Zusammenfassung
Die Interpretation der in den Diskursen produzierten Texte zielt auf die Verbegrifflichung von Phänomenen, die zwar im diskursiven Prozeß objektiviert, begrifflich aber nicht expliziert werden. Voraussetzung dafür ist ein Verstehenl, der verstehende Nachvollzug der im Text bereits entfalteten Begrifflichkeiten und der wechselseitigen Interpretation der am Diskurs Beteiligten — mit all den methodischen Problemen, wie ich sie in ihren Konsequenzen für die empirische Verfahrensweise bereits behandelt habe.
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Anmerkungen
Ich folge hier der Terminologie Mannheims, der mit “Verstehen” das vorreflexive Erfassen und mit “Interpretation” das theoretisch-reflexive begriffliche Erfassen meint: “die stets auf diesen Erfassungen beruhende, aber sie niemals erschöpfende theoretisch-reflexive Explikation des Verstandenen” (Mannheim 1980, S. 272).
Das Problem der psychischen oder bewußtseinsmäßigen Repräsentanz der Kollektivvorstellungen wird von Mannheim angesprochen: “Kein einziges Gruppenindividuum (insbesondere wenn der Erfahrungsraum der Gruppe sehr reich an Kollektivvorstellungen ist) besitzt alle Wißbarkeiten, die für die betreffende Gruppe als Gruppenerfahrungen bereits vorhanden sind. Die Gesamtheit aller Wißbarkeiten verteilt sich auf verschiedene Individuen, sie nehmen jeweils nur teil an einem bestimmten Ausschnitt der in einem kollektiven Erfahrungsraum möglichen Vorstellungen. Dennoch bilden diese Ausschnitte in ihrer Gesamtheit ein organisches Ganzes, das als Ganzes ‘in keinem Kopf vorhanden ist’ und dennoch in einem gewissen Sinne über der Gruppe ‘schwebt’” (Mannheim 1980, S. 232). Wie schon in der Art der Formulierung, in der metaphorischen Umschreibung deutlich wird, ist dies Problem für Mannheim nicht geklärt. Die Art der Existenz bzw. bewußtscinsmäßigen oder psychischen Repräsentanz der Kollektivvorstellungen bleibt fraglich: “Die einzelnen Seelen der an der Gemeinschaft Beteiligten aktualisieren ja im Vollzuge - im Erleben oder Denken - der Kollektivvorstellungen nur etwas, was vor dieser Aktualisierung und noch lange Zeit nach ihr irgendwie da war. Aber die Frage ist: wie ist es da?” (Mannheim 1980, S. 232).
Konjunktive Erfahrung ist für Mannheim ursprünglich die durch die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung - grundlegend: Berührung - des anderen gegebene unvermittelte, d.h. nicht durch “Zeichen” vermittelte Erfassung des Fremdseelischen, also die Kontagion, die mit dem Begriff der face-to-face-Kommunikation nur unzureichend erfaßt, aber für die Gruppensoziologie von enormer Bedeutung ist. Diese Art der Erfassung des anderen geht der durch “vermittelnde Sinngebilde”, also “Zeichen” wie Ausdrucksbewegungen und Sprache gegebenen Verständigung voran, ist deren Grundlage. - Zum Verständnis von Kontagion und konjunktiver Erfahrung ist auch von Bedeutung die von Mannheim an anderer Stelle (1964a, S. 113 ff.) dargelegte Unterscheidung zwischen Sinnzusammenhängen, die durch “Zeichen” und solche, die durch “Gestaltung” realisiert werden, also ihren unmittelbaren, nicht durch Zeichen vermittelten Ausdruck finden.
Die Kollektivvorstellungen sind der Niederschlag der perspektivischen, jedoch stereotypisierten, d.h. auf einen bestimmten Erfahrungsraum bezogenen konjunktiven Erfahrungen: sie sind nur erfaßbar und gelten in diesem Sinne nur für jene, die an ihnen in Existenz teilhaben“ (Mannheim 1980, S. 231).
Da das Moment der Stereotypisierung durchaus analog zur Typenhaftigkeit, zur “typischen Erfahrung” bei Schütz (1971, u.a. S. 8 ffg.) verstanden werden kann und die “geistigen Realitäten” bei Mannheim mit dem Entwurfscharakter des Handeln und den Um-zu-Motiven bei Schütz in Übereinstimmung zu bringen sind, können wir die auf der Grundlage der Mannheimsehen Methodologie entwickelte Defintion von Kollektivvorstellungen auf kollektive Orientierungen übertragen.
