1.2.1 Institutionelle Weichenstellungen
Bei einem steuerfinanzierten Leistungsgesetz – der damals meistdiskutierten Alternative – wären die Kosten, aber auch die Aufbringung der Mittel schwer kalkulierbar gewesen und man hätte mit größerem „Abgabenwiderstand“ rechnen müssen als bei der Finanzierung durch Sozialabgaben. Die Attraktivität einer freiwilligen Privatversicherung muss man heute – nach den Erfahrungen mit der Riester-Rente (und auch dem „Pflege-Bahr“) – noch skeptischer einschätzen als damals. Private Versicherungen auf der Grundlage des Kapitaldeckungsverfahrens stellen sich heute angesichts der fortdauernden Niedrigzinsphase als problematisch dar; die Behauptung ihrer Überlegenheit gegenüber dem Umlageprinzip verliert immer mehr an Plausibilität. Dabei waren die privatwirtschaftlichen Alternativen vor allem ein Anliegen der FDP, der es durchaus schwerfiel, der Sozialversicherungslösung zuzustimmen.
Mit der Entscheidung für eine Sozialversicherung
war die
Finanzierung durch Beiträge verbunden. Das hatte und hat alle Vorteile, die der Einzug im Rahmen des Gesamtsozialversicherungsbeitrags mit sich bringt. Es zieht aber auch solche Regelungen nach sich, die als „Gerechtigkeitsdefizite“ diskutiert werden: Wie in der gesetzlichen Krankenversicherung werden in der sozialen Pflegeversicherung
(SPV) (für die Pflichtversicherten) nur die Arbeitseinkommen und Lohnersatzleistungen (insbesondere Renten) verbeitragt, nicht aber andere Einkommensarten. Außerdem wird mit der Beitragsbemessungsgrenze gegen die „vertikale Gerechtigkeit“ verstoßen.
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Bemerkenswert ist eine Besonderheit, die in der deutschen Sozialversicherung nur für die SPV eingeführt wurde:
4 Mit dem Kinder-Berücksichtigungsgesetz
(KiBG
2004) wurde die Kindererziehung im Beitragsrecht der SPV berücksichtigt. Versicherte zwischen 23 und 60 Jahren ohne Kinder zahlen seitdem einen Beitragszuschlag von 0,25 % zur Pflegeversicherung. Der Kinderzuschlag ist ein konzeptioneller Eingriff in die übliche Beitragsfinanzierung der Sozialversicherung, dessen gedanklicher Ansatz z. B. auch auf die Rentenversicherung übertragbar wäre, dort aber bisher politisch nicht von relevanten Kräften aufgegriffen wurde.
Dabei ist eine Besonderheit, dass die Pflegeversicherung
de facto als
Einheitsversicherung mit einem vollständigen Ausgabenausgleich konzipiert wurde. Trotzdem wurde sie in die Hand der wettbewerblich ausgerichteten Kassen gelegt. Deren Wettbewerb war allerdings gerade mit dem zu Beginn des Jahres 1993 in Kraft getretenen Gesundheitsstrukturgesetz
(GKV-GSG
1992) neu geordnet und forciert worden. Daraus erwuchs ein Spannungsverhältnis zwischen beiden Aufgabenbereichen der Kassen, das zum Teil bis heute anhält. Das ist gelegentlich an den Berührungspunkten beider Leistungsbereiche, etwa der Prävention oder Rehabilitation, zu spüren. Immer wieder wurde den Kassen der Vorwurf gemacht, durch ihre Konzentration auf den für sie existentiell bedeutsamen Wettbewerb in der GKV käme es zu einer Vernachlässigung ihrer Aufgaben im Bereich der Pflegeversicherung. Die Kassen würden zu wenig tun, um Pflegebedürftigkeit
zu verhindern bzw. durch geeignete Maßnahmen, etwa die geriatrische Rehabilitation, einzudämmen. Ein immerwährender Streitpunkt ist die Zuordnung der „medizinischen Behandlungspflege“, die gegenwärtig von der Pflegeversicherung finanziert wird. Begründet war das ausschließlich mit der finanziellen Entlastung der GKV – ein Grund, der sich inzwischen erledigt hat. Nach dem Charakter der Leistung gehört sie zweifellos in die Zuständigkeit der Krankenversicherung (Rothgang und Müller
2013).
