Zusammenfassung
Bevor die Soziologie von Georg Simmel für eine Analyse der Gegenwartsgesellschaft fruchtbar gemacht werden kann, muß man sich mit drei Arten von Einwänden gegen die Reaktualisierung der Klassiker, insbesondere des Klassikers Simmel,1 auseinandersetzen. Ein solches Unternehmen ist heute wie zu seiner Zeit typischen Kritiken ausgesetzt. Eine Gruppe von Einwendungen stellt die Eignung seiner Überlegungen als Ausgangspunkt zur Entwicklung einer soziologischen Perspektive in Frage, weil sie der Vermutung folgen, daß zentrale substantielle und methodische Problemstellungen in unbefriedigender Weise gelöst sind (2.1). In der zweiten Kritiklinie wird auf die besondere Bedeutung des zeitgeschichtlichen und lokalen Entstehungskontextes des Werks verwiesen, um den Überlegungen die Verwendbarkeit für die Analyse gegenwärtiger Vergesellschaftungsprozesse abzusprechen (2.2). Und drittens wird häufig die Vermutung geäußert, daß der Rückbezug auf die Klassiker zwar zur Identitätsbildung der Soziologie beiträgt, aber in theoretischer Hinsicht für die gegenwärtigen Probleme soziologischer Theoriebildung und aktuelle Fragen der Gesellschaftstheorie belanglos geworden ist (2.3).
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Literatur
Die Differenz beider Fragestellungen betont Rammstedt (1995a: 99).
Kracauer (1922: 109), vgl. aber klärend Bevers (1985).
Eleutheropulos (1909: 447), vgl. auch Abel (1965: 28 (1929)) und Coser (1965: 8).
Nordenholz (1909: 417; vgl. auch Weber (1972 (1908)) und Parsons (1994: 65); im Gegensatz hierzu später Becher (vgl. 1971) mit der Interpretation des Wechselwirkungsbegriffs als dem zentralen Konzept der Soziologie Simmels. Diese Annahme teilt auch Bevers (vgl. 1985), dem Wechselwirkung, gemeinsam mit der Unterscheidung von Form und Inhalt, ebenfalls als zentrales Konzept gilt.
Vgl. Spann (1923).
Vgl. Spann (1923).
Oppenheimer (1909: 81).
So meint etwa Freyer, daß die formale Soziologie Simmels die “trübe Flut des gesellschaftlichen Lebens” und damit die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht erfasse, weil sie dem “Raub” des Formbegriffs zum Opfer fiele (Freyer 1930: 55).
Vgl. (1981).
Coser (1958: 639) betont, daß Simmel von Anfang an gegen elementare Regeln des Wissenschaftsbetriebs — intellektuelle Disziplin, Beachtung fixierter Standards der Schülerschaft und disziplinäre Grenzziehungen — verstieß und in eine sich selbst verstärkende Entfremdung von diesem einmündete. “His auxiliary status in the academy exerted pressure on him to find a supportive audience at the margin of the academy, and the attempt to live up to their expectations which he had provoked involved him in a further process of alienation from the demands of the academy.”
(1958:609).
Vgl. (1988).
Vgl. (1992).
Vgl. (1985), siehe auch Dahme/Rammstedt (1984) und Nedelmann (1990).
Vgl. di Fabio (1991).
Vgl. Luhmann (1993 (1981)).
Vgl. Cron (1927).
Vgl. Hoeber (1918).
Vgl. den historischen und sozialen Kontext des Wilhelminischen Deutschland, der großstädtischen bildungsbürgerlichen Bezugsgruppen und die Tradition des assimilierten deutschen Judentums in ihrer Bedeutung für Simmel systematisch rekonstruierend Sigmund (1993).
Die Semantikgeschichte des Begriffs Moderne (vgl. Gumbrecht (1983)) rekonstruiert drei Bedeutungsvarianten: a) “gegenwärtig” im Gegensatz zu “vorhergehend”, b) “neu” im Gegensatz zu “alt”, und c) “vorübergehend” im Gegensatz zu “ewig”. Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert findet sich die Transformation vom Epochenbegriff der Moderne (b) zum Bewegungsbegriff der Moderne (c). Beide Bedeutungen sind so ineinander verschränkt, daß formal die Moderne als “Epoche in Bewegung” (Baudelaire) definiert warden kann, die soziologisch dann als sozial dominierendes Bewußtsein von der Moderne als Bewegung fruchtbar wird. Plausibilisieren kann man diese Definition, wenn man ihr eine inhaltliche Begründung zur Seite stellt: die Idee, daß die Moderne mit dem Einsetzen systematischen Zweifeins bei Descartes beginnt (vgl. Kemmerling (1996: 8) und Schnädelbach (1996)). Aus dieser Annahme folgt, daß die Moderne eine neue Epoche einleitet, weil von nun an Systematik und Rationalität die Kultur zu dominieren beginnen, aber zugleich mit dem auf Dauer gestellten Zweifel — auch an der Dominanz von Systematik und Rationalität -und der damit gegebenen Möglichkeit zur Reflexivität und Selbstreflexivität diese Rationalität nicht erstarren kann, sondern permanent in Bewegung bleibt.
Vgl. Müller (1993: 128).
Vgl. (1968) und im selben Tenor auch Schulze (1996: 54) mit der Aufforderung die “Kunst des Vergessens” als eines der wichtigsten Handwerkszeuge der Soziologie zu pflegen.
Vgl. Barrelmeyer (1992).
Vgl. Luhmann (1988 (1977)).
Vgl. Rammstedt (1995: 517).
Vgl. Tenbruck(1991:35).
Vgl. Giddens (1987: 26), Rammstedt (1988).
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Junge, M. (2000). Gesellschaftstheorie im Anschluß an Simmel?. In: Ambivalente Gesellschaftlichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93213-6_2
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