7.1 Einleitung
Der vom Wirtschafts- und Sozialrat der UNO eingesetzte Sozialausschuss zeigte sich 2018 in seinem Länderbericht zur Lage der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte in Deutschland darüber besorgt, dass die in deutschen Privathaushalten arbeitenden und lebenden Pflegekräfte „are required to work excessive hours without regular rest and are vulnerable to exploitation“ (UN-CESCR
2018, Ziffer 42). Der UN-Sozialausschuss forderte deshalb die Bundesregierung zu Maßnahmen auf, damit diese Erwerbstätigengruppe in Zukunft vor Ausbeutung und Misshandlungen geschützt sowie bei der Bezahlung und der Begrenzung der Arbeitszeiten mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern anderer Branchen gleichbehandelt werde (UN-CESCR
2018, Ziffer 43). Ähnliche Forderungen hatte bereits ein Jahr zuvor die offizielle Expertenkommission der Internationalen Arbeitsorganisation, die die Umsetzung des Übereinkommens 189 dieser Organisation („Menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte“) in Deutschland untersucht, an die Bundesregierung gerichtet (vgl. ILO-CEACR
2017). In der öffentlichen Debatte hierzulande blieb diese Kritik zweier internationaler Organisationen an Menschenrechtsverstößen im Kontext der sog. 24-Stunden-Pflege weithin unbeachtet.
In diesem Beitrag skizzieren wir kurz diese Sonderform häuslicher Pflege, um die es bei den kritischen Hinweisen zweier internationaler Organisationen geht (Abschn.
7.2). Dann zeigen wir auf, dass diese fast ausschließlich von Migrantinnen übernommene Form der Pflegeerwerbsarbeit schon länger nicht mehr nur in Form von Schwarzarbeit geschieht, sondern dass daneben ein „grauer Markt“ mit Ansätzen zu einer rechtlichen Formalisierung entstanden ist (Abschn.
7.3). Anschließend skizzieren wir drei zentrale Herausforderungen, die zu bewältigen sind, um den Formalisierungsprozess in Richtung einer vollständigen arbeits- und sozialrechtlichen Gleichstellung dieser Form von Erwerbsarbeit mit der Beschäftigung in anderen Bereichen voranzutreiben (Abschn.
7.4). Schließlich gehen wir der Frage nach, warum in Deutschland bisher kein nennenswerter politischer Druck entstanden ist, die Situation der Migrantinnen in der häuslichen Pflege – auch im Sinne der von den internationalen Organisationen geäußerten Forderungen – zu verbessern (Abschn.
7.5). Der Beitrag schließt mit einem Fazit (Abschn.
7.6).
7.2 Das Phänomen der Live-in-Pflege
In zahlreichen deutschen Pflegehaushalten sind Pendelmigrantinnen
1 aus Polen und anderen Staaten Mittel- und Osteuropas als Pflegekräfte tätig. Zumeist arbeiten sie nicht nur in der Wohnung des Pflegebedürftigen, sondern leben auch darin. Hieraus ergibt sich der in der sozialwissenschaftlichen Literatur verbreitete Begriff „Live-ins
“, während im allgemeinen Sprachgebrauch häufig von „24-Stunden-Pflege
“ die Rede ist. Nicht wenige der Mittel- und Osteuropäerinnen wechseln sich in einem festen mehrwöchigen bzw. zwei- oder dreimonatigen Rhythmus mit einer anderen Pflegekraft ab. Andere unterbrechen ihre Pflegeeinsätze in einem deutschen Privathaushalt nur alle paar Monate für ein oder zwei Wochen Urlaub in der Heimat.
Die Live-ins verdienen in Deutschland zumeist zwischen 1.000 und 1.500 € pro Monat (vgl. Rossow und Leiber
2019, S. 37), während die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen an Agenturen häufig sehr viel größere Summen zu zahlen haben. Für dieses Einkommen übernehmen die Migrantinnen haushaltsnahe Dienstleistungen (u. a. Haushaltsführung, Zubereitung von Mahlzeiten, Besorgungen), grundpflegerische Aufgaben (Unterstützung u. a. bei Körperpflege, An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Toilettengängen), Leistungen, welche die Sicherheit der Betreuten erhöhen sollen (u. a. Begleitung von Bewegungen in der Wohnung, Verhüten von Stürzen, Mobilitätstraining, Aufsicht bei demenziell Erkrankten) und die Begleitung der Pflegebedürftigen außer Haus (z. B. bei Arztbesuchen) (vgl. Isfort und von der Malsburg
2017, S. 96 ff.). Zu diesem breiten Spektrum an Tätigkeiten kommen zumeist lange Bereitschaftszeiten hinzu, sodass die zeitliche Inanspruchnahme einer Live-in umso stärker wächst und sich damit einer 24-Stunden-Verpflichtung an sieben Wochentagen immer weiter nähert, je pflegebedürftiger die betreute Person ist und je weniger sich die Angehörigen an der Pflege beteiligen.
