerken, mehr Unterstützungsbeziehungen und Freundschaftsbeziehungen und einer stärkeren sozialen Einbindung einhergehen (Diewald und Lüdicke 2007; Böhnke 2007; Levy und Pescosolido 2002; Stringhini et al. 2012); siehe Kap. „Sozialer Status, soziale Beziehungen und Gesundheit“). Sowohl Alter als auch Geschlecht haben sich als relevant für die Netzwerkstruktur erwiesen, so steht beispielsweise ein hohes Alter in negativem Zusammenhang mit sozialer Einbindung (Böhnke 2007; siehe Kap. „Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Alter“) und Frauen haben in der Regel größere Netzwerke als Männer (McLaughlin et al. 2010; Schwartz und Litwin 2018; siehe Kap. „Geschlecht“).

Wir gehen davon aus, dass diese Netzwerkstrukturen und Charakteristika der Beziehungsebene über spezifische Mechanismen auf individuelles Erleben und Handeln auf der Mikroebene wirken. Wir schlagen vor, die folgenden Netzwerkmechanismen zu unterscheiden (siehe dazu genauer Kap. „Soziale Beziehungen, soziales Kapital und soziale Netzwerke“ und „Wirkmechanismen in sozialen Netzwerken“):

  • Soziale Unterstützung, womit zunächst der allgemeine Prozess des Austausches von materiellen wie immateriellen Gütern und Dienstleistungen zwischen miteinander verbundenen Akteuren gemeint ist. Von besonderer Bedeutung für Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten sind die emotionale und motivationale Unterstützung (z. B. Trost, Verständnis, Ermunterung, Motivation), die materielle Unterstützung (z. B. Geld, Wohnraum), die praktische Unterstützung (z. B. Pflege, Hilfe) sowie die informationelle Unterstützung (z. B. Tipps, Wissen). Eng damit zusammen hängt der Begriff des sozialen Kaptials.

  • Soziale Integration, worunter Mechanismen und Phänomene wie soziale Anerkennung, Isolation etc. gefasst werden, die darauf fokussieren, dass Menschen als soziale Wesen nicht nur funktional (etwa qua Unterstützung), sondern auch emotional und konativ (handlungsbezogen, z. B. „geselliges Beisammensein“) auf den Kontakt und den Austausch mit anderen Menschen sowie auf deren Anerkennung (social validation) reagieren. Soziale Integration bahnt dabei häufig (z. T. indirekt) weitere wichtige Leistungen wie z. B. den Zugang zu Ressourcen oder Gütern, Kontakten oder allgemeinen Informationen, die sich meist nicht als direkte „Unterstützungsleistungen“ konzipieren lassen, aber mittelbar auch auf Gesundheitsmöglichkeiten des Individuums einwirken, indem sie etwa das Coping mit Krankheit beeinflussen.

  • Sozialer Einfluss, was als Sammelbezeichnung für schwer voneinander abgrenzbare Prozesse wie soziales Lernen oder sozialer Druck zu verstehen ist, in denen Akteure im Netzwerk mit ihren Handlungen, ihrer An- oder Abwesenheit bewusst oder unbewusst aufeinander einwirken und damit auch beispielsweise das Gesundheitsverhalten prägen oder beeinflussen.

  • (Soziale) Ansteckung, was die unmittelbare physische oder affektive Übertragung von gesundheitsrelevanten Einheiten durch persönliche oder intime Kontakte bezeichnet. Als breiter Oberbegriff sind hiermit sowohl die Ansteckung im Sinne der Übertragung von Krankheitserregern in Beziehungsnetzen (z. B. durch Sexualkontakte, Spritzentausch bei Drogenabhängigen etc.) als auch die emotional-affekte Ansteckung mit neuen Verhaltensweisen oder Wissensinhalten wie etwa der Begeisterung für neue Gesundheitstrends oder auch für problematisches Gesundheitsverhalten wie Impfgegnerschaft gemeint.

