Im deutschen Gesundheitssystem zeigt sich seit vielen Jahren eine steigende Auslastung, somit beispielsweise auch der wachsende Bedarf an rund um die Uhr zur Verfügung stehenden notfallmedizinischen Ressourcen. Ursächlich hierfür wird unter anderem eine vermehrte Versorgung von vermeintlich leicht verletzten/erkrankten Patienten vermutet. Genaue Zahlen, die diese These unterstützen, existieren jedoch kaum, sind jedoch notwendig, um eine gute Versorgungsqualität erhalten zu können. In dieser Arbeit werden exemplarisch anhand von bestimmten Einsatzvariablen eines Notarzteinsatzfahrzeugs in Frankfurt diese Aspekte untersucht.
Einleitung
Das notarztgestützte Rettungssystem in Deutschland hat sich seit vielen Jahren bewährt, steht aber seit einiger Zeit vor der Herausforderung immer weiter steigender Einsatzzahlen. Der Bundesanstalt für Straßenwesen zufolge hat sich nicht nur die Anzahl der bundesdeutschen Notfalleinsätze ohne Notarztbeteiligung von 1994/1995 bis 2016/2017 mehr als verdoppelt, sondern auch jene mit Notarztbeteiligung zeigten einen starken Anstieg und verdoppelten sich zahlenmäßig in diesem Zeitraum [
31].
Die Frage, welche konkreten Ursachen dieses stark gesteigerte Einsatzaufkommen bedingen, ist jedoch unzureichend geklärt. Die Beantwortung ist allerdings notwendig, um effektive Maßnahmen zur Entlastung des Rettungsdienstsystems ergreifen zu können. Oft wird eine vermehrte Inanspruchnahme von Rettungsmitteln bei verhältnismäßig leichten Erkrankungen oder Verletzungen vermutet [
9,
13]. Immer wieder rückt dabei der Begriff des „Fehleinsatzes“ oder der „Fehlfahrt“ in den Mittelpunkt der Diskussionen. In Arbeiten von 1998 bis 2001 werden Fehleinsatzquoten von bis zu 40 % beschrieben [
1,
14,
19]. Im Frankfurter Stadtgebiet erfolgt die Einschätzung der Erkrankungsschwere des Patienten über eine Einteilung in vier Behandlungsprioritäten [
23]. Anhand dieser kann u. a. die Anzahl an Patienten nachvollzogen werden, die keinen Transport in eine Behandlungseinrichtung benötigen. Auf der anderen Seite wird die veränderte Altersstruktur mit immer mehr älteren multimorbiden Patienten als möglicher Teilaspekt für die steigenden Einsatzzahlen diskutiert [
3,
5].
Für deutsche Standorte liegen wenige Daten zu notarztbesetzten Rettungsmitteln vor, die die Entwicklung über einen längerfristigen Zeitraum untersuchen. Außerdem fehlen Zahlen, die den Verdacht von immer mehr gegebenenfalls nichtindizierten Einsätzen stützen. Die vorliegende Studie soll die These von steigenden Notarzteinsätzen in einem der sechs Notarztversorgungsbereiche der Stadt Frankfurt am Main in den letzten sechs Jahren untersuchen. Außerdem soll die Annahme von einem steigenden Anteil der Einsätze mit nur leicht erkrankten Patienten, die keine ärztliche Behandlung benötigen, überprüft werden.
Die Bewertung der genannten Untersuchungsschwerpunkte soll weitere Anhaltspunkte in der Ursachenforschung für das veränderte Einsatzaufkommen geben. Diese wiederum können in Zukunft helfen, eine effizientere Nutzung der notärztlichen Ressourcen zu gewährleisten sowie eine Vorhersage des tatsächlichen Bedarfs zu treffen, um einer Überlastung des Notarztsystems rechtzeitig entgegenzusteuern.