Dass die sog. 24-Stunden-Pflege
in Deutschland – auch im internationalen Vergleich – weit verbreitet ist, wird in der einschlägigen Literatur von niemandem bestritten. Schließlich ist das deutsche Pflegesystem – wie der prinzipielle Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege verdeutlicht – familialistisch geprägt. Faktisch, wenn auch in begrenztem Umfang, beteiligen sich die Pflegekassen über das Pflegegeld, das für die Familien mit Pflegeverantwortung eine frei verfügbare monetäre Leistung darstellt, sogar an der Finanzierung der Live-in-Pflege
. In der Literatur umstritten ist jedoch das Ausmaß des Phänomens. Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung ging vor zehn Jahren von 100.000 Haushalten aus (vgl. Neuhaus et al.
2009, S. 17); Thomas Klie kam zuletzt auf eine Schätzung von 600.000 Erwerbstätigen (vgl. Lutz
2018, S. 29). In ihrer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung schätzten Volker Hielscher et al., dass in 163.000 deutschen Pflegehaushalten Live-ins tätig sind und dass sie dabei durchschnittlich auf eine Arbeitszeit (offenbar ohne Bereitschaftszeit) von 69 Wochenstunden kommen (vgl. Hielscher et al.
2017, S. 60, S. 95). Wird diese Schätzung zugrunde gelegt, leisten die Live-ins in Deutschland ein Viertel bis ein Drittel der bezahlten Pflegearbeit.
2 Die Live-in-Pflege bildet damit eine eigene Säule des deutschen Pflegesystems, die in den pflegepolitischen Diskursen zumeist unsichtbar bleibt.
7.3 Der „graue Markt“ der sog. 24-Stunden-Pflege
Im ersten Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer entstand in Deutschland die Live-in-Pflege als Schwarzarbeit vor allem von Polinnen, die über persönliche Netzwerke an Familien mit Pflegeverantwortung vermittelt wurden. Seit den 2000er Jahren ist in diesem Bereich ein sich ausweitender „grauer Markt“ entstanden, der aktuell eine ähnliche Größenordnung wie die in Schwarzarbeit geleistete Live-in-Pflege erreicht haben dürfte. „Grauer Markt“ bedeutet hier, dass Privathaushalte und Dienstleisterinnen zwar auf einen rechtlichen Rahmen zurückgreifen, aber die nationalen und EU-weiten arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen nicht umfassend umsetzen; entstanden ist damit ein Graubereich zwischen Schwarzmarkt und legalen Praxen, ein Segment der partiellen rechtlichen Formalisierung (Ver.di-Bundesverwaltung
2011; Rossow und Leiber
2017; Rossow und Leiber
2019).
Es sind vor allem die in die Vermittlung der Live-in-Pflegekräfte involvierten Akteure, die in Deutschland den Prozess der Formalisierung vorantreiben, damit den „grauen Markt“ etabliert haben und diesen nun zu stabilisieren sowie auszuweiten suchen. Eine zentrale Rolle spielen dabei zum einen die beiden Verbände der Vermittlungsagenturen, der Verband für häusliche Betreuung und Pflege und der Bundesverband häusliche Seniorenbetreuung. Die Politik dieser Verbände wird vor allem von solchen Agenturen bestimmt, die sich durch relativ verlässliche Dienstleistungen vom Gros der arbeitsrechtlich und ethisch hoch problematischen Praktiken in der Live-in-Pflege
absetzen wollen (Rossow und Leiber
2019). Ihr längerfristiges Ziel besteht darin, den „grauen Markt“ aufzuhellen und die Akzeptanz dieser Form der Pflegearbeit zu verbessern. Zudem zielen sie darauf ab, jenseits des von den Empfängern prinzipiell frei einsetzbaren Pflegegelds weitere Leistungen der Pflegeversicherung als Finanzierungsquelle für die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen zu erschließen. Zu erwähnen sind zum anderen zwei Initiativen kirchlicher Wohlfahrtsverbände, das Modell
CariFair des Diözesancaritasverbands Paderborn und das unter dem Dach der Diakonie etablierte Modell
vij-FairCare in Stuttgart. Diese Akteure sind nicht aufgrund ihrer Größenordnung bedeutsam, sondern finden als Vorreiter einer sehr weitgehenden rechtlichen Formalisierung viel öffentliche Aufmerksamkeit.
