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Erschienen in:

01.10.2024 | Pflege Alltag Zur Zeit gratis

Wenn es Ärger mit Patienten und Angehörigen gibt

verfasst von: Michael Irmler

Erschienen in: Heilberufe | Ausgabe 10/2024

Mit zunehmender Aggression umgehen Nicht erst seit der Corona-Pandemie, aber doch vor allem seitdem nimmt die Aggression von Patienten und Angehörigen zu und mündet oft sogar in Gewalt gegen Ärzte und Pflegekräfte. Wie sollte man diesen Mitmenschen begegnen?
Es ist mittlerweile traurige Realität: Rettungsfahrzeuge werden behindert, Rettungsgassen nicht gebildet und in Notaufnahmen beherrschen sich manche Bürger immer weniger. Aber auch in der stationären Versorgung sieht es nicht besser aus. Angefangen bei Rassismus über sexuelle Belästigungen bis hin zu Beleidigungen und Tätlichkeiten ist hier alles zu finden.
Sogar Kollegen können sich mitunter nicht mehr zurückhalten, lassen ihren Frust über dies und das an den anderen aus. Vorab sei aber festgestellt: Auch in vergleichbaren Branchen sieht es oft ähnlich aus. Verkäufer, Mitarbeitende der öffentlichen Verwaltung - alle mit häufigem Kontakt zu anderen Menschen haben gegen gewalttätiges Verhalten zu kämpfen. Allerdings kommt im Gesundheitswesen erschwerend hinzu, dass sich Menschen gesundheitlich schlecht fühlen, Sorgen aller Art bis hin zu Todesängsten bestehen, die die eigene Contenance oft aus dem Gleichgewicht bringt. Verhaltensveränderungen durch Erkrankungen oder Medikamente, Freiheitsbeschränkungen, Unzufriedenheit und Hilflosigkeit findet man auf Seiten der Pflegeempfänger und der Bezugspersonen - für Angehörige der Heilberufe sind viele Behandlungsmaßnahmen selbstverständliche Routine, doch die Wirkung auf andere, die sich mit der Materie nicht auskennen, werden manches Mal nicht bedacht.

Jede Menge Konfliktpotenzial

Umgekehrt machen sich auch Patienten und Besucher wenig Gedanken über die Befindlichkeiten der Pflegenden. Der angekündigte Besuch eines Angehörigen, der für seine ständige Unzufriedenheit und offene, oft auch unsachliche Kritik bekannt ist, verursacht bereits den ersten Stress. Unangenehme Situationen sind programmiert. Ärzte, die in Fragen der Behandlung nicht mit der Pflege einig sind, bisweilen keinen Teamgedanken kennen, gepaart mit schlechter Kommunikation - all das können Ursachen für im Extremfall Aggressionen sein.
Die Patientenverfügung und die sich dem Willen des Patienten widersetzenden Angehörigen, ethische Fragen am Lebensende, umstrittene Entscheidungen im Fall einer Triage, oder auch Kollegen, die sich einfach nicht mögen - Konfliktpotenzial gibt es jede Menge. Belastbare Zahlen sind nicht verfügbar, da in vielen Fällen die Behörden gar nicht erst eingeschaltet werden und es den Einrichtungen auch gar nicht recht wäre, wenn zu viel nach außen dringen würde. Gewalt in der Pflege ist allgegenwärtig. Für viele Gesundheitsversorger ist es aber eine Art Tabuthema, auch wenn inzwischen ein wenig Bewegung in die Problematik kommt.

