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Erschienen in: Heilberufe 6/2018

01.06.2018 | PflegeAlltag Zur Zeit gratis

Neue Lebensqualität für kranke und alte Menschen

Virtual Reality

verfasst von: Springer Medizin

Erschienen in: Heilberufe | Ausgabe 6/2018

Bewegung auf grüner Wiese oder eine entspannende Bootsfahrt auf dem Bodensee statt trister Krankenzimmerwände: Mit diesem Angebot will ein Start-up der Universität Hohenheim in Stuttgart, das Uni-Spin-Off ANDERS VR, Patienten in Krankenhäusern und Menschen mit eingeschränkter Mobilität zu mehr Lebensqualität verhelfen.
Karl ist 90 Jahre alt und macht zum ersten Mal im Leben Yoga — vom Sofa aus. Sein Zimmer im betreuten Wohnen in Stuttgart-West muss er dazu nicht verlassen: Eine Virtual Reality-Brille bringt ihn auf eine grüne Sommerwiese, auf der ihm ein persönlicher Coach direkt gegenübersitzt. Die sanften Übungen kann er entspannt mitmachen. Karl ist einer der ältesten Probanden, der das therapeutische Virtual Reality-Angebot testet. ANDERS VR-Gründer Dr. Andreas Haas vom Fachgebiet Versicherungswirtschaft und Sozialsysteme der Universität Hohenheim und sein Team dokumentieren die Reaktionen ihrer Tester mit der Filmkamera und führen Befragungen durch, um die Virtual Reality-Inhalte kontinuierlich zu verbessern. Die positiven Reaktionen von Karl und anderen Probanden haben sie in ihrer Idee bestätigt: Virtuelle Ausflüge in gewohnte Umgebungen mit therapeutischem Nutzen.
Dabei wird Patienten erstmals ermöglicht, mit 360-Grad-Aufnahmen für eine gewisse Zeit dem Krankenzimmer zu entfliehen. Über eine App können verschiedene Szenarien gewählt werden, z.B. Naturaufnahmen, angeleitete Atemübungen oder Entspannungssequenzen und auch leichte Bewegungsübungen. In jedem Fall wird der Patient in die Natur gebracht: in den Sonnenaufgang auf dem Berg, in die Abendsonne am See, in den Wald oder auf eine Wiese.

Psycho- und Physiotherapie ergänzen

Für Haas und sein Team geht es darum, die bislang angebotene Betreuung nachhaltig zu ergänzen, um die psychologischen und physiologischen Folgen langer Krankenhausaufenthalte aufzufangen. „Wir nehmen ein Problem mit gravierenden ökonomischen Folgen in den Fokus“, erläutert der Wirtschaftswissenschaftler. „Die psychologische Belastung des Patienten kann Einfluss auf die Behandlungszeit und auch den Behandlungserfolg haben, weil Therapien abgebrochen oder nicht gut angenommen werden.“ Geschätzte 300 Millionen Euro Folgekosten entstehen daraus pro Jahr. Und es könnten mehr werden, wenn Krankenhäuser aus Kostengründen weniger Therapeuten beschäftigen können. Entsprechend positiv sei der Zuspruch der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, mit denen die Entwickler im Gespräch sind, so Haas.

Von der Uni auf die Station

Die enge Zusammenarbeit mit Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ist dem ANDERS VR-Team besonders wichtig. Nach Tests mit einzelnen kleinen Gruppen folgten weitere Pilotprojekte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. In welchen Fachbereichen ANDERS VR dabei zum Einsatz kommt, wird mit den Krankenhäusern individuell festgelegt. „Die Atemübungen sind beispielsweise ein wichtiger Punkt, bei dem sich die Krankenhäuser unter anderem einen präventiven Nutzen bei der Vermeidung von Lungenentzündungen erhoffen. Das kann die Verweildauer verkürzen und die Genesung unterstützen. Aber auch der Einsatz von Entspannungsinhalten in der Schmerztherapie wird mit den Krankenhäusern konkretisiert.“

Lernfähige App für individuelle Therapie-Angebote

Physiotherapeuten, Psychologen und andere Experten beraten das Team bei der Entwicklung der Inhalte, die auf die Situation der Patienten zugeschnitten sind. Sie berücksichtigen zum Beispiel, ob ein Patient im Krankenbett nur flach liegen oder auch aufrecht sitzen kann, erklärt Haas: „Wir simulieren bei unseren Tests die unmittelbare Umgebung und Bewegungsfreiheit des Patienten: Infusionskabel, Sitzpositionen oder auch die Ausmaße von Krankenbetten müssen berücksichtigt werden, um ausladende Armbewegungen zu verhindern.“ Solche Einstellungen soll die Software sich merken, aber auch das Nutzerverhalten der Patienten verstehen. „Wenn ein Patient zum Beispiel regelmäßig längere Sequenzen bevorzugt, merkt sich das die Software und bietet in Zukunft präferiert Inhalte in der entsprechenden Länge an. Außerdem wird die Software nach jeder Sequenz kurz abfragen, ob diese dem Patienten gefallen und gut getan hat.“

