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Die vermessene Bildung

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Das Soziale gestalten
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Auszug

„Jede öffentliche Erziehung aber, da immer der Geist der Regierung in ihr herrscht, giebt dem Menschen eine gewisse bürgerliche Form“ (Humboldt 2002a: 107). Wilhelm von Humboldts Ablehnung des Staates als Organisator von institutionalisierter Bildung gründet in dem berechtigten Verdacht, dass überall dort, wo der Staat sich in Bildungsangelegenheiten einmischt, der „Mensch dem Bürger geopfert“ wird (ebd.: 106). Damit formuliert er einen Grundwiderspruch, der konstitutiv für die moderne Gesellschaft ist und sich dort zeigt, wo der Grad der Anpassung an das jeweils historisch-gesellschaftlich Bestehende zur Disposition steht. Mit der durchaus versöhnenden Vorstellung, dass der Mensch als Schöpfer seiner Geschichte auf der Suche nach gesellschaftlicher Integration einer Humanität verpflichtet bleiben muss, die es ihm erlaubt, die Mannigfaltigkeit der Menschen in einem Prozess unaufhörlicher Auseinandersetzung mit sich und der Welt anzuerkennen, verbindet er die Hoffhung auf eine offene, dabei aufgeklärte Zukunft. Da sich die spezifische gesellschaftliche Bedingtheit der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts in nuce schon andeutete, war es ihm ein Anliegen, den Widerspruch durch Bildung zu vermitteln, dabei aber die Unverfügbarkeit und die Besonderheit des Individuums zu würdigen. „Der Mensch,“ so schreibt er, „ist mehr und noch etwas anderes, als alle seine Reden und Handlungen, und selbst als alle seine Empfindungen und Gedanken; und wie genau man auch ein Individuum kennen mag, so versteht man immer nur einzelne seiner Äußerungen und leistet sich niemals ein Genüge, wenn man nunmehr alles zusammennehmen, dasjenige, was es eigentlich ist, und dies auf einmal aussprechen will“ (Humboldt 2002b: 475/476). Zugleich sei der menschliche Organismus mit einem lebendigen Verstand ausgestattet, der zu Urteilskraft und Mündigkeit befähige. Unter diesen anthropologischen Voraussetzungen könne das Individuum die geschichtliche Dynamik denkend und handelnd und in moralischer Verantwortung lenken. Diese geschichtliche Dynamik erklärt sich aber nicht nur allein aus der Vorstellung einer die Generationen übergreifenden, auf Verbesserung angelegten Gesellschaft, sondern ihr ist von vornherein eine kritische Haltung implizit, die dort ihre Wirksamkeit entfaltet, wo es darum geht, den „Begriff der Menschheit in unserer Person“ (Humboldt 2002c: 235) gegen die sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Zumutungen zu verteidigen. Entsprechend wohnt für Heinz-Joachim Heydorn Humboldts Bildungsbegriff eine Widerstandigkeit inne, die dann zum Erlöschen gebracht werde, wenn Bildung sich einseitig auf die gesellschaftlichen Bedingungen hin ausrichte: „Wo auch immer ausschlieβlich auf diese Welt hin gebildet wird, erhält die Bildung nicht nur den Charakter frühzeitiger sozialer Determination, sondern der Mensch wird über den Prozess seiner Anpassung intellektuell paralysiert“ (Heydorn 1995: 136). Für Humboldt wie für Heydorn gilt daher die kritische Distanz zum politischen Geschäft als conditio sine qua non einer Bildung, die mehr ist als nur das oberflächliche Wissen oder Können im Hinblick auf die Notwendigkeit des Lebenserhalts.

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Tarek Badawia Helga Luckas Heinz Müller

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© 2006 VS Verlag für Sozialwissenschaften|GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden

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Borst, E. (2006). Die vermessene Bildung. In: Badawia, T., Luckas, H., Müller, H. (eds) Das Soziale gestalten. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90026-1_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-90026-1_3

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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