Material und Methoden
Einsatzgebiet und notärztliche Infrastruktur
Das Stadtgebiet Frankfurt ist in sechs verschiedene Notarztversorgungsbereiche (NVB) eingeteilt. Diese Bereiche verfügen jeweils über einen erstzuständigen Notarztstandort. Somit wird das Frankfurter Stadtgebiet durch insgesamt sechs Notarzteinsatzfahrzeuge (NEF) bedient. Dabei ist zu beachten, dass zwei der sechs NEF nicht 24 h pro Tag im Dienst sind. Die betroffenen Bereiche werden in der Nacht durch die anderen NEF bedient.
Die Auswertung dieser Arbeit basiert auf Einsatzdaten des NEF 4. Die Besatzung besteht aus einem Notarzt/einer Notärztin sowie einem Mitarbeiter des Rettungsdiensts, welcher die Ausbildung zum Rettungsassistenten oder Notfallsanitäter absolviert hat. Das notärztliche Personal wird durch ärztliche Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen der anästhesiologischen, internistischen und unfallchirurgischen Abteilung des Universitätsklinikums Frankfurt besetzt.
Datenerfassung und -analyse
Im Rahmen der retrospektiven Untersuchung wurden die Daten der bodengebundenen Einsätze des an der Universitätsklinik Frankfurt stationierten NEF 4 ausgewertet. Der beobachtete Zeitraum erstreckt sich vom Jahr 2014 bis einschließlich 2019. Die genutzten Daten werden nach dem notärztlichen Einsatz durch die NEF-Besatzung routinemäßig an die Leitstelle weitergegeben und mithilfe der Anwendung IVENA eHealth erfasst. Diese dient vor allem dem Informationsaustausch zwischen dem Rettungsdienst und den Krankenhäusern und führt zu einer verbesserten Patientenzuweisung in die verschiedenen Krankenhäuser.
Jede Alarmierung wurde als notärztlicher Einsatz gewertet. Außerdem wurde, falls mehrere Patientenkontakte vor Ort vorlagen, jeder Patientenkontakt als einzelner Einsatz berücksichtigt. Dies betraf jedoch maximal 2–3 % der Gesamteinsätze pro Jahr.
Die Entscheidung über eine NEF-Alarmierung wird mithilfe eines Notarztindikationskatalogs getroffen, welcher über den beobachteten Zeitraum nicht überarbeitet wurde.
Weiterhin wurden die Einsätze wie folgt klassifiziert:
Über den Wert der Einsatzzeit wurde eine Unterteilung in die Kategorien Tageseinsätze (06:00–19:59 Uhr) und Nachteinsätze (20:00–05:59 Uhr) vorgenommen.
Die notärztliche Intervention vor Ort unterteilte sich in Behandlung vor Ort, Behandlung mit Transport/Begleitung und keine Tätigkeit. Von Letzterer können noch Einsätze unterschieden werden, bei denen der Notarzt auf dem Weg zur Einsatzstelle abbestellt wurde (Abbestellungen). Dies kann entweder auf Veranlassung der Leitstelle aufgrund einer kürzeren Anfahrtszeit eines anderen NEF oder durch bereits eingetroffenes Personal des Rettungsdiensts erfolgen.
Zur Einschätzung der Dringlichkeit der notärztlichen Versorgung wurde die Einteilung in Behandlungsprioritäten verwendet [
23]:
-
Kategorie (Kat.) 1: sofortige Intervention im Krankenhaus, sofortiger Arztkontakt, z. B. Schockraum/Stroke-Unit
-
Kat. 2: stationäre Aufnahme wahrscheinlich, aber kein unmittelbarer Handlungsbedarf (Krankenhausaufenthalt > 24 h)
-
Kat. 3: vermutlich ambulante Behandlung ausreichend oder Ausschlussdiagnostik (Krankenhausaufenthalt < 24 h)
-
Kat. 0: keine Dringlichkeit (kein Transport in eine Behandlungseinrichtung)
Die Alarmierungsart gliederte sich in (1) Primäreinsätze, bei denen das Notarztfahrzeug gemeinsam mit einem Rettungswagen zum Einsatzort alarmiert wurde, in (2) Nachforderungen, bei denen initial nur ein RTW alarmiert wurde und der Notarzt z. B. durch das Rettungsdienstpersonal nachgefordert wurde, und in (3) sonstige Einsätze (z. B. überörtliche Anforderung, Verlegungen, Einweisungen).