Diese breit konzipierten Netzwerkmechanismen bieten eine theoretische wie empirische Möglichkeit, genaueres über die von Berkman und Glass (2000) vorgeschlagenen drei Wirkpfade (pathways) auszusagen, über die sich soziale Netzwerkbeziehungen auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten auswirken können: Dies sind die Pfade des Gesundheitsverhaltens, der psychologischen sowie der physiologischen Vermittlungsprozesse. Materielle Einflussfaktoren, wie sie in den Modellen von Dahlgren und Whitehead sowie von Elkeles und Mielck (siehe Abschn. 2) etwa im Einfluss von Umwelt- und Arbeitsbedingungen auf Gesundheit vorkommen, sind selbstverständlich hoch bedeutsam und ebenfalls wirksam, stehen aber nicht im Zentrum des netzwerkanalytischen Erklärungsansatzes.

Das individuelle Gesundheitsverhalten ist das Gesamt aller gesundheitsförderlichen wie auch der Risiko-Verhaltensweisen, also die individuellen Ausmaße des Tabak- und Alkoholkonsums, der Ernährung und körperlichen Betätigung oder des Einhaltens medizinischer Verordnungen oder Empfehlungen (Knoll et al. 2011). Alle vier vorgeschlagenen Netzwerkmechanismen sind grundsätzlich für diese Verhaltensweisen denkbar bzw. wurden mit diesen bereits in einen Zusammenhang gebracht (vgl. Kienle und Stadler 2012; Wills und Ainette 2012). Beispielsweise zeigte die Arbeit von Demas et al. (2005), dass soziale Integration in eine Selbsthilfegruppe bei HIV-Patientinnen zu einer stärkeren Behandlungs-Adhärenz führte. In der Arbeit von Lee et al. (2007) zu Jugendlichen mit einem an AIDS erkrankten Elternteil zeigten die Befragten bei erlebter sozialer Unterstützung weniger eigenes Risikoverhalten, es sei denn, dass es zu negativem sozialen Einfluss durch Familienmitglieder, die selbst Risikoverhalten praktizierten, kam. Und Salvy et al. (2009) zeigten zur sozialen Ansteckung in einer experimentellen Studie mit 54 Erwachsenen, dass die gemeinsame körperliche Aktivität mit Anderen geeignet war, die Kalorienzufuhr bei Probanden zu reduzieren.

Einen wichtigen weiteren Pfad stellt schließlich der sogenannte psychologische Pfad dar, in dem soziale Netzwerke auf psychische Faktoren wirken. Prominente Beispiele stellen das individuelle Selbstwertgefühl, das Coping mit Stress oder das allgemeine Wohlbefinden dar. Schwarzer und Knoll (2007) diskutieren hierzu zwei Aspekte von sozialen Einwirkungen auf diese Größen: Soziale Beziehungsnetze können den Autoren zufolge Individuen zum einen dazu befähigen, mit individuellen Belastungen adaptiv umzugehen (also unter Beibehaltung eines hohen Funktionsniveaus), indem sie Belastungen abmildern oder bei der Bewältigung mit Rat und Tat unterstützen. Zum anderen stellen soziale Beziehungsnetze für den Einzelnen aber auch Gelegenheiten dar, soziale Prozesse für das eigene Wohlergeben nutzbar zu machen, etwa indem sich der Einzelne in als angenehm empfundene Kontexte einbringen oder bei Bedarf konkrete Leistungen mobilisieren kann (Kienle und Stadler 2012).