Die deutschen Dienstleister der Vermittlung, also die teilweise in den genannten Verbänden organisierten Agenturen und die beiden Modellprojekte von Caritas und Diakonie, bieten drei verschiedene Modelle der rechtlichen Formalisierung der Live-in-Pflege (Bucher
2018; Kocher
2019) an. Ein viertes Modell wäre rechtlich möglich, wurde bisher aber noch nicht etabliert.
Im
Entsendemodell ist die Pflegekraft als Arbeitnehmerin bei einer ausländischen Agentur angestellt, die sich wiederum vertraglich gegenüber den Privathaushalten zur Übernahme der Pflegetätigkeit verpflichtet.
3 Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geschieht über die Agentur im Herkunftsland der Live-in, was teilweise durch eine sog. A1-Bescheinigung nachgewiesen wird. Hinsichtlich der Sozialversicherung gelten die Konditionen des Entsendelandes, jedoch werden die deutschen Vorschriften des Arbeitsschutzes
(einschließlich der Begrenzung der Arbeitszeiten) und zur Einhaltung des Mindestlohns wirksam. Das Modell zielt also darauf, die geringeren Lohnnebenkosten des Herkunftslandes zu nutzen, um die Pflegeleistung kostengünstiger anbieten zu können. Wenngleich dieses Modell von vielen deutschen Agenturen als rechtlich unbedenklich eingestuft und empfohlen wird (Rossow und Leiber
2019; Bucher
2018), zeigen sich erhebliche rechtliche Probleme. Da die Betreuten bzw. ihre Angehörigen nicht als Arbeitgeber tätig sind, haben sie kein Weisungsrecht
(vgl. Bucher
2018, S. 219 f.). Weisungen kann nur der im Herkunftsland angesiedelte Arbeitgeber erteilen, was in der Praxis kaum realisierbar ist. Zudem erbringen viele Entsendeagenturen
ihre Pflegeleistungen (fast) ausschließlich im Ausland und lediglich die interne Verwaltungsarbeit im Entsendestaat, was bei einer Entsendung rechtlich nicht erlaubt ist (vgl. Bucher
2018, S. 249 f.). Insofern handelt es sich bei der Praxis, bei der die Agenturen von Entsendung sprechen, häufig nur um „Scheinentsendung
“. Hinzu kommt das arbeitsrechtliche Kernproblem der sog. 24-Stunden-Pflege
: die Arbeitszeit. Für Pflegearrangements mit einer Live-in
ist kennzeichnend, dass diese im Allgemeinen täglich mehr als acht Stunden lang mit Haushalt, Pflege, Betreuung und/oder Aufsicht beschäftigt sind. Zudem gibt es fast immer einen nächtlichen Bereitschaftsdienst. Bereitschaftszeit
, die am Ort des Einsatzes verbracht wird, zählt jedoch vollständig als Arbeitszeit, sodass die wöchentliche dauerhafte Höchstarbeitszeit von 48 Stunden weit überschritten wird (vgl. Bucher
2018, S. 214).
4 Bei Live-in-Pflege, die im Entsendemodell
angeboten wird, findet sich insofern häufig ein eindeutiger Widerspruch zwischen einer mit der Beschäftigten vertraglich vereinbarten 40-Stunden-Woche und dem Versprechen der deutschen Agenturen an die Pflegebedürftigen und ihre Familien, eine Betreuung rund um die Uhr sicherzustellen. Das Modell basiert folglich darauf, dass der Staat faktisch auf Kontrollen verzichtet (Rossow und Leiber
2019).