Wegschauen keine Lösung

Erfahrungen aus Mediationsverfahren zeigen, dass Arbeitgeber oft sogar über die einzelnen Hierarchieebenen bis nach unten mehr oder weniger Druck auf einzelne Mitarbeitende ausüben, unangenehme Vorfälle mehr oder weniger „wegzustecken“. Als Pflegekraft müsse man nun einmal manches ertragen, das gehöre zum Berufsbild dazu. Sie argumentieren, dass, wenn sich auf der anderen Seite herumspräche, dass Pflegende selbst Strafanzeigen stellen, rechtliche oder tatsächliche Schritte wie Haftungsansprüche oder Notwehraktionen einleiten, könne dies dem Image der Einrichtung schaden. Nach außen würden oft nur Halbwahrheiten gelangen und schon seien die Gerüchte im Umlauf. Dies gelte es zu verhindern. Eigenschutz ja, aber bitte maßvoll und diskret. Doch Wegschauen, Nichtreaktion und Schweigen können auf Dauer nicht die Lösung sein.
Sich aggressiv verhaltende Patienten, Angehörige, aber auch Kollegen, solche, die andere sexuell belästigen oder rassistische Äußerungen von sich geben, benötigen oft eine klare Ansage. In manchen Fällen wird also eine vornehme Zurückhaltung nicht zum gewünschten Verhalten führen. Doch pauschalieren lässt sich auch insoweit nichts, kommt es doch auch auf die kognitiven Fähigkeiten des „Aggressors“ an. Dem Menschen mit Demenz muss man anders begegnen als dem alkoholisierten oder unter Drogen stehenden Patienten und wieder anders demjenigen gegenüber, der bei klarem Verstand ist. Im Weiteren wollen wir uns in erster Linie mit demjenigen befassen, der sich unangepasst verhält, aber (eigentlich) keine kognitiven Einschränkungen aufweisen sollte. „Eigentlich“ deswegen, weil Menschen, die sich in großer Angst beispielsweise wegen einer Erkrankung befinden, manches Mal nicht in der Lage sind, rational zu denken.

Hilfreicher Perspektivwechsel

Ein Perspektivwechsel trägt oft dazu bei, das Gegenüber zu verstehen. Wie würde es mir ergehen, wenn ich auf der anderen Seite stehen würde, es um mich selbst oder einen geliebten Menschen ginge? Das sollte man sich immer wieder vor Augen führen, insbesondere dann, wenn unangepasst handelnde Personen im Gegensatz zu Ärzten und Pflegekräften keine oder wenig Ahnung von Medizin und ihren Möglichkeiten haben.
Sobald ich mich in den anderen hineinversetzt habe, werde ich häufig wesentlich verständnisvoller und empathischer reagieren können - ein Weg, der regelmäßig zu einer sofortigen Deeskalation beitragen kann. Dazu gehört eben auch eine wertschätzende Kommunikation, die besonders bei aggressiven Menschen nicht leicht fällt. Noch immer wird an dieser Stelle gerne von gewaltfreier Kommunikation (GFK) gesprochen, was aber durch den Wortteil „Gewalt“ negativ konnotiert ist. Wie immer man es bezeichnen mag, eine gelingende Kommunikation soll erreicht werden. Stets geht es daher darum, die Sichtweisen des Gegenübers anzunehmen, zu spiegeln und möglichst in eine Bitte an den anderen münden zu lassen. Kommunikation entsteht ohnehin automatisch in der Begegnung von Menschen, denn bereits das Verhalten kann schon einiges über den anderen zum Ausdruck bringen.
Hierbei haben sich die „Big Five“ herausgebildet. Es gibt
  • extra- bzw. introvertierte Menschen
  • sozial verträgliche, kooperative bzw. feindselige
  • gewissenhafte bzw. unzuverlässige
  • emotional stabile bzw. nervös-reizbare und
  • aufgeschlossene bzw. desinteressierte Personen.