Folgende Altersgruppen wurden gebildet: Kinder (0–12 Jahre), Jugendliche (13–18 Jahre), Erwachsene (19–64 Jahre) und Senioren (≥ 65 Jahre).
Statistik
Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Statistikprogramm RStudio (RStudio Inc., Boston, MA, USA). Dabei wurden die Hypothesen mithilfe des Poisson-Tests, des Chi-Quadrat-Tests und des Jonckheere-Terpstra-Tests untersucht. Dabei wurde der Chi-Quadrat-Test global auf alle Jahre angewendet, um einen Unterschied in der Verteilung zu untersuchen. Eine Fehlerwahrscheinlichkeit p < 0,05 wurde als statistisch signifikant gewertet.
Bei der Auswertung der Dringlichkeitskategorie, des Einsatzanlasses und des Patientenalters wurden die Einsätze ohne notärztliche Tätigkeit ausgeschlossen, da dort durch den fehlenden Patientenkontakt keine Angabe zu diesen Kategorien erfolgen konnte.
Diskussion
Die Auswertungen bestätigen die in der Arbeit geprüfte Hypothese einer Einsatzzunahme des betrachteten Frankfurter NEF von 2014 bis 2019. Insgesamt stieg das Einsatzaufkommen um über 20 % innerhalb dieser 6 Jahre an. Auch die Annahme von einem steigenden Anteil an Einsätzen der niedrigsten Behandlungspriorität sowie Einsätzen, bei denen keine notärztliche Behandlung notwendig ist, bestätigt sich. Nichtsdestotrotz wird der Notarzt auch bei einer steigenden Gesamteinsatzzahl zu mehr Patienten alarmiert, die einen schnellstmöglichen Arztkontakt benötigen.
Aufgrund der nicht bundesweit einheitlichen Erfassung der notärztlichen Einsätze in Deutschland gibt es wenige und schwer vergleichbare Studien [
26]. In Bayern jedoch zeigte sich im Zeitraum von 2009 bis 2018 ein Anstieg der Absolutzahlen an Notarzteinsätzen um 13 % [
33]. Auch an anderen deutschen Notarztstandorten, wie zum Beispiel Leipzig, ließ sich eine Einsatzzunahme von 2003 bis 2013 um 24 % nachweisen [
3]. Dass das gesteigerte Aufkommen kein rein innerdeutsches Problem ist, zeigt eine Untersuchung aus Österreich von 2020 mit einem Anstieg der notärztlichen Einsatzzahlen in Graz um knapp 60 % von 2010 bis 2018 [
28].
Die Hypothese, dass das steigende Einsatzaufkommen unter anderem durch mehr nichtindizierte Einsätze bzw. Fehleinsätze bedingt sein könnte, ist keineswegs neu. Bereits 2001 beschreiben Ahnenfeld et al. [
2] eine „Fehleinsatzquote“ von ca. 30 %. Der Begriff einer Fehlfahrt bzw. nichtindizierter Einsätze ist nicht einheitlich definiert und wird kontrovers diskutiert. So werden beispielsweise die Versorgung von nicht vital bedrohten Patienten oder ambulante Patientenbehandlungen darunter subsumiert [
4,
37]. Bernhard et al. (2006; [
5]) sowie Behrendt et al. (2004; [
4]) definieren alle Notarzteinsätze, bei denen weder eine Maßnahme vor Ort noch ein Transport durchgeführt wurde, als Fehlfahrt. Die Fehlfahrtquote des NEF 4 in Frankfurt stieg dieser Definition entsprechend von knapp 13 % im Jahr 2015 auf knapp 19 % im Jahr 2019 an. Damit wäre der Notarzt bei jedem fünften Einsatz retrospektiv nicht erforderlich gewesen. Auch eine Studie des Notarztsystems in Graz aus dem Jahr 2020 ergab, dass bei ca. 30 % der Einsätze keine notärztliche Tätigkeit und sogar bei über 50 % der Einsätze keine spezifisch notärztliche Maßnahme erforderlich war [
28]. Damit liegt die Fehleinsatzquote des betrachteten NEF im Stadtgebiet Frankfurt zwischen den 2004 in Heidelberg erhobenen 3,3 % und den 30 % in Graz aus dem Jahr 2020 [
5,
