Zusammenfassung
Das Problem der Schulreife beschäftigt Lehrer, Kinderärzte, Pädagogen, Psychologen und Kinderpsychiater nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert. Zu seiner Lösung wurden sehr unterschiedliche theoretische Konzepte entwickelt bzw. wechselnde praktische Maßnahmen empfohlen. Schon in den 30er Jahren löste das Leistungsversagen eines verhältnismäßig großen Anteils von Schulanfängern bei Pädagogen, Psychologen und Ärzten erste Überlegungen aus, wie den damit verbundenen nachteiligen Folgen sowohl für die weitere Schullaufbahn der Kinder als auch für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung zu begegnen sei. Bereits damals entstand das Konstrukt der Schulreife. Dies orientierte sich weitgehend an den biogenetischen Reifungstheorien jener Zeit, denen zufolge somatische und psychische Reifungsvorgänge im Organismus, die um das sechste Lebensjahr ablaufen sollen, entscheidende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewältigung schulischer Anforderungen schaffen (Zeller 1936; Seiinka 1940). In der Nach-kriegszeit machte Artur Kern mit seiner 1951 erstmals publizierten Streitschrift „Sitzenbleiberelend und Schulreife“ auch eine breite Öffentlichkeit auf eine Situa–tion aufmerksam, die aus pädagogisch-psychologischer und aus kinderärztlicher Sicht nicht mehr zu verantworten war: Mehr als ein Viertel aller Schüler wurde nach den von ihm vorgelegten Daten wenigstens einmal nicht versetzt, ein erheblicher Prozentsatz erreichte sogar keinen regulären Schulabschluß. Diese Zahlen wurden zwar in der anschließenden kontroversen Diskussion seiner Thesen vielfach als zu hoch bezeichnet, doch nach Rüdiger et al. (1976) entfiel auch im Schuljahr 1969/1970 noch immer etwa ein Viertel (24,7%) aller Sitzenbleiber auf das erste Schuljahr. Abgesehen davon, daß Repetenten nur in einem geringen Teil der Fälle von einer Klassenwiederholung profitieren, wie inzwischen durch zahlreiche Untersuchungen belegt werden konnte (Kemmler 1967; Edelmann 1969; Tiedemann 1977), führt das Erlebnis schulischen Mißerfolgs auch zu nachhaltigen psychischen Belastungen, wie Motivationsverlust, Unsicherheit, Schulangst, Schulunlust und Selbstwertprobleme, die sich u.U. auch in psychosomatischen Störungen niederschlagen können (Grotloh–Amberg 1971; Nickel 1976, 1979).
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Nickel, H. (1989). Das Problem der Schulreife — Eine systemische Analyse und ihre praktischen Konsequenzen. In: Normale und gestörte Entwicklung. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-83841-5_5
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