Im
Selbständigenmodell treten die Pflegekraft als selbständige Auftragnehmerin und der Privathaushalt als Auftraggeber auf. Eine Agentur kommt hier ausschließlich für die Vermittlung ins Spiel. So müssen weder die Betreuten bzw. ihre Angehörigen noch die Agenturen Arbeitgeberpflichten übernehmen. Ein besonderes Kennzeichen dieses Modells ist es, dass das deutsche Arbeits- und Sozialrecht teilweise umgangen wird. So gelten u. a. die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes zu Höchstarbeitszeiten
und Mindestruhepausen
für Selbständige nicht; ebenso muss der Mindestlohn
nicht eingehalten werden (vgl. Bucher
2018, S. 46). Dieses Modell hat zuletzt in Deutschland stark an Bedeutung gewonnen (Leiber und Rossow
2019). Das grundlegende rechtliche Problem des Modells besteht darin, dass Selbständigkeit auch dadurch charakterisiert ist, dass die Erwerbstätige selbst über Art und Weise, Zeit und Ort ihrer Tätigkeiten bestimmt und somit die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen kein Weisungsrecht
über die Umsetzung der Pflegetätigkeiten haben (vgl. Bucher
2018, S. 46). Tatsächlich findet sich innerhalb der sog. 24-Stunden-Pflege jedoch keine autonome Arbeits(zeit)gestaltung; vielmehr hängen die Entscheidungen zur Umsetzung der Pflege- und Betreuungsaufgaben von der pflegebedürftigen Person oder von ihren Angehörigen ab. Da folglich die für die Selbständigkeit notwendige Souveränität fehlt, kann argumentiert werden, dass – sofern die Agenturen behaupten, Pflegekräfte als Selbständige zu vermitteln – den Arrangements der Live-in-Pflege eine „Scheinselbständigkeit
“ inhärent ist (vgl. Bucher
2018, S. 138 f.). Jedoch sind die Gerichtsurteile diesbezüglich nicht eindeutig; in Einzelfällen haben Gerichte Angebote der Live-in-Pflege im Selbständigenmodell als rechtlich korrekt eingeschätzt (vgl. Bucher
2018, S. 42).
Im
Arbeitgebermodell ist die Pflegekraft durch einen Arbeitsvertrag direkt bei dem Privathaushalt angestellt. Die Betreuten bzw. ihre Angehörigen müssen daher als Arbeitgeber bestimmte Pflichten erfüllen, z. B. die Beschäftigung anmelden und Sozialversicherungsbeiträge abführen. Für die Pflegekraft als Arbeitnehmerin gilt das deutsche Arbeits- und Sozialrecht; das beinhaltet u. a. die Lohnfortzahlung
bei Krankheit und einen Urlaubsanspruch
. Auch müssen der Mindestlohn
eingehalten sowie die Arbeitsschutzvorschriften
zu maximal zulässiger Arbeitszeit und rechtlichen Ruhezeiten beachtet werden (vgl. Bucher
2018, S. 144 ff.). Vor allem aufgrund des bürokratischen Aufwands für die Betreuten bzw. ihre Angehörigen als Arbeitgeber findet das Modell in der Praxis selten Anwendung. Beschränkt bleibt es weitgehend auf die Beschäftigungsverhältnisse, die durch die Vermittlung von
vij-FairCare und
CariFair zustande kommen, die die Familien bei der Erfüllung ihrer Arbeitgeberpflichten unterstützen. Zwei Besonderheiten zeichnen diese beiden Initiativen kirchlicher Wohlfahrtsverbände spezifisch aus: Erstens wird hier die Live-in-Arbeit als Ergänzung der Angehörigenpflege und nicht als deren Ersatz konzipiert. Zweitens gibt es in den Initiativen Koordinatorinnen, die regelmäßig Hausbesuche durchführen und somit die Pflegekräfte und Familien auch nach der Vermittlung begleiten und die Qualität der Pflege und die Fairness der Arbeitsbedingungen dauerhaft im Blick behalten. Als rechtliche Herausforderung auch dieses Modells erweist sich die Arbeitszeit – hier im Sinne der am Einsatzort verbrachten Bereitschaftszeit
. Da diese als Arbeitszeit zählt, gelingt es auch hier häufig nicht, die Höchstarbeitszeit
von 48 Stunden pro Woche und die Mindestruhepause
von täglich elf Stunden, die im Arbeitszeitgesetz
vorgeschrieben sind, einzuhalten. Dies bedeutet: Das Arbeitgebermodell ist aus arbeits- und sozialrechtlicher Perspektive zwar wesentlich besser zu beurteilen als die beiden zuvor beschriebenen, doch die damit verbundene Praxis ist ebenfalls rechtlich nicht ganz einwandfrei.