Der physiologische Pfad beschreibt die Wirkung kardiovaskulärer, neuroendokriner und immunologischer Mechanismen auf die individuelle Gesundheit (Uchino 2006). Zum Zusammenhang dieser Mechanismen mit sozialen Netzwerkmechanismen hat in den letzten Jahrzehnten eine lebhafte Forschungstätigkeit stattgefunden, und es ist überraschend, wie stark physiologische Maße wie z. B. die Herzrate, Blutdruck, Stresshormone oder Immunzellenkonzentrationen von der Anwesenheit und der Unterstützung anderer Personen abhängt. Hier scheint ein wichtiger Mechanismus vorzuliegen, wobei wohl nur ein Teil des Zusammenhangs zwischen Netzwerken und Gesundheit dadurch miterklärt werden kann (Kienle und Stadler 2012, S. 755).

Somit wird durch dieses Modell eine klare kausale Wirkrichtung von sozialen Ungleichheiten auf die Gesundheit über soziale Netzwerke postuliert: Wenn es zutrifft, dass je nach sozialen Ungleichheitsdimensionen von Individuen oder Bevölkerungsteilen die Netzwerkmechanismen in unterschiedlicher Ausformung und Intensität in ihren Beziehungsnetzen vorliegen, dann werden sich die drei Wirkungspfade auch unterschiedlich darstellen und a la longue zu unterschiedlichen Gesundheitsstati der Individuen bzw. Bevölkerungsgruppen führen. Die weitergehende Frage ist dann (siehe Kap. „Sozialer Status, soziale Beziehungen und Gesundheit“), ob es einen Erklärungsbeitrag sozialer Netzwerke zum Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit gibt (Mediator-Effekt sozialer Netzwerke), oder ob der Zusammenhang von sozialen Netzwerken und Gesundheit je nach sozialer Statusgruppe variiert (Moderator-Effekt des sozialen Status). Betrachten wir allerdings den aktuellen Forschungsstand dazu und zu den im Modell benannten Faktoren, wird rasch deutlich, dass „die von Berkman et al. (2000) beklagte Forschungslücke zum Einfluss der soziokulturellen Bedingungen auf die Gesundheit eines Individuums – vermittelt über die Netzwerkstrukturen – weiterhin fortzubestehen (scheint)“ (Kienle und Stadler 2012, S. 750). Dieser Sammelband hat sich zum Ziel gesetzt, den Forschungsstand in unterschiedlichen thematischen Feldern aufzuarbeiten und herauszuarbeiten, welcher Forschungsbedarf besteht.

4 Die Beiträge des Bandes

Wir wollen mit dem vorliegenden Sammelband die Netzwerkperspektive theoretisch und methodisch genauer vorstellen und für unterschiedliche Themenfelder im Bereich gesundheitlicher Ungleichheiten zeigen, welche Rolle diese Perspektive in den vorhandenen Studien spielt und welchen Beitrag sie in diesem Themenfeld gegebenenfalls leisten kann. Die Themenfelder umfassen zum einen aus einer Lebenslaufperspektive unterschiedliche biografische Phasen, zum anderen beleuchten sie spezifische Ungleichheitsdimensionen wie sozialen Status, Geschlecht und Migrationshintergrund.

Der vorliegende Sammelband untergliedert sich in vier Teile.

Der erste Teil beschäftigt sich mit den theoretischen und methodischen Grundlagen der Netzwerkforschung. Nico Vonneilich nimmt im Kap. „Soziale Beziehungen, soziales Kapital und soziale Netzwerke“ eine begriffliche Einordnung der wesentlichen in diesem Band genutzten Konzepte vor und grenzt dabei soziale Beziehungen, soziales Kapital und soziale Netzwerke definitorisch voneinander ab. Markus Gamper stellt im Kap. „Netzwerktheorie(n)“ die netzwerktheoretischen Grundlagen und wichtigen Konzepte aus der Netzwerkforschung vor. Andreas Klärner und Holger von der Lippe betrachten dann die Wirkmechanismen soziale Unterstützung, soziale Integration, sozialer Einfluss und (soziale) Ansteckung in sozialen Netzwerken in einer interdisziplinären Übersicht v. a. über soziologische und psychologische Effekte genauer (siehe Kap. „Wirkmechanismen in sozialen Netzwerken“). Philip Adebahr schließlich bringt eine Perspektive ein, der bisher in der Forschung zu Netzwerken und Gesundheit bzw. gesundheitlichen Ungleichheiten noch zu wenig Beachtung findet: die negativen Aspekte sozialer Beziehungen (siehe Kap. „Negative Beziehungsaspekte und gesundheitliche Ungleichheiten“). Dieser erste Teil schließt mit einem Kapitel von Markus Gamper über quantitative, qualitative und kombinierte Methoden der Netzwerkanalyse (siehe Kap. „Netzwerkanalyse“).