Trotz der konzeptionellen Unterschiede von Kranken- und Pflegeversicherung gab es immer wieder Vorschläge, die Pflegeversicherung als einen Leistungsbereich in die GKV zu integrieren und ebenfalls wettbewerblich auszurichten. Verbunden mit einem angemessenen Risikostrukturausgleich sollten die Kassen damit z. B. motiviert werden, einerseits durch Gesundheitsförderung und Prävention dem Eintritt der Pflegebedürftigkeit vorzubeugen bzw. durch Rehabilitationsmaßnahmen ihr Fortschreiten zu verzögern. Andererseits erhoffte man sich, dass die Kassen versichertenorientierte Pflegearrangements entwickeln und mehr auf die individuellen Problemlagen der Pflegebedürftigen eingehen. Mit der zunehmenden Skepsis der Politiker gegenüber wettbewerblichen Lösungen in der Sozialpolitik wurden solche Überlegungen jedoch immer seltener geäußert. Seit längerer Zeit sind sie praktisch aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Der mit den aktuellen Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung und den Einkommenssteigerungen der Pflegekräfte einhergehende Kosten- und Beitragssatzanstieg könnte allerdings das Interesse an einer wettbewerblichen Effizienzsteigerung im Pflegebereich wieder wecken. Eine Renaissance der Integrations-Debatte wäre somit nicht völlig überraschend.
Es gab und gibt auch keine selektiven Vertragsmöglichkeiten für die Pflegekassen und dementsprechend keine Fallsteuerung für die Pflegebedürftigen. (Wo sollte auch ein entsprechendes Motiv für die Pflegekassen herkommen?) Herr des Verfahrens ist allein der Pflegebedürftige, der mit den Diensten bzw. stationären Einrichtungen Verträge schließen muss. Die Pflegekasse übernimmt nur die entsprechenden Zuschüsse.
Insoweit gibt es zwar ein Vertragssystem mit den Pflegekassen, das aber zahnlos gegenüber den Leistungserbringern ist. Die Verträge haben keine Steuerungswirkung, weder in regionaler Hinsicht (unterschiedliche Bedarfe) noch in Fragen der Qualität (so sind z. B. auch keine finanziellen Anreize für eine bessere Pflegequalität möglich).
Dieses Verfahren unterstreicht zwar die Autonomie der Pflegebedürftigen, setzt sie aber dem Wettbewerb der Anbieter aus. Gegenüber den Einrichtungen bzw. Pflegediensten sind sie als Einzelne regelmäßig in einer relativ schwachen Position (auch das ist ein Aspekt des Teilleistungsprinzips). Dabei ist das Angebot – trotz einiger Verbesserungen – immer noch nicht transparent genug. Beispielsweise wird man erst mit dem seit November 2019 funktionierenden System zur Qualitätsbewertung von Heimen das Angebot besser bewerten können. Außerdem stößt das Autonomie-Konzept in den Fällen an seine Grenze, in denen Hilfe zur Pflege in Anspruch genommen werden muss; der Sozialhilfeträger ist dann regelmäßig gehalten, für die Pflegebedürftigen das preisgünstigste Leistungsangebot zu wählen.
Ebenso bahnbrechend war die Vorgabe eines
identischen Leistungsrahmens für die soziale und die private Pflegeversicherung. Störend ist dabei nur, dass es zwischen SPV und PPV keine Finanzierungssolidarität gibt.