28]. Die große Diskrepanz der erhobenen Ergebnisse kann auch hier auf eine nicht einheitliche Datenerfassung im Notarztsystem zurückzuführen sein. Insgesamt zeigt eine über die letzten Jahre steigende Quote an Fehleinsätzen eine zunehmende Problematik auf. Jedoch ist die Definition eines Fehleinsatzes über die reine Notarzttätigkeit in einigen Fällen nicht ausreichend; so übernimmt der Notarzt beispielsweise auch medizinische und juristische Verantwortung für eine ambulante Versorgung von Patienten [
27]. Der Mechanismus des „Gatekeepers“, also die Triagierung und Zuweisung von Patienten mit ambulant zu versorgenden Erkrankungen an entsprechende Ressourcen, kann das Patientenaufkommen in Notaufnahmen und auch die Auslastung des Rettungs- und Notarztdiensts reduzieren. Getragen wird diese Aufgabe hauptsächlich durch Einrichtungen der Primärversorgung wie der hausärztlichen Versorgung sowie des ärztlichen Bereitschaftsdiensts. Eine relevante Veränderung der Anzahl der Hausärzte hat sich im Untersuchungszeitraum nicht gezeigt (
n2014 = 486;
n2019 = 488; [
16]). Laut Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen lag im Stadtgebiet Frankfurt im beobachteten Zeitraum keine Unterversorgung durch Hausärzte, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, vor. Es zeigte sich jedoch von 2014 bis 2019 eine Abnahme des Versorgungsgrads von 119 % (2015) auf 110 % (2019; [
18]). Der Versorgungsgrad gibt den Quotienten zwischen dem Ist-Niveau des Einwohner-Arzt-Verhältnisses und dem Soll-Niveau dieses Verhältnisses an. Werte unter 100 % drücken somit eine Unterversorgung des Gebiets aus [
15]. Außerdem sind an der Primärversorgung von Patienten die ärztlichen Bereitschaftsdienstpraxen beteiligt. Zu Beginn 2014 nahmen zwei Standorte an der Versorgung von Patienten teil. Diese befanden sich in einem Ärztehaus im Stadtteil Gallus sowie am Bürgerhospital. Der Standort im Gallus wurde zum 30. September 2014 geschlossen. Es erfolgte ein Umzug an das Universitätsklinikum Frankfurt mit Eröffnung dieses Standorts am 01.10.2014. Am 01.10.2017 wurde ein dritter Standort am Klinikum Höchst eröffnet. Andererseits wurden zum 01.01.2018 die Öffnungszeiten der Standorte am Universitätsklinikum Frankfurt sowie am Bürgerhospital von Montag bis Sonntag um eine Stunde verkürzt (00:00 Uhr statt 01:00 Uhr). Zusätzlich gab es im beobachteten Zeitraum zwei Standorte mit einem kinderärztlichen Bereitschaftsdienst (am Universitätsklinikum Frankfurt und am Klinikum Höchst) sowie seit dem 11.04.2018 einen augenärztlichen Bereitschaftsdienst (Universitätsklinikum Frankfurt). Des Weiteren wurde 2014 ein Hausbesuchsdienst durch die KV Hessen eingerichtet [
17]. Insgesamt wurde somit zum Beispiel mit der Schaffung eines neuen Standorts versucht, die Kapazität der Primärversorgungsstrukturen zu erweitern. Ein leichtes Absinken des Versorgungsgrads mit konstanter Zahl an Hausärzten in Frankfurt trotz steigenden Bedarfs sowie die Reduktion der Öffnungszeiten der ärztlichen Bereitschaftsdienststandorte können jedoch einen Einfluss auf die Einsatzzunahme haben. Lösungsansätze könnten eine Beratung und Zuweisung von Hilfesuchenden bei der Rettungsleitstelle in den ambulanten Versorgungssektor bei entsprechenden Meldebildern sein. Hierzu wären aber entsprechende Ausweitungen an personellen Ressourcen, eine entsprechende Fortbildung der Einsatzbearbeiter und eine verbindliche rechtliche Regelung der Beratungs- und Zuweisungsbefugnis notwendig.