Ein viertes Modell, das für die Live-in-Pflege rechtlich möglich wäre, aktuell aber von den Agenturen offenbar nicht angeboten wird, ist das
Überlassungsmodell. Hier würde die Pflegekraft als Leiharbeitnehmerin
, der Betreute als Entleiher der Arbeit und die deutsche Agentur als Leiharbeitgeberin bzw. Verleiherin der Arbeit agieren (vgl. Bucher
2018, S. 278). Bei der Agentur als Verleiherin der Arbeit lägen die Arbeitgeberpflichten. Da die Agenturen genau dies vermeiden, nämlich auf keinen Fall für das Arbeitsverhältnis der Live-in rechtlich verantwortlich sein wollen, gibt es aktuell keine entsprechenden Angebote. Während des Einsatzes würde die Agentur das Weisungsrecht
auf den Privathaushalt übertragen; dieser könnte folglich die Umsetzung der Pflegetätigkeit steuern. Gleichzeitig bliebe die Agentur als Arbeitgeberin jedoch zuständig für die Einhaltung der Vorschriften des Arbeitsschutzes und der Arbeitszeit (vgl. Bucher
2018, S. 279 ff.). Eine Besonderheit dieses Modells besteht darin, dass die Agentur eine Erlaubnis für die Überlassung durch die Bundesagentur für Arbeit bzw. durch die für das jeweilige Bundesland zuständige Agentur für Arbeit benötigt. Folglich kann diese die Zuverlässigkeit und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verleihers prüfen. Nicht nur bei Verletzung der Pflicht des Arbeitgebers zur Sozialversicherung, sondern auch bei einer unzureichenden Kontrolle der Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften
könnte dann die zuständige Agentur für Arbeit ihre Zustimmung verweigern bzw. zurückziehen (vgl. Bucher
2018, S. 284 f.). Im Gegensatz zu den drei anderen, bereits praktizierten Modellen hätte im Überlassungsmodell also eine nationale Behörde die Möglichkeit, die Agentur als Leiharbeitgeberin hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit und der Einhaltung des Arbeits- und Sozialrechts zu prüfen. Das Problem der Arbeitszeit – insbesondere der mit dem Live-in-Status häufig verbundenen Bereitschaftspflichten – würde allerdings auch in diesem Modell nicht gelöst.
7.4 Drei zentrale Herausforderungen für die Weiterentwicklung
Bei der Skizze der praktizierten oder möglichen Vertragsformen wurde bereits deutlich, dass es aus juristischer und ethischer Sicht ein Geflecht von Herausforderungen gibt, das einerseits eine Weiterentwicklung des gesetzlichen Rahmens und der Praxis der Live-in-Pflege in Deutschland dringend erforderlich macht, andererseits eine solche Weiterentwicklung aber auch erschwert. Drei dieser eng miteinander verbundenen Herausforderungen seien kurz benannt.
Bei einer Dienstleistung, die häufig als „24-Stunden-Pflege“ bezeichnet wird und dann nur von einer Person erbracht werden soll, ist es nicht verwunderlich, dass das
erste Problem die Arbeitszeit (einschließlich der vor Ort verbrachten Bereitschaftszeit
) ist.
Rechtlich gilt: Unter Beachtung der Grenzen des deutschen Arbeitszeitgesetzes kann die Live-in-Pflege
nur in Ausnahmefällen als Beschäftigung organisiert werden. Möglich ist dies heute nur dann, wenn es keiner Aufsicht und keiner Bereitschaft bedarf oder wenn sich neben der Live-in mindestens ein pflegender Angehöriger quasi in Vollzeit engagiert. Aus
ethischer Sicht ist die als Ersatz und nicht als Ergänzung von Angehörigenpflege organisierte Live-in-Pflege als solche problematisch, sodass auch das Selbständigenmodell keine Lösung wäre. Schließlich steht hier die Erwerbstätige dem Pflegebedürftigen wochenlang rund um die Uhr zur Verfügung: mit diversen Tätigkeiten oder eben im Bereitschaftsdienst. Damit werden ihre in Menschenrechtserklärungen verbrieften Rechte auf Freizeit und – aufgrund der daraus resultierenden Gesundheitsgefährdung – auf körperliche Unversehrtheit verletzt; tangiert wird ihre Menschenwürde
, die als ihr Anspruch zu verstehen ist, über wesentliche Bereiche des eigenen Lebens frei verfügen zu können (vgl. Emunds
2016, S. 143 ff.).
Das zweite Problem ist, dass es keine rechtssichere Vertragsform gibt. Der Gesetzgeber bietet für die Beteiligten keine einzige Vertragsform, mit der sie die Dienstleistung der Live-in-Pflege arbeitsrechtlich einwandfrei regeln könnten. Trotz einzelner anderslautender Gerichtsurteile ist, wenn im Kontext der sog. 24-Stunden-Pflege Selbständigkeit behauptet wird, von Scheinselbständigkeit auszugehen. Das Entsendemodell sowie die beiden wesentlich fairer ausgestalteten Varianten, das Arbeitgeber- und das Überlassungsmodell, greifen dagegen auf abhängige Beschäftigung zurück und scheitern deshalb an den Beschränkungen des Arbeitszeitgesetzes.