6 Die unterschiedlichen Finanzierungssysteme bestehen nebeneinander fort.
Die Begründung der Gesetzesinitiative war und ist in diesem Punkt modern und nach wie vor zutreffend: Hingewiesen wird auf die künftige demographische Entwicklung, die durch steigende Lebenserwartung und eine Zunahme des Anteils der über 75-Jährigen an der Wohnbevölkerung gekennzeichnet sei. Diese Altersgruppe sei in erhöhtem Maße vom Risiko der Pflegebedürftigkeit betroffen. Zugleich wird jedoch darauf hingewiesen, dass hier kein Automatismus vorliegt: „Es ist also völlig falsch zu glauben, im gleichen Maß wie die Zahl der älteren Mitbürger würde auch die der Pflegebedürftigen steigen. Die Älteren werden jünger, sie werden jünger in ihrer gesundheitlichen Verfassung. Sie sind vitaler.“
Bewusst war auch, dass der Bevölkerungsanteil jüngerer Menschen, die pflegen können, abnimmt. „Veränderungen in den Lebensbedingungen und familiären Beziehungen führen zu einer weiteren Zunahme der Kleinfamilien und Einpersonenhaushalte […] Diese gesellschaftlichen Entwicklungen erschweren die häusliche Pflege. Sie verstärken die Notwendigkeit, die soziale Absicherung der Pflegebedürftigen und der Pflegepersonen auf tragfähige Grundlagen zu stellen.“ (alle Zitate: Pflege-VG
1993, S. 62)
Mittlerweile haben sich zwischen den ambulanten Pflegediensten und den Pflegeheimen verschiedene Versorgungsformen etabliert (z. B. Pflege-Wohngemeinschaften) die zwar formal als ambulant eingestuft (und vergütet) werden, tatsächlich aber (kleinere) stationäre Einrichtungen sind. Dabei ist es bedarfsgerecht, dass sich zwischen den Sektoren ambulant und stationär weitere Angebots- und Übergangsformen herausbilden und das auch gesetzgeberisch nachvollzogen wird. Ein grundsätzliches Problem ist jedoch, dass über die Versorgungsqualität in diesen intermediären Einrichtungen wenig bekannt ist und bislang keine systematische Überprüfung stattfindet.
Möglicherweise ist im Bereich der Pflege der Grundsatz „ambulant vor stationär“ insgesamt weniger sinnfällig als in der Gesundheitsversorgung. Schon im Bereich der medizinischen Versorgung muss hier mit Augenmaß geurteilt werden: So müssen die Übergänge zwischen den Sektoren z. B. durch ein funktionierendes Entlassmanagement mit einem aktiven Sozialdienst, teilstationären Leistungsangeboten und Formen der Kurzzeitpflege
7 etc. organisiert werden. Nur unter diesen Bedingungen ist der Grundsatz sinnvoll.
Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Teilhabe, der mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff eine herausragende Bedeutung erhält, ist der Grundsatz „ambulant vor stationär“ bei den Pflegeleistungen noch kritischer zu hinterfragen: Angesichts etwa der veränderten Familienstrukturen kann es zur Vereinsamung der Pflegebedürftigen kommen. So entspricht es nicht dem Sinn der Pflege zu Hause, wenn der Pflegedienst als einziger Sozialkontakt verbleibt. Wie mit dem Problem der zunehmenden Vereinsamung alter (und vor allem hochaltriger) Menschen umzugehen ist, wird inzwischen als gesellschaftliches und politisches Problem wahrgenommen. Für Pflegebedürftige, die zwar ambulant, jedoch nicht mit familiärer Unterstützung gepflegt werden, wiegt das Problem noch schwerer.