Des Weiteren fallen im Rahmen dieser Untersuchung unter Einsätze ohne notärztliche Tätigkeit auch Abbestellungen des NEF. Diese Fahrten erscheinen auf den ersten Blick nicht zwingend als absoluter Fehleinsatz, da dies teilweise durch eine taktische Umdisponierung auf ein zeitlich schneller verfügbares NEF bedingt sein kann. Da das NEF im Rahmen dieser Anfahrten gebunden und so als Ressource für andere Einsätze kurzzeitig nicht verfügbar ist, können sie dennoch als Fehleinsätze kategorisiert werden. Allerdings nehmen die zuvor genannten Abbestellungen im beobachteten Zeitraum bereits anteilsmäßig ab.
Die rückläufige Zahl der Nachforderungen deutet darauf hin, dass die Ursache des Anstiegs an Notarzteinsätzen nicht auf Defizite im nichtärztlichen Rettungsdienst zurückzuführen ist. Ebenfalls bestärkt wird diese Annahme auch durch die rückläufige Anzahl an Abbestellungen.
Über die erfasste Behandlungspriorität kann indirekt auf die Erkrankungsschwere des Patienten geschlossen werden. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass beim Großteil der notärztlich behandelten Patienten keine vitale Bedrohung vorliegt [
9,
21,
32,
34]. In Heidelberg machten Einsätze der niedrigsten Erkrankungsschwere 2004 über die Hälfte der Notarzteinsätze aus [
5]. Auch im betrachteten Frankfurter Stadtgebiet wurden zunehmend Patienten versorgt, die keinen Transport in eine Behandlungseinrichtung benötigten. Eine Einsparung ebendieser steigenden, nichtindizierten Notarzteinsätze gilt es in Zukunft zu erreichen. In Aachen konnte beispielsweise während der Coronapandemie (März 2020) eine deutliche Reduktion der Notarzteinsätze verzeichnet werden, welche vor allem durch die Abnahme dieser nicht lebensbedrohlichen Einsätze bedingt war [
11].
Im Hinblick auf die steigende Auslastung des NEF wächst auch die Gefahr einer verspäteten notärztlichen Versorgung von Patienten der dringlichsten Behandlungskategorie mit resultierend höherer Belastung des nichtärztlichen Rettungsdiensts. Denn nicht nur im beobachteten Frankfurter Stadtgebiet erhöht sich das Aufkommen der höchsten Behandlungspriorität. Auch an anderen Notarztstandorten in Deutschland nimmt die Zahl an schnellstmöglich zu versorgenden schwererkrankten/-verletzten Patienten zu [
3]. Passend hierzu nahmen auch die Patientenzuweisungen des unfallchirurgischen Schockraums des Uniklinikums Frankfurt am Main im Zeitraum von 2012 bis 2016 um 70 % zu [
24]. Beim Versuch, Fehleinsätze im Vorfeld herauszufiltern, darf es in keinem Fall zu einer Untertriagierung dieser zeitkritischen Notfälle kommen. Somit ist auch weiterhin eine bestimmte Fehleinsatzquote in Kauf zu nehmen, um den hohen Qualitätsstandard der medizinischen Notfallversorgung in Deutschland weiterhin gewährleisten zu können [
1].