Das
dritte zentrale Problem besteht darin, dass es keinen – gegenüber dem Pflegealltag – externen Akteur gibt, der für das Erbringen der Dienstleistung Qualitätsstandards
setzt, diese intern in der Praxis durchsetzt und extern für die Qualität haftet. Die Arbeit findet in Privathaushalten statt. Was wann zu tun ist und wie es zu tun ist, ergibt sich in der täglichen Interaktion zwischen der Live-in-Pflegekraft einerseits und dem Pflegebedürftigen bzw. den Angehörigen andererseits. Es gibt kaum Handlungskataloge, Aufgabenprofile und Regeln, keine Feedbacks von Kolleginnen oder von einer Chefin, keine Regelsetzung durch eine Organisation, die im häuslichen Pflegealltag präsent ist (vgl. Staab
2014, S. 178 f.). Nur die Initiativen aus den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden (und einige wenige Agenturen) haben durch die Besuche der Koordinatorinnen in den Pflegehaushalten eine Instanz der Beratung, der Unterstützung und des Konfliktmanagements etabliert, die regelmäßig aus einer externen Perspektive auf den häuslichen Pflegealltag schaut. Für die Qualität der Pflege und der Pflegearbeit ist dies ein essentieller Schritt, den das Gros der Anbieter auf dem „grauen Markt“ aber noch nicht gegangen ist. Ein weiterer deutlicher Fortschritt in dieser Hinsicht wäre es, ein Überlassungsmodell zu etablieren, bei dem die Agenturen in Deutschland als Leiharbeitgeber gegenüber der Bundesagentur für Arbeit für die Einhaltung der Höchstarbeitszeiten und anderer Arbeitsschutzregeln verantwortlich wären.
Nach dem Etablieren des „grauen Markts“ bedarf es dringend weiterer Entwicklungsschritte, die nun in Richtung fairerer Arbeitsverhältnisse für die Live-ins gehen müssen. Vielversprechend erscheinen – bezogen auf das
Arbeitsrecht – vor allem Bemühungen um eine Ausbreitung des Überlassungsmodells oder des Arbeitgebermodells, das ähnlich wie bei
vij-FairCare und
CariFair durch Maßnahmen der Begleitung und Unterstützung von Arbeitgebern und -nehmern zu flankieren wäre. Umso bedenklicher stimmt, dass aus dem Bundesministerium der Gesundheit zuletzt Signale zu vernehmen waren, die auf mögliche Versuche einer politischen Gestaltung im Sinne des Selbständigenmodells verweisen (u. a. Klie
2019). In diesem Fall würde der Arbeitsschutz für Live-ins auf ein völlig unzureichendes, kaum justiziables Minimum reduziert. Damit die Alternativen des Überlassungs- und des Arbeitgebermodells in großem Umfang praktikabel werden, bedarf es allerdings auch solcher Weiterentwicklungen der
Praxis der Live-in-Pflege, durch die das Problem der extrem ausgedehnten Arbeitszeiten der Arbeitnehmerinnen gelöst wird. Insbesondere müssten die langen Zeiten der Aufsicht und der Bereitschaft anders als durch die Dauerpräsenz jeweils einer Live-in abgedeckt werden. Dabei kommt der Kombination der Live-in-Pflege mit einer zeitlich ausgedehnten Angehörigenpflege eine zentrale Rolle zu. Denkbar wäre zudem, dass einige der neuen digitalen Technologien so eingesetzt werden, dass weitere Beschäftigte diese beiden Aufgaben jeweils für eine ganze Reihe von Pflegehaushalten gleichzeitig erfüllen können. Pilotprojekte, in denen versucht wird, solche Technologien für eine – dem Arbeitszeitgesetz entsprechende – Begrenzung der Wochenarbeitszeit von Live-ins zu nutzen, scheint es bisher aber nicht zu geben. Ohne solche oder andere weitere Entwicklungsschritte dürfte es aber bei der aktuellen, aus arbeitsrechtlicher und ethischer Sicht höchst unbefriedigenden Form der Live-in-Pflege bleiben.