Die beiden folgenden Teile befassen sich mit unterschiedlichen Feldern der Ungleichheitsforschung und gehen der Frage nach, inwieweit netzwerkanalytische Ansätze im Feld der gesundheitlichen Ungleichheiten eine Rolle spielen und welche Forschungslücken bestehen. Der zweite Teil bezieht sich dabei zunächst auf eine Lebenslaufperspektive (Bengtson und Allen 1993; Elder et al. 2003; Mayer 1998). Diese geht u. a. davon aus, dass verschiedene biografische Phasen (z. B. der Auszug aus dem Elternhaus, der Übergang in die Elternschaft, Übergänge in Erwerbslosigkeit) durch die dynamischen Interaktionen der verschiedenen Stränge einer Individualbiografie (z. B. Bildungs-, Erwerbs-, Mobilitäts-, Familienbiografie) geprägt sind, was wiederum, so unsere These, Einfluss auf die Struktur und Zusammensetzung der individuellen sozialen Netzwerke hat.

Daniel Lois zeigt im Kap. „Soziale Netzwerke, familiales Sozialkapital und kindliche Gesundheit“, dass die kindliche Gesundheit zum einen direkt durch das soziale Netzwerk des Kindes beeinflusst wird als auch indirekt durch das soziale Netzwerk der Eltern. Er zeigt auch, dass von den verschiedenen theoretischen Mechanismen, die zur Erklärung dieser Befunde infrage kommen, der Unterstützungsmechanismus am besten empirisch bestätigt ist. Familiales Sozialkapital, das sich aus den Netzwerkbeziehungen speist, korreliert in westlichen Industrienationen positiv mit den sozioökonomischen Ressourcen der Eltern. Für Schwellen- und Entwicklungsländer zeigt sich, dass das Vorhandensein sozialer Unterstützung hier ein besonders kritischer Faktor für die kindliche Gesundheit ist.

Irene Moor, Laura Hoffmann, Martin Mlinarić und Matthias Richter gehen im Kap. „Soziale Netzwerke, Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten im Jugendalter“ insbesondere auf die Forschung zum Gesundheitsverhalten von Schülerinnen und Schülern ein. Sie zeigen, dass die These des sozialen Einflusses (d. h., Freunde beeinflussen das [Gesundheits-]Verhalten und die Einstellungen der Jugendlichen und sie adaptieren diese) und die These der Selektion (d. h., Jugendliche suchen ihre Freunde danach aus, ob sie ähnliche Einstellungen und [Gesundheits-]Verhaltensweisen haben wie sie selbst) empirisch belegt werden können. Forschungsbedarf besteht jedoch darin, welche Bedeutung den sozialen Netzwerken zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten im Jugendalter zukommt.

Holger von der Lippe und Olaf Reis gehen im Kap. „Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im jungen und mittleren Erwachsenenalter“ vor allem auf Zusammenhänge zwischen sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten, biografischen Transitionen, sozialen Beziehungsnetzen und individuellem Gesundheitsverhalten ein. Nach aktueller Forschungslage ist den Autoren zufolge ein Mediatoreffekt sozialer Netzwerke für den Einfluss sozialer Ungleichheiten auf Gesundheit wahrscheinlich. Dieser dürfte sich besonders deutlich im Kontext biografischer Übergänge bzw. Umbrüche zeigen, in denen es sozialen Schichten unterschiedlich gut gelingt, von sozialen Netzwerken im Hinblick auf Gesundheit zu profitieren.