Schubladen-Denken kann in die Irre führen

Das Gegenüber in die genannten Kategorien einzuordnen, trägt ebenfalls zu einem verbesserten Verstehen des anderen bei. Wissenschaftlich erwiesen ist auch, dass der erste Eindruck oft bestimmend bleibt für das gesamte weitere Miteinander (Primacy-Effekt) und wir alle leider schnell zu Bias neigen. Dieses Schubladen-Denken kann aber völlig in die Irre führen. Schon in frühester Kindheit werden wir in diese Richtung gepolt. In Märchen etwa sind die bösen Frauen meistens schwarzhaarig; viele Narrative werden hier bedient. Und auch im weiteren Leben werden unbewusste Voreingenommenheiten durch Eltern, Lehrkräfte und andere Mitmenschen geprägt; die Rolle der Geschlechter, altersdiskriminierende Ansichten, aber eben auch rassistisches Gedankengut oder nur der Name eines Menschen führen zu Fehleinschätzungen. Ein selbstkritisches Hinterfragen ist daher unabdingbar.

Von Deeskalation bis zur Biografiearbeit

Andererseits sollte man sich auch eine Art Gefahrenradar antrainieren, um möglichst frühzeitig zu erkennen, wer wie reagieren könnte. Sich in den anderen hineinversetzen hilft, das eigene Unverständnis für dessen Verhalten zumindest ein wenig zu relativieren. Aggressiven Menschen sollte man sich nicht frontal nähern, damit diese nicht eine Art Angriff wahrnehmen. Das kurzzeitige Verlassen des Zimmers deeskaliert ebenfalls in vielen Fällen, bevor ein Wort das andere gibt.
In der Langzeitpflege sollten sich Pflegende zusätzlich mit der Biografie etwa eines an Demenz erkrankten Menschen befassen, da Aggressionen oft in Erlebtem ihren Ursprung haben. Das empfiehlt - neben anderen - auch das Pflegenetzwerk Deutschland, eine Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit. Allerdings kosten all diese Maßnahmen Zeit, eine Ressource, die regelmäßig nicht in ausreichender Menge zur Verfügung steht.

Schnelle Klärung immer ratsam

Vielen bekannt ist Schulz von Thun, der die beiden Kommunikationspartner als Sender und Empfänger bezeichnet. Danach werden vier Botschaften gesendet, die der Empfänger mit vier Ohren empfängt. Es geht nämlich nicht nur um den Sachinhalt, der kommuniziert werden soll, sondern auch darum, was man damit über sich selbst offenbart, wie man zu dem anderen eingestellt ist und was man bei diesem erreichen möchte. Vier Aspekte, die bereits jede Menge an Missverständnissen und damit Konflikten mit sich bringen können. Der Empfänger versteht etwas nicht so, wie es der Sender rüberbringen wollte. Ein anderer Kommunikationsforscher, Friedrich Glasl, hat hierzu Eskalationsstufen erarbeitet, die letztlich besagen, je länger man Missverständnisse unbearbeitet lässt, desto schwieriger wird dessen Beseitigung und der Konflikt weitet sich immer mehr aus. Eine schnelle Klärung ist also immer ratsam - aber bitte wertschätzend kommuniziert.

FAZIT

Das weit verbreitete Verschweigen und Tabuisieren von Gewalt in der Pflege in all ihren Ausprägungen führt dazu, dass etliche Angehörige der Heilberufe unvorbereitet in eine solche Situation geraten und dann nicht mehr wirklich wissen, wie sie sich angemessen verhalten sollen.
Ein offener Dialog über diese Thematik, Gespräche in Teambesprechungen und Seminare zur Gewaltprävention sollten eine Selbstverständlichkeit sein. Auch das Hinzuziehen eines externen Experten, etwa eines Mediators, kann hilfreich sein.
Ein wertschätzendes, empathisches Miteinander und ein gutes Gespür für die richtige Reaktion in verschiedensten Situationen muss trainiert und gelernt werden - spontane Handlungen aus dem Bauch heraus können dagegen in die falsche Richtung gehen.

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Metadaten
Titel
Wenn es Ärger mit Patienten und Angehörigen gibt
verfasst von
Michael Irmler
Publikationsdatum
01.10.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Heilberufe / Ausgabe 10/2024
Print ISSN: 0017-9604
Elektronische ISSN: 1867-1535
DOI
https://doi.org/10.1007/s00058-024-3692-4

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