7.5 Gesellschaftliche Hemmnisse für eine arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung
Die aktuelle, in vielfacher Hinsicht problematische Praxis der Live-in-Pflege wird ermöglicht und perpetuiert durch gesellschaftliche Asymmetrien und Blickverengungen. Wenn diese im Folgenden in drei Schritten analysiert werden, soll dies nicht nur das Phänomen kontextualisieren, sondern auch die Hindernisse aufdecken, die einer weiteren rechtlichen Formalisierung der Erwerbsarbeit von Live-ins und damit ihrer arbeits- und sozialrechtlichen Gleichstellung mit anderen Beschäftigten im Wege stehen.
Ein
erster Analyseschritt gilt der Vergeschlechtlichung von Pflegearbeit vor dem Hintergrund der historischen Konstruktion von öffentlicher und privater Sphäre. Historisch wurde Pflegearbeit – zusammen mit anderen Formen von Hausarbeit – als weibliche „Arbeit aus Liebe“ oder als „Liebesdienst“ (Bock und Duden
1977, S. 121) konzipiert. Dies war eng verbunden mit der Konstruktion komplementärer Geschlechtscharaktere, denen zufolge die Frau durch ihr Wesen und ihre Natur für die häusliche Arbeit bestimmt sei (Hausen
1976). Tätigkeiten der Haus- und Sorgearbeit
im Privaten wurden demnach nicht als Arbeit begriffen, sondern als Verwirklichung eines weiblichen Geschlechtscharakters naturalisiert. Die auf diese Weise unsichtbar gemachte Arbeit muss dann auch nicht entlohnt werden, sondern „entstammt der Liebe und wird durch Liebe entlohnt“ (Bock und Duden
1977, S. 121).
Dieses historisch entwickelte Rollenmuster
weiblich konnotierter Sorgearbeit wirkt sich auch auf bezahlte Erwerbsverhältnisse in Privathaushalten und hier insbesondere auf die Live-in-Pflege aus. So findet sich auf rechtlicher Ebene eine historische Kontinuität der arbeitsrechtlichen Benachteiligung von früheren Hausgehilfinnen und heutigen haushaltsnahen Dienstleisterinnen im Vergleich zu Normalarbeitsverhältnissen (Krawietz und Scheiwe
2014). Die „Familienähnlichkeit“ von den im Privathaushalt erbrachten Dienstleistungen zu privater Haus- und Sorgearbeit wird dabei häufig als Begründung und Legitimation für die Ungleichbehandlung von Hausangestellten aufgeführt (Scheiwe
2014). Insbesondere entspricht der gegenüber Live-ins formulierte Anspruch, den im Haushalt eines Pflegebedürftigen anfallenden Bedarf an Sorge- und Hausarbeit vollständig abzudecken, weithin dem an die Ehefrauen (bzw. in der Angehörigenpflege an die Töchter und Schwiegertöchter) adressierten Anspruch. Stärker noch als für andere im Haushalt erbrachte Dienstleistungen gilt also für die Live-in-Pflege, dass mit ihr stereotype Geschlechterrollen aufrechterhalten werden (Rossow und Leiber
2017). Sichtbar wird die Kontinuität der Idee einer „Arbeit aus Liebe“ schließlich auch darin, dass eine Form familiärer Zuneigung (
fictive kinship) zwischen den Live-ins, den Betreuten und ggf. den Angehörigen entsteht, die zur Verschleierung der Arbeit sowie ihrer Asymmetrien beiträgt und es den Erwerbstätigen erschwert, sich für ihre Rechte einzusetzen (u. a. Satola
2015, S. 207, S. 231).
Zweitens ist die Ethnisierung von Sorgearbeit im globalen Norden bedeutsam. So ist in den vergangenen zwanzig Jahren die Sorgearbeit in Privathaushalten zum größten Beschäftigungssektor für Migrantinnen geworden (vgl. Lutz
2018, S. 23). Im Pflegesektor gewinnen Strategien an Bedeutung, Beschäftigungslücken durch legale und illegalisierte Migration zu schließen oder zumindest zu verringern. Die Nachfrage nach migrantischen Arbeitskräften wird insbesondere durch die demographische Alterung der Bevölkerung sowie die steigende Erwerbsbeteiligung „einheimischer“ Frauen befördert. So dient die Auslagerung von Sorgearbeit
an Migrantinnen dazu, die geschlechtsspezifische Sorgeverantwortung der „einheimischen“ Frauen zu reduzieren. Sorgearbeit bleibt auf diese Weise in weiblicher Verantwortung, wodurch die bisherige geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung in anderer Form perpetuiert wird (u. a. Emunds und Merkle
2016; Lutz
2018).