Britta Müller und Lea Ellwardt schließlich konzentrieren sich im Kap. „Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Alter“ auf Personen in der nachberuflichen Lebensphase. Entlang dreier im Alter relevanter Gesundheitsparameter: des Sterblichkeits-, des Demenz- und des Depressionsrisikos zeigen die Autorinnen, dass diese Parameter sowohl mit dem sozioökonomischen Status als auch mit sozialen Netzwerkmerkmalen assoziiert sind. Die Vermittlungsmechanismen von Gesundheit, sozioökonomischem Status und sozialem Netzwerk können durch vorliegende Studien noch nicht hinreichend erklärt werden. Moderatoreffekte von Netzwerkmerkmalen auf gesundheitliche Ungleichheit im Alter scheinen aber bislang am wahrscheinlichsten.

Im dritten Teil des Bandes werden anschließend unterschiedliche Ungleichheitsdimensionen betrachtet. Einführend trägt Nico Vonneilich im Kap. „Sozialer Status, soziale Beziehungen und Gesundheit“ den aktuellen Stand der Forschung zu den Zusammenhängen von sozialem Status, sozialen Beziehungen und Gesundheit zusammen. Dabei stehen zwei Fragestellungen im Vordergrund: 1. Gibt es Hinweise auf einen Erklärungsbeitrag sozialer Beziehungen zum Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit (Mediator-Effekt sozialer Beziehungen)? 2. Variiert der Zusammenhang von sozialen Beziehungen und Gesundheit je nach sozialer Statusgruppe (Moderator-Effekt des sozialen Status)? In der Forschung finden sich demnach Hinweise, wonach soziale Beziehungen zu einer Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten beitragen können, während die bisherige Studienlage zum moderierenden Effekt weniger eindeutig ist. Dies könnte u. a. daran liegen, dass eine komplexe Erfassung sozialer Beziehung, wie beispielsweise sozialer Netzwerke, bisher kaum stattgefunden hat.

Ausgehend von dem empirisch gut belegten Befund, dass Erwerbslosigkeit zu Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Gesundheit führt, gehen Gerhard Krug, Stefan Brandt, Markus Gamper, André Knabe und Andreas Klärner im Kap. „Arbeitslosigkeit, soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheit“ zwei wichtigen Thesen zur Rolle sozialer Netzwerke für diesen Zusammenhang nach.Footnote 3 These 1 geht davon aus, dass Erwerbslosigkeit soziale Netzwerke so verändert, dass sie ihre positive Funktion für die Gesundheit nicht mehr erfüllen (Mediatorthese). These 2 besagt, dass Erwerbslosigkeit soziale Netzwerke unverändert lässt und Personen mit ressourcenreichen Netzwerken weniger unter Gesundheitseinbußen durch Erwerbslosigkeit leiden (Moderatorthese). Zu beiden Thesen existiert bisher aber nur wenig empirische Evidenz.

Wie bei Erwerbslosen, so ist auch bei Alleinerziehenden empirisch gut belegt, dass diese über eine schlechtere psychische und physische Gesundheit als verheiratete Eltern verfügen. Sylvia Keim-Klärner geht daher im Kap. „Soziale Netzwerke und die Gesundheit von Alleinerziehenden“ der Frage nach, welche Relevanz soziale Netzwerke und ihre Charakteristika in diesem Zusammenhang haben. Spezifisch netzwerkanalytische Studien zur Gesundheit Alleinerziehender sind selten, der Effekt von sozialer Unterstützung hingegen ist recht gut belegt. Eine netzwerkanalytische Perspektive öffnet den Blick auch für konflikthafte Beziehungen oder ambivalente Beziehungsinhalte und lenkt das Forschungsinteresse auf das Zusammenspiel unterstützender und belastender Beziehungen. Damit verbunden ist auch die Frage danach, auf welche Weise soziale Beziehungsgeflechte die Gesundheitswirksamkeit sozialer Ungleichheiten verstärken oder abmildern können.