In geschlechtsspezifischer und milieuspezifischer Ilinsicht finden sich hier Unterschiede.
S. dazu die Ausführungen “Zur Konstitution von Kommunikationschemata der Sachverhaltsdarstellung” von Kallmeyer u. Schütze 1977.
Zum Begriff der “Indexikalität” s. vor allem Garfinkel 1973.
Gestaltung“ ist der Weg, auf dem ein ”seelischer Gehalt“ nicht durch Zeichen - also sozusagen auf dem Umweg über Zeichen - und damit typenhaft vermittelt wird, sondern wo ein seelischer Gehalt unvermittelt, unmittelbar zum Ausdruck gelangt (Mannheim 1964a, S. 113 ff.) im Sinn einer Kontagion als Basis konjunktiver Erfahrung.
Die Art von Metapher, wie sie hier zumeist gemeint ist, nennen Lakoff und Johnson (1980) “Synekdoché” (“synecdoche”): Teile bzw. Aspekte eines Gegenstandes - in unserem Fall einer sozialen Beziehung - werden herangezogen, um den ganzen Gegenstand - die gesamte soziale Beziehung - zu charakterisieren. Dies setzt ein Denken nach Art der dokumentarischen Methode - also ein Denken in Ilomologien - voraus.
Mannheim setzt sich mit seiner Bestimmung der Kollektivvorstellungen sowohl von Durkheim als auch von Weber ab. In Wendung gegen das Durkheimsche Postulat, soziale Tatsachen wie Dinge zu behandeln, bemerkt er (1980, S.231): “Dagegen läßt sich aber einwenden, daß diese Benennung äußerst mißverständlich ist, da Dinge noch etwas ganz anderes sind als jene Phänomene, die wir mit Durkheim zu bestimmen versuchen. - Und mit Bezug auf Weber heißt es (1980, S. 250): ”Der übertriebene theoretische Nominalismus Max Webers ließ ihn diese Gebilde in einer Weise konstruieren, in der sie mit dem gemeinten ‘Sinn’ des einzelnen erlebenden Subjekts zusammenfielen.
“Sowohl gelegentlich einer Ausdrucks-Interpretation wie bei einer Dokument-Interpretation kann es vorkommen, daß man von hinter den Werken stehenden Kollektivsubjekten spricht; sieht man aber näher zu, so findet man, daß man ein jedes Mal etwas anderes darunter notwendiger Weise verstehen muß. Da gemeinter Ausdruckssinn nur einem realen Subjekte bzw. dessen Erlebnisstrom adäquaterweise zugeschrieben werden kann, so versteht man unter durch Gemeinschaft intendiertem Ausdruckssinn, in völliger nominalistischer Fassung, den durch die einzelnen realen Subjekte dieser Gemeinschaft durchschnittsmäßig gemeinten Sinn” (Mannheim 1964a, S.125 f.).
In Mannheims Aufsatz: “Das Problem der Generationen” (1964a) wird die Gefahr deutlich, daß sich die begriffliche Konstruktion in die Darstellung der Tatbestände einschleichen kann: So, wenn Mannheim mit Bezug auf Generationseinheiten von “Grundintentionen” spricht, womit eine zielgerichtete Eindeutigkeit assoziiert ist, die allzumal, wenn es sich um Gruppen Jugendlicher handelt, der figurativen und prozessualen Struktur von Wirklichkeitskonstruktionen, wie wir sie mit dem Begriff des Rahmens nennen, nicht gerecht wird.
In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Matthes (1985) aufschlußreich: In seinem “Versuch, den Generationstheoretiker Mannheim mit dem Denksoziologen Mannheim zu kritisieren und daraus weiterführende Einsichten zu gewinnen” (S. 370) kann Matthes zeigen, daß Mannheim als Generationstheoretiker eine Begrifflichkeit entwickelt, mit der er hinter seine Einsichten zur Künstlichkeit begrifflicher Abstraktion zurückfällt.
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© 1989 Leske + Budrich, Opladen
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Bohnsack, R. (1989). Zur dokumentarischen Methode der Interpretation. In: Generation, Milieu und Geschlecht. Biographie und Gesellschaft, vol 8. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97196-8_5
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