Die migrantischen Arbeiterinnen verbindet, dass sie aus ärmeren Ländern stammen und ihre Einkünfte als Remissionen in die Herkunftsländer rücküberweisen, um mangelnde Sozialleistungen sowie Bildung für Kinder und Familienangehörige zu finanzieren. Ihre Löhne sind geringer als diejenigen „einheimischer“ Pflegekräfte und ihre Tätigkeit in einem ausländischen Haushalt bildet die Alternative zu Arbeitslosigkeit oder geringer entlohnter Arbeit im eigenen Land (vgl. Lutz
2018, S. 25 f.). Eine Voraussetzung dieser Form der Erwerbsarbeit bildet somit eine ökonomische Asymmetrie von Aufnahme- und Herkunftsland. Dieses Phänomen der Transnationalisierung von Sorgearbeit
ist mit dem Konzept der
Global Care Chain gefasst worden (Hochschild
2000). Das Konzept macht deutlich, wie im globalen Norden
5 kommerzialisierte Sorgearbeit in Versorgungsketten an Migrantinnen weitergereicht wird, die wiederum einen Anteil ihres Einkommens für die Versorgung ihrer eigenen Familie ausgeben. Dadurch wird soziale Ungleichheit transnational konstituiert, da einerseits die Haushalte in den Aufnahmeländern von emotionalem Mehrwert profitieren, während andererseits die zurückgelassenen Familien in den Heimatländern an Care-Lücken zu leiden haben (vgl. Lutz
2018, S. 40).
Drittens kann aufgezeigt werden, dass die Vermarktlichung der Pflege damit einhergeht, dass den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen eine spezifische Rolle mit entsprechend konturierter und stark begrenzter Verantwortungswahrnehmung angeboten wird. Auf dem Markt für Pflegeleistungen werden sie als Kunden adressiert, die aus dem Sortiment verschiedener Angebote ambulanter Dienstleistungen das von ihnen präferierte Leistungspaket auswählen können. Die Agenturen agieren auf diesem Markt als Adressaten des marktorientierten Handelns der Kunden und zugleich als Gestalter des Marktes, indem sie für verschiedene Pflegegrade sowie für unterschiedliche pflegerische und sprachliche Kompetenzansprüche passende Leistungsangebote zu bestimmten Preisen auflisten. Letztlich führen die meisten Angebote zu einem „Rundum-sorglos-Angebot“ (Rossow und Leiber
2017, S. 296) an die Angehörigen, das die Live-in-Pflege als vollständigen und beinahe gleichwertigen Ersatz von Angehörigenpflege propagiert und die Angehörigen scheinbar von allen weitergehenden Pflichten befreit. Vor allem ermöglicht die Kundenrolle den Pflegebedürftigen und den Angehörigen, ihre Verantwortung als Arbeitgeber der Live-ins von sich zu weisen. Als Legitimation für ihr Handeln können sie auf einen agenturvermittelten Markt verweisen, auf dem sie lediglich ein bestimmtes Leistungsangebot nachfragen und dabei ein vorgegebenes Preis-Leistungs-Verhältnis akzeptieren. Ihre eigene Mitverantwortung an der Fortsetzung von Ausbeutungspraxen migrantischer Sorgearbeiterinnen können sie auf diese Weise negieren (vgl. Rossow und Leiber
2017, S. 297 ff.). Insofern erfüllt der Pflegemarkt eine legitimierende und rechtfertigende Funktion für Familien mit Pflegeverantwortung, wenn sie die prekäre Sorgearbeit durch Live-ins in Anspruch nehmen.
Die in diesem Abschnitt skizzierte Kontextualisierung der Live-in-Pflege in drei Schritten konnte deutlich machen, dass sich in dieser Praxis Kontinuitäten (wie weibliche Sorgearbeit und migrantische prekäre Arbeit) manifestieren und Rollenmuster (wie das Verständnis der Haushalte als Kunden) verdichten. Durch die Reproduktion geschlechtsspezifischer und ethnischer Asymmetrien sowie aufgrund der Verdrängung individueller Verantwortung durch die Teilnahme an einem Markt mit vorgegebenen Angeboten nehmen die Familien mit Pflegeverantwortung ihren Rückgriff auf weibliche migrantische Sorgearbeit in der Live-in-Pflege nicht als Ausbeutung und sich selbst nicht als Ausbeuter wahr. Zugleich wird gesellschaftlich verhindert, dass die arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung dieser Arbeit mit anderen Formen der Erwerbstätigkeit – wie sie auch von den eingangs zitierten internationalen Organisationen angemahnt wird – als eine vordringliche politische Aufgabe erkannt und in Angriff genommen wird.