Im Kap. „Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheiten“ nehmen die Autor*innen Markus Gamper, Julia Seidel, Annett Kupfer, Sylvia Keim-Klärner und Andreas Klärner Bezug auf die gut belegten gesundheitlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern (s. o.).Footnote 4 Viele Studien weisen auch auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern bezüglich ihrer sozialen Netzwerke hin. Frauen besitzen größere Netzwerke, wobei der Anteil an Familienangehörigen und Verwandten höher ist als bei Männern. Es kommt aber, so die aktuelleren Studien, zu einer Angleichung. Frauen scheinen mehr und zeitaufwendigere soziale Unterstützungsaufgaben zu übernehmen. Sie scheinen auch mehr Ansprechpartner*innen für Probleme zu besitzen als Männer. Männer haben mehr berufliche Akteure in ihren Netzwerken, die höhere Positionen einnehmen. Sie verbinden mehr Subgraphen und ziehen mehr Vorteile aus beruflichen Beziehungen. Hinsichtlich der sozialen Unterstützung zeigt sich eine ungleiche Verteilung zwischen den Geschlechtern und es werden negative Seiten des Sozialkapital aufgezeigt. Beispielsweise sind Frauen durch ihr stärkeres soziales Engagement höheren psychischen Belastungen ausgesetzt. Geschlechterunterschiede mit Blick auf die Gesundheit findet man besonders im Jugendalter und im höheren Alter. In der Jugendphase steht das Risikoverhalten (z. B. Alkohol- und Zigarettenkonsum) und dessen Verbindung mit Selektions- wie Einflusseffekten von Netzwerken im Fokus. Im höheren Alter sind eher negative Auswirkungen auf die psychische wie physische Gesundheit zu beobachten, die eine Folge der u. a. durch Verwitwung kleiner werdenden Netzwerke darstellen.

Stefan Zapfel, Nancy Reims und Mathilde Niehaus konstatieren im Kap. „Soziale Netzwerke und Behinderung“, dass die arbeitsmarktbezogene Behinderungs- und Rehabilitationsforschung bisher weitestgehend auf die Verwendung von Netzwerktheorien verzichtet und ihr Analyse- und Erklärungspotenzial auf diesem Gebiet bei weitem noch nicht ausgeschöpft wurde. Wichtige wäre dies, weil Behinderungen in engem Zusammenhang mit Genese und Stabilität von Netzwerken stehen, die ihrerseits mit Zugang und Kontinuität von Beschäftigungsverhältnissen korrespondieren. Auch Netzwerkkontakte, die über wohlfahrtsstaatliche Institutionen aufgebaut oder aufrechterhalten werden, sind von Bedeutung. Die erfolgreiche Eingliederung ins Erwerbssystem hängt wesentlich von der Zugänglichkeit solcher Hilfen, dem Engagement sozialstaatlicher Akteure, deren Zusammenarbeit, der Teilnahmemotivation behinderter Menschen sowie dem individuellen Bildungshintergrund und sozialen Rückhalt ab.