Dieser Zusammenhang war auch schon den Koalitionsfraktionen beim Pflege-VG bewusst: In Artikel 18 (Änderung des Bundessozialhilfegesetzes) heißt es beispielsweise in dem neugefassten § 68 Abs. 5: „Um der Gefahr einer Vereinsamung des Pflegebedürftigen entgegenzuwirken, sollen bei der Leistungserbringung auch die Bedürfnisse des Pflegebedürftigen nach Kommunikation berücksichtigt werden.“
Aus dem im Fraktionsentwurf zum Pflegeversicherungsgesetz
(Pflege-VG
1993) noch in § 69 vorgesehenen Bundeszuschuss für die Investitionsförderung der Pflegeinrichtungen wurde schon in der Beschlussempfehlung für den Bundestag
9 ein „Finanzierungsbeitrag der Länder“: „Die Länder wirken darauf hin, daß ein Teil der Einsparungen, die den Sozialhilfeträgern durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen, zur Finanzierung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen eingesetzt wird, indem sie einen Finanzierungsbeitrag zu Händen des Bundesversicherungsamtes leisten […]. Die Einzelheiten zum Umfang des Finanzierungsbeitrags und zur Bemessung der Anteile der Länder werden in einem Staatsvertrag geregelt, der rechtzeitig vor dem Inkrafttreten der Leistungen zur stationären Pflege zwischen Bund und Ländern abgeschlossen wird.“
Diese schöne Idee wurde im Kompromiss mit dem Bundesrat noch weiter aufgeweicht. In § 9 „Aufgaben der Länder“, der im Wesentlichen heute noch gilt, hieß es dann: „Die Länder sind verantwortlich für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur. Das Nähere zur Planung und zur Förderung der Pflegeeinrichtungen wird durch Landesrecht bestimmt […]. Zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen sollen Einsparungen eingesetzt werden, die den Trägern der Sozialhilfe
durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen.“ Damit ging jede Verbindlichkeit verloren. Auch in § 82 „Finanzierung der Pflegeeinrichtungen“ wird nur geregelt, dass der von den Pflegebedürftigen zu tragende Investitionszuschlag um die Anteile aus Landeszuschüssen vermindert werden muss.
10 Ob es diese Zuschüsse tatsächlich gibt, blieb dabei völlig offen.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass von Anfang an in § 72 „Zulassung zur Pflege durch Versorgungsvertrag“ der Vorrang von freigemeinnützigen und privaten Trägern postuliert wurde (Absatz 3). Auch damit war und ist es den Ländern möglich, sich aus der Planung und Sicherstellung einer angemessenen Pflege-Infrastruktur weitgehend zurückzuziehen. Durch die Vorrang-Regelung hätte es jeder Versuch einer Bedarfsplanung mit denselben Schwierigkeiten zu tun, denen die Krankenhausbedarfsplanung der Länder gegenübersteht: der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit und den privaten Entscheidungsrechten der Träger zu Investitionen, Standorten etc.
1.2.2 Das Leistungssystem
Darüber hinaus wurden u. a. eingeführt:
-
Urlaubs-Pflegevertretung,
-
Tages- und Kurzzeitpflege
-
Zuschüsse zu Pflegehilfsmitteln und die
-
Erweiterung der sozialen Sicherung der Pflegepersonen.
Alle diese Leistungen wurden im Laufe der Zeit weiterentwickelt und ausgebaut, insbesondere die Versorgungsformen zwischen ambulant und stationär. Als „strukturelle“ Veränderung ist bei den Leistungen am ehesten der Übergang zu den fünf Pflegegraden
zu bewerten, der mit der Umsetzung des neuen Pflegebegriffs in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages verbunden war (insbesondere PSG II
2015). Im Pflegeversicherungsgesetz konzentrierte man sich dagegen zunächst auf die körperlichen Einschränkungen und entsprechende Hilfen. Die Fragen der sozialen Integration und vor allem das Demenz-Problem wurden zwar ansatzweise gesehen, aber zunächst nicht berücksichtigt. Hier gab es gesellschaftliche Lernprozesse, die in einem ersten Schritt zur Einführung besonderer Beratungsangebote und bescheidener Finanzhilfen (bis zu 460 € im Jahr) für „Pflegebedürftige mit erheblichem Betreuungsbedarf“ geführt hatten (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz
, PflEG
2001). Der nächste Schritt kam mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz
(
2008), in dem die Leistungen für Menschen mit „eingeschränkter Alltagskompetenz
“ ausgeweitet wurden.
Bei der Einführung der Pflegeversicherung wurden die Leistungen zunächst eher knapp kalkuliert, sollten aber die Kosten der ambulanten Pflegeeinsätze und der Pflegeleistungen in Heimen „in der Regel“ decken. Mit diesem System wurden Kostenbegrenzung und Berechenbarkeit erreicht; die Reform durfte auch die Arbeitgeber und den Koalitionspartner FDP nicht überfordern. Zur Akzeptanz des neuen Sozialversicherungszweiges war ein niedriger Einstiegs-Beitragssatz erforderlich.