Ein Ansatzpunkt zur Verringerung von Fehleinsätzen kann bei anteilsmäßig steigenden Primäreinsätzen beispielsweise eine Verbesserung und Anpassung des Notarztindikationskatalogs sein. Momentan orientiert sich der Notarztindikationskatalog, mit dessen Hilfe die Entscheidung der Leitstelle zur Aussendung eines Notarztfahrzeugs getroffen wird, an bestimmten Stichworten oder Unfallmechanismen (z. B. Atemnot, Brustschmerz oder Sturz aus Höhe [> 3 m]; [
6]). In Zukunft könnte eventuell dieser Indikationskatalog durch eine strukturierte Notrufabfrage unterstützt werden, welche Hinweise auf den tatsächlichen Patientenzustand gibt [
22,
29], auch wenn die Studienlage hinsichtlich der möglichen Effekte einer strukturierten Notrufabfrage nicht eindeutig ist [
25,
36]. Klassifizierungssysteme, die die Notarztalarmierungen basierend auf erforderlichem Einsatzmittel und Zeitfenster der Abklärung einteilen, sollten weiterentwickelt werden [
20]. Eine Befragung von Notärzten in Aachen ergab, dass sie bei Verfügbarkeit eines Telenotarztes ihre Anwesenheit bei knapp der Hälfte ihrer Einsätze im Nachhinein für nicht erforderlich hielten [
10]. In der Stadt Frankfurt besteht noch kein etabliertes Telenotarztsystem. In der Stadt Aachen ist jedoch seit 2014 ein telemedizinisches Assistenzsystem fest implementiert und zeigt das mögliche Ausmaß an Einsparungen der notärztlichen Ressource. Nach zwei Jahren Routineeinsatz verringerte sich der Anteil an konventionellen Notarzteinsätzen von 35 % im Jahre 2013 auf 22 % der gesamten Notfalleinsätze [
30]. Einsätze, bei denen eine telemedizinische Unterstützung des primär anwesenden Rettungsdiensts zum Beispiel durch Anordnung primär ärztlicher Maßnahmen im Sinne der Delegation ausreichend ist, müssten somit nicht unbedingt angefahren werden. Eine Schmerztherapie beispielweise kann komplikationsarm und wirksam durch eine telefonische oder telemedizinische Konsultation angeordnet werden [
12]. Ein anderes Modellprojekt in Hessen, welches 2020 gestartet wurde, soll dabei helfen, auch ambulante Arztpraxen in die Versorgung von Notfallpatienten mit einzubeziehen [
8].
Ein erhöhtes Einsatzaufkommen durch mehr ältere multimorbide Patienten im Rahmen des demografischen Wandels, wie bereits 2006 von Bernhard et al. [
5] diskutiert, konnte im beobachteten Stadtgebiet nicht bestätigt werden. Perspektivisch ist jedoch im Hinblick auf die demografische Entwicklung in Deutschland mit einem weiteren Anstieg von Einsätzen mit Patienten im fortgeschrittenen Lebensalter und oftmals auch mit höchster Behandlungsdringlichkeit zu rechnen.
Als Besonderheit im Stadtgebiet Frankfurt sind zusätzliche Faktoren wie eine vermehrte Multikulturalität mit ggf. bestehenden Sprachbarrieren und mangelndem Wissen über das Gesundheitswesen zu beachten und weiter zu untersuchen. Anhand von Statistiken der Stadt Frankfurt [
35] lässt sich ein Anstieg an Ausländerinnen und Ausländern mit Hauptwohnung in Frankfurt am Main um knapp 16 % von 2014 auf 2019 verzeichnen. Ob hieraus eine veränderte Inanspruchnahme des Notarztes resultiert, konnte anhand der vorliegenden Daten nicht nachvollzogen werden. Eine Arbeit von 2022, welche die Inanspruchnahme von Notaufnahmen durch Mehrfachnutzer/-innen (4 und mehr Inanspruchnahmen einer Notaufnahme innerhalb von 12 Monaten) in Berlin untersucht, ergab jedoch keine Häufung von Patienten mit Migrationshintergrund [
7]. Zukünftige Studien sind notwendig, um die Effekte der Multikulturalität auf das Rettungswesen weiter zu untersuchen.
Die Tatsache, dass der deutlich steigenden Nachfrage an (not-)ärztlicher Versorgung eine ebenso deutliche Verknappung entsprechender Ressourcen gegenübersteht, wird in absehbarer Zeit zu einer der zentralen Fragen der Daseinsfürsorge. Einheitliche Datenerfassung und überregionale Register wären zwingend erforderlich, um Strategien entwickeln zu können, dieser Herausforderung wirkungsvoll zu begegnen.