Virtual Reality neu denken

Mit bestehenden Virtual Reality-Angeboten haben die Inhalte von ANDERS VR (www.​ANDERS.​life) wenig zu tun. „Die Angebote für den regulären Markt richten sich an Leute, die ein aufregendes Wow-Erlebnis haben wollen“, so Haas. „Unser Ziel ist es hingegen, die Nutzer zu beruhigen, zu unterstützen und zu begleiten. Hierbei müssen einige Aspekte berücksichtigt werden. Schnelle Kamerabewegungen sind tabu, die Ich-Perspektive in der Virtuellen Welt muss der tatsächlichen Position des Nutzers entsprechen — sonst wird den Nutzern schlecht oder schwindelig. Wir achten darauf und verhindern das.“
Wichtig sei auch die Normalität, die vielen Patienten fehle. Dazu zählt auch der Anblick eines Menschen, der keine medizinische Schutzkleidung trägt. Die Entwickler haben bewusst auf animierte Figuren und Umgebungen verzichtet, um das Erlebnis so realistisch wie möglich zu machen. Solche Inhalte in hochwertiger Qualität herzustellen ist aufwendig. Mit im Team ist deshalb der Filmemacher Stefan Bünnig, der die sieben- bis 15-minütigen Filme erstellt. „Von der Konzeption bis zum fertigen therapeutischen Virtual Reality-Erlebnis vergehen zwei bis drei Monate“, erklärt Bünnig. Für die hohen technischen Anforderungen der 360-Grad-Filme gäbe es bislang keine standardisierte Technik.

Personalisierte Inhalte für Demenzkranke

Schon jetzt arbeiten die ANDERS VR-Macher an Angeboten für weitere Zielgruppen, zum Beispiel für Demenzkranke. Ein erster Test in Kooperation mit der „Demenzpflege Riedlingen“ sei überwältigend positiv verlaufen, berichtet Haas. „Wir setzen bei den Demenzlotsen auf regionale Landschaften und Inhalte. Unter den Testern waren Personen, die sonst kaum mehr reden oder wenig auf äußere Reize wie Fernsehen reagieren. Das ändert sich beim Einsatz von unseren VR-Inhalten, in denen sich die Menschen wiederfinden. Wir sehen demenzkranke Menschen, die plötzlich wieder lachen, über das Gesehene reden und sich an Vergangenes erinnern.“ Attraktiv für Demenzkranke könnten personalisierte Inhalte sein, bei denen die Szenerie an die Biografie der Patienten anknüpft. „Ein Patient aus Norddeutschland könnte zum Beispiel einen Film zu sehen bekommen, der am Strand spielt“, führt Filmemacher Bünnig die Idee aus. „Auch Städte aus der Heimatregion, Bilder von lokalen Festen und Umzügen oder ein Sprecher mit heimischem Dialekt könnten diese Vertrautheit schaffen. Wir sehen hier einen spannenden Forschungsbereich, der noch ganz am Anfang steht.“

Anpassung der Hardware notwendig

Auch die nötige Hardware hat das Team an die vorgesehene Nutzung angepasst: Die VR-Brillen sind komplett desinfizierbar, für die Kontaktstelle zwischen Gesicht und Hardware haben die Gründer einen gepolsterten Lederaufsatz entwickelt und fertigen lassen. Die Hygienestandards im Krankenhaus werden dadurch erfüllt, und die VR-Brille kann auch in sensiblen Bereichen des Krankenhauses, wie im OP-Saal, der Intensivstation oder auf einer Isolationsstation für Leukämiepatienten zum Einsatz kommen. Um die Krankenhaustechnik nicht zu stören, stellt ANDERS VR alle Inhalte offline auf dem Gerät zur Verfügung.
Eine spezielle Entwicklung im Altenheim wurde mit dem VR Demenzhut angestoßen: In einer Kooperation mit den Demenzpflege Riedlingen wird die VR-Brille optisch so verändert, dass der technische Charakter des Produktes verschwindet. Die VR-Brille wird in einen klassischen Hut integriert, der den Menschen optisch vertrauter ist als der heutige technische Charakter der Brille.

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Metadaten
Titel
Neue Lebensqualität für kranke und alte Menschen
Virtual Reality
verfasst von
Springer Medizin
Publikationsdatum
01.06.2018
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Heilberufe / Ausgabe 6/2018
Print ISSN: 0017-9604
Elektronische ISSN: 1867-1535
DOI
https://doi.org/10.1007/s00058-018-3521-8

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