Große Forschungslücken finden Annett Kupfer und Markus Gamper im Kap. „Migration als gesundheitliche Ungleichheitsdimension?“ Ethnische und migrationsbedingte Differenzen werden zwar zunehmend als Determinante gesundheitlicher Ungleichheit beforscht. Dabei sind die vorliegenden empirischen Ergebnisse zu „Migration und Gesundheit bzw. gesundheitlichen Ungleichheiten“ zum Teil jedoch widersprüchlich. Studien, die soziale Netzwerke als Einflussvariable hinzunehmen und damit natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, Gesundheit und soziale Netzwerke in ihrem Zusammenspiel beforschen, sind dagegen sehr selten und betrachten 1.) fast immer nur eine Bevölkerungsgruppe ohne 2.) den Blick zusätzlich auf vertikale Ungleichheitsdimensionen wie Einkommen oder Bildung zu weiten. Die meisten Studien benutzen 3.) den Begriff des Netzwerks eher als Metapher, als Synonym für Gruppe oder Sozialkapital, oder sie beforschen ausschließlich soziale Unterstützung als zentrale Funktion sozialer Netzwerke. Zu fragen bleibt, inwieweit die mit dem Begriff „Migration“ assoziierten Phänomene tatsächlich migrationsspezifisch, d. h., beispielsweise verbunden mit einem konkreten Migrationsprozess sind, oder ob nicht im Sinne der Intersektionalität andere soziale Gruppenzugehörigkeiten wie Klasse oder Geschlecht (höheren) Erklärungsgehalt für gesundheitliche Ungleichheiten besitzen.

Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen mitunter, aufgrund der teilweise noch unbefriedigenden Forschungslage, nur auf Einzelaspekte dieses Modells ein. Zusammengeführt und vor dem Hintergrund unseres theoretischen Modells diskutiert werden die Ergebnisse aus den einzelnen Bereichen daher im abschließenden vierten Teil des Bandes, in dem wir Forschungsdesiderata benennen und Anregungen für zukünftige Forschungen geben (siehe Kap. „Desiderata: Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten“). Wir möchten damit, wie vielfach gefordert (z. B. Kienle und Stadler 2012; Govia et al. 2011), die theoretische Auseinandersetzung im Feld der Gesundheitswissenschaften bereichern und dazu beitragen, dass Begriffe wie „Soziales Netzwerk“, „Soziale Integration“ und „Soziale Unterstützung“ präziser gebraucht werden. Wenn unser Sammelband netzwerktheoretisch informierte empirische Studien zum Einfluss und zur Bedeutung sozialer Netzwerke für die Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten anleiten würde, hätte unser wissenschaftliches Netzwerk sein Ziel erreicht.

Braunschweig, Berlin, Halle an der Saale, Hamburg und Köln im April 2019.

Leseempfehlungen

Berkman, L. F., & Glass, T. (2000). Social integration, social networks, social support, and health. In L. F. Berkman & I. Kawachi (Hrsg.), Social epidemiology (S. 137–173). New York, NY [u. a.]: Oxford University Press. Diskussion und Fruchtbarmachung wichtiger Konzepte der Netzwerktheorie und -analyse für die Gesundheitsforschung. Der Beitrag enthält ein umfassendes Makro-Meso-Mikro-Modell zum Einfluss sozialer Netzwerke auf Gesundheit.

Dahlgren, G., & Whitehead, M. (2006). European strategies for tackling social inequities in health: Levelling up Part 2. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe. Einflussreiches Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten mit einem Fokus auf politische Handlungsstrategien zu deren Bekämpfung.

Elkeles, T, & Mielck, A. (1997). Entwicklung eines Modells zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit. Gesundheitswesen, 59, S. 137–143. In der deutschsprachigen Sozialepidemiologie sehr einflussreiches Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten.

Fuhse, J. (2010). Netzwerke und soziale Ungleichheit. In C. Stegbauer (Hrsg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften (S. 79–90). Wiesbaden. Einer der wenigen Aufsätze, die sich explizit und systematisch mit dem Zusammenhang von sozialen Netzwerken und sozialen Ungleichheiten beschäftigen.

Pescosolido, B. A. (2006). Of pride and prejudice: The role of sociology and social net-works in integrating the health sciences. Journal of Health and Social Behavior, 47(3), S. 189–208. Instruktiver theoretischer Beitrag, der die Bedeutung soziale Netzwerke in den Gesundheitswissenschaften hervorhebt.

Valente, T. W. (2010). Social networks and health. Models, methods, and applications. Ox-ford, New York: Oxford University Press. Englischsprachige Einführung zur Bedeutung soziale Netzwerke für Gesundheit.