Es würde hier zu weit führen, die einzelnen (jeweils meist verspäteten) Anpassungen der Leistungssätze nachzuverfolgen. Die stärkste Ausweitung hat jedenfalls im Zusammenhang mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs stattgefunden. Mit dem PSG II wurden die drei Pflegestufen durch die differenzierteren fünf Pflegegrade abgelöst. Die Leistungssätze wurden dabei merklich erhöht. Im Zusammenhang mit der Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten (vor allem bei Demenzerkrankungen) führte das zu einem Anstieg der Gesamtausgaben der Pflegeversicherung, die erhebliche Beitragssatzerhöhungen zur Folge hatte, zuletzt zu Beginn des Jahres 2019.
Die
Dynamisierung der Leistungen ist ein bis heute nicht überzeugend gelöstes Problem. In § 30 wurde die Bundesregierung zwar ermächtigt, durch Rechtsverordnung (mit Zustimmung des Bundesrates) die „Höhe der Leistungen im Rahmen des geltenden Beitragssatzes und der sich daraus ergebenden Einnahmeentwicklung anzupassen“. Die restriktive Tendenz der Formulierung im Pflege-VG ist jedoch unverkennbar. Bis zur ersten Anpassung im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz
2008 hatten die Leistungen daher durch die Inflation und die Kostensteigerungen der Pflegedienstleistungen ständig an Wert verloren. 2008 kam dann die Verpflichtung, die Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung
alle drei Jahre durch die Bundesregierung zu prüfen. Außerdem kam der (noch heute geltende) Hinweis auf eine Referenzgröße hinzu: „Als ein Orientierungswert für die Anpassungsnotwendigkeit dient die kumulierte Preisentwicklung in den letzten drei abgeschlossenen Kalenderjahren; dabei ist sicherzustellen, dass der Anstieg der Leistungsbeträge nicht höher ausfällt als die Bruttolohnentwicklung im gleichen Zeitraum. Bei der Prüfung können die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit berücksichtigt werden.“ Auch das klingt noch sehr engherzig. Im Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II
2015) wurde als nächster Überprüfungszeitpunkt das Jahr 2020 eingesetzt. Das war verständlich, waren doch die Leistungssätze für die fünf Pflegegrade
eben neu geordnet und insgesamt angehoben worden. Unbefriedigend bleibt allerdings, dass es keine automatische Anpassungsregel gibt, wie etwa für die Leistungen der Rentenversicherung oder die Höhe der Bezugsgröße (§ 18 SGB IV) etc.
Allerdings gibt es in den verschiedenen MDKs Unterschiede in den Einstufungen, die – auch unter Berücksichtigung der regionalen Altersstrukturen – über zufällige Varianzen hinausgehen. Hier gibt es nach wie vor Mängel in der Koordination und Abstimmung, die bei einem bundesweit einheitlichen Leistungsanspruch und einem einheitlichen solidarischen Finanzierungssystem erklärungsbedürftig sind. Auch wenn die aktuelle Reform der Medizinischen Dienste (MD) (MDK-Reformgesetz
2019) nicht durch die (verbliebenen) Probleme der Pflegebegutachtung
ausgelöst wurde (sondern durch die Prüfung der Krankenhausrechnungen für die GKV), stärkt sie die fachliche Unabhängigkeit der Dienste und könnte zu einer besseren Zusammenarbeit der regionalen MDs beitragen.
Mehr Aufmerksamkeit wurde dem Thema erst mit dem Pflege-Qualitätssicherungsgesetz
gewidmet (PQSG
2001). Durch dieses Gesetz wurde die Qualitätssicherung als elftes Kapitel des SGB XI ausgebaut (§§ 112 ff.). Nachgelegt wurde mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz
vom 28. Mai 2008.
