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Die kommunikative Konstruktion der Mathematik

Zur Rolle körperlicher Performanz im Umgang mit mathematischen Zeichen

  • Chapter
Kommunikativer Konstruktivismus

Part of the book series: Wissen, Kommunikation und Gesellschaft ((WISSEN))

  • 9879 Accesses

Zusammenfassung

Mathematisches Wissen ist in besonderer Weise mit einem eigentümlichen Zeichensystem verknüpft, in welchem sowohl mathematische Gegenstände („Terme“) als auch mathematische Sachverhalte („Formeln“) ausgedrückt werden können. Treten Zeichen dieser Art in anderen Wissenschaften auf, so vor allem deshalb, weil man sich oft der Mathematik als eines Modellierungsinstrumentes bedient. Die enge Verbindung der Mathematik mit ihrem Symbolismus hat sogar dazu geführt, dass dieser bisweilen als ein Symbol zweiter Ordnung für jene als gesamte Wissenschaft fungiert – etwa als undurchdringlicher „Formelsalat“ auf Buchcovern oder in Karikaturen. Neben diesen populären Zuschreibungen gab es auch in der Philosophie der Mathematik immer wieder ernsthaftere Tendenzen, die Mathematik mit ihren in symbolischen Zeichen ausgedrückten Aussagen zu identifizieren. Dies gilt in besonderer Weise für Begründungsprogramme wie den Formalismus Hilberts, der die Mathematik zunächst als rein „formale“, syntaktische Manipulation von Zeichenreihen konzipiert, oder den Logizismus Freges, der die Mathematik auf wahre logische Axiome zurückführen will. Trotz ihrer Verschiedenheit und trotz ihres letztendlichen Scheiterns haben solche Konzeptionen dazu beitragen, dass sich in der Philosophie (und nicht nur dort) ein Bild von Mathematik verfestigt hat, in dem natürlich-sprachliche und körperliche-performative Rahmungen symbolischer Zeichen lediglich als Marginalien angesehen werden.

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Notes

  1. 1.

    Eine deutschsprachige Übersicht über dieses Feld liefert Knoblauch (2010).

  2. 2.

    Die erste und bisher einzige größere Studie, die eine soziologische Annäherung an die Mathematik auf ethnographischer Basis versucht, stammt von Bettina Heintz (2000). Neben dieser immer noch vergleichsweise theoretisch ausgerichteten Studie seien noch die ethnomethodologischen Arbeiten Christian Greiffenhagens (2005; 2008; 2011a; 2011b) genannt.

  3. 3.

    Siehe dazu Knorr-Cetina (1991 [1981]), Rheinberger (1994), Pickering (1995) und Belliger/Krieger (2006).

  4. 4.

    In diesem Sinne äußert sich auch Heintz: „Die Mathematik zeichnet sich durch epistemische Besonderheiten aus, die es fraglich machen, ob sie sich dem konstruktivistischen Programm tatsächlich nahtlos fügt. Insofern stellt die Mathematik für die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie einen besonders instruktiven Testfall dar.“ (2000: 10)

  5. 5.

    Eine solche sozialkonstruktivistische Interpretation der Mathematik wird auch von Heintz nahegelegt (2000: 87).

  6. 6.

    Dies ist auch einer der wesentlichen Kritikpunkte Knorr-Cetinas am Sozialkonstruktivismus und ein Motiv ihres Plädoyers für einen empirischen Konstruktivismus in der Wissenschaftssoziologie (1989).

  7. 7.

    Darauf deuten auch die Ergebnisse einer videobasierten Studie zu „Zeigen und Wissen“ in Powerpoint-Präsentationen hin, die von Hubert Knoblauch durchgeführt wurde: „Wie schon gesagt, ist ja die Performativität nicht auf die Sprechakte und die projizierten Zeichen beschränkt, sondern baut wesentlich auf den Gesten und anderen körperlichen Aktivitäten auf. Erst körperliche Aktivitäten wie das Zeigen erzeugen einen Sinnüberschuß, der die Kommunikation in der Situation gelingen läßt.“ (Knoblauch 2007: 135)

  8. 8.

    Melanie Brinkschulte (2007) spricht im Rahmen ihrer Untersuchung von Powerpoint-Präsentationen in Ökonomie-Vorlesungen auch von „lokaldeiktischen Prozeduren“, die sich dort allerdings auf Texte (und nicht auf symbolische Zeichen) beziehen.

  9. 9.

    Mit Goffman könnte man diesen Spielzug auch als „turn“ bezeichnen, der aus einem einzigen „move“ besteht (1981: 111)

  10. 10.

    Rein formal gesehen handelt es sich beim „Einsetzen“ um die Substitution der freien Variable a im Ausdruck f(a) durch einen Term t. Hier ist konkret f = B+ und t = •x + Nx.

  11. 11.

    Unter Zuhilfenahme Heideggerscher Terminologie läßt sich auch sagen, dass sich Thorsten im Rahmen seiner Erklärung die entsprechenden Zeichen zuhanden macht, sie also als Zuhandene im Handlungsvollzug rekonstruiert. Der Terminus „Zuhanden-Sein“, den Heidegger im Rahmen seiner Fundamentalontologie in „Sein und Zeit“ entwickelt, meint so etwas wie eine ursprüngliche Bezüglichkeit der Gegenstände der Welt auf ihre Verwendbarkeit („Handhabbarkeit“) durch den terminologisch als „Dasein“ gefassten Menschen (1993 [1926]).

  12. 12.

    In diese Richtung argumentiert aus der Perpektive der Ethnomethodologie auch Michael Lynch (1993).

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Kiesow, C. (2013). Die kommunikative Konstruktion der Mathematik. In: Keller, R., Reichertz, J., Knoblauch, H. (eds) Kommunikativer Konstruktivismus. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19797-5_14

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