Für diese schrittweise Entwicklung sollte man Verständnis haben; beim Start der Pflegeversicherung mussten überhaupt erst Angebotsstrukturen aufgebaut und Erfahrungen gesammelt werden. Auch in der GKV ist die Versorgungsqualität erst seit der Jahrtausendwende Gegenstand systematischer Beobachtung und Regulierung. Erst mit der zunehmenden Professionalisierung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und der Gründung des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (§ 137a SGB V) wurden hier die entscheidenden Schritte vollzogen. Hervorzuheben ist dabei die Ausrichtung der Leistungen am Maßstab der evidenzbasierten Medizin. Ein vergleichbarer Schritt steht in der Pflegeversicherung noch aus.
In der GKV entwickelte sich die Qualitätssicherung zunächst im stationären Bereich. Mit den niedergelassenen Praxen tut man sich dagegen immer noch schwer. Auch in der Pflegeversicherung zielt man zurzeit vor allem auf die Pflegeheime. Es scheint einfacher zu sein, Qualitätssicherung für größere Einheiten einzuführen als für einzelne und kleinere Akteure. Im Bereich der ambulanten Pflege weiß man daher bisher wenig über die Qualität.
Auch was sich in der familiären Pflege abspielt und wie z. B. das Pflegegeld
verwendet wird, ist weitgehend unbekannt. Die Versorgungsqualität in den intermediären Wohnformen (Pflege-WGs etc.) ist erst jüngst in den Blick der Öffentlichkeit geraten. Die Politik hat mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der intensivpflegerischen Versorgung und Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung – Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPREG
2019) reagiert. Diese „Ambulantisierung
der Pflege“ schreitet voran, über die Qualität der entsprechenden Leistungen kann jedoch gestritten werden. „Diese Wohnformen sind für die Bewohner und Betreiber zwar finanziell attraktiv, unterliegen aber keinem Qualitätssicherungsverfahren wie die Heime. Daher müssen nun zeitnah Qualitätsmaßstäbe für neue Wohn- und Pflegeformen entwickelt werden“, so Prof. Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer bei der Vorstellung des „Pflegereports 2019“ (Rothgang und Müller
2019).
Mit dem PSG II wurde daher ein neues Bewertungssystem eingeführt. Die Evaluierung der Einführungsphase führt allerdings erneut zu Zweifeln an seiner Tauglichkeit. „Bei den Pflegeeinrichtungen müssen viele Prozess- und Ergebnisdefizite vorliegen, damit negative Bewertungskategorien wie ‚erhebliche bzw. schwerwiegende‘ Qualitätsdefizite zum Tragen kommen. Ähnlich wie bei den Pflegenoten besteht die Gefahr, dass der Großteil der Einrichtungen überwiegend mit ‚keine oder geringe Qualitätsdefizite‘ oder ‚moderate Qualitätsdefizite‘ abschneiden wird, obwohl bei den Bewohnerinnen und Bewohnern deutliche Mängel festgestellt wurden. Gute und schlechte Qualität wäre so nur schwer zu unterscheiden“, kommentierte Dr. Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes Spitzenverband Bund (MDS) (Pick
2019).
Auch die Transparenz über die Leistungsansprüche und die Inanspruchnahme-Möglichkeiten war für die Anspruchsberechtigten von Anfang an eine „Baustelle“. In diesem Bereich der
Beratung wurde mit dem Pflege-Qualitätssicherungsgesetz (
2001) nachgebessert. Danach haben die Pflegekassen die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen so zu beraten, dass sie ihre Rechte und Ansprüche wirksam wahrnehmen können. Mit dem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz (PflEG
2001) wurde das Beratungsangebot für Schwerstpflegebedürftige erweitert, insbesondere für Demenzkranke
. Einen gewissen Durchbruch gab es mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Mai 2008. Es schreibt die Bildung von regionalen
Pflegestützpunkten vor, die zuständig sind für Beratung, Fallmanagement und die Erstellung individueller Versorgungspläne. Die Pflegekassen müssen mit ihnen eng zusammenarbeiten. Die Einrichtung der Stützpunkte in der Fläche ist jedoch nach wie vor lückenhaft; wie sie tatsächlich arbeiten und ob sie die erhofften Wirkungen entfalten, ist weitgehend unbekannt.