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Erschienen in: Pflegezeitschrift 12/2022

01.11.2022 | Palliative Pflege | Pflege Management Zur Zeit gratis

Lebendige Hospizkultur im Pflegeheim entwickeln

verfasst von: Martin Alsheimer

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 12/2022

Zusammenfassung

Der Beitrag nimmt Sie mit auf einen Rundgang durch ein Konzepthaus. Einige Schlüsselfragen und Musterbeispiele liefern dabei inhaltliche Anregungen, um die eigene Einrichtungskultur in den Blick zu nehmen. Ein Stufenmodell der Projektarbeit ordnet Aufgaben und Schritte für eine (Weiter-)Entwicklung der Palliativversorgung. Erfahrungen werden als Empfehlungen weitergegeben und einige der Hilfsmittel erschlossen. Werkzeuge für ein Palliativ-Projekt und einen "Wunschzettel" des Autors finden Sie am Ende des Beitrags.
Hinweise

Supplementary Information

Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s41906-022-1973-6 für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Bausteine und Projektschritte Das Pflegeheim wird für viele der Ort der letzten Lebensphase sein. Das gilt bereits für ein Drittel der Menschen in Deutschland. Tendenz steigend. Palliative Care wird deshalb zur zentralen Aufgabe in Pflegeeinrichtungen. Wie also kann eine gute Palliativversorgung klug organisiert werden?
Sie kennen Ihr Pflegeheim selbst am besten. Da Sie die Bedingungen überschauen - würden Sie in Ihrem Heim nicht nur arbeiten, sondern auch sterben wollen? Wenn Sie "Ja!" sagen: Was macht Sie zuversichtlich? Wenn Sie verneinen: Was macht Sie skeptisch gegenüber Ihrer Einrichtung? Diese sogenannte Gewissensfrage wurde in einer großen Studie zur Sterbebegleitung (Kaluza & Töpferwein 2005, S. 210) an Pflegekräfte und Leitungspersonen unterschiedlicher Einrichtungstypen gestellt. Wie würde Ihre Antwort auf die Frage ausfallen? Die Auflösung zu den Reaktionen in der Studie wird am Ende des Beitrags verraten.
Die "Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen" fordert etwas sperrig, aber eindringlich: "Menschen in hohem Lebensalter benötigen geeignete Versorgungsangebote, die auch palliative Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigen. Besonders in den stationären Pflegeeinrichtungen bedarf es der systematischen Weiterentwicklung von Palliativkompetenz und Hospizkultur. (…) In stationären Pflegeeinrichtungen ist die Entwicklung von Hospizkultur und Palliative Care als integraler Bestandteil der Organisationsentwicklung notwendig. Instrumente und Verfahren der Qualitätssicherung und des Qualitätsmanagements sind - auch zur Verbesserung der Transparenz über die Qualität des Versorgungsgeschehens - weiter zu entwickeln" (DGP, DHPV, BÄK 2010, S. 12).

Wegweiser für eine Hospizkultur im Heim

Der Deutsche Hospiz- und Palliativverband hat die Fragen aus Projekt-Beratungen (Müller & Kessler 2000; Orth & Alsheimer 2005) bereits vor einigen Jahren aufgegriffen und leicht abgewandelt in der Arbeitshilfe "Indikatoren und Empfehlungen für die Implementierung von Palliativkompetenz für Pflegeheime" (BAG 2006) veröffentlicht. Die Kernaussage: Wenn sich ein Pflegeheim intensiv mit bestimmten Fragen beschäftigt und vor Ort gute organisatorische Antworten findet, dann kann die Einrichtung von einer palliativ ausgerichteten Versorgung sprechen. Wenn diese von den Mitarbeitenden mitentwickelt, mit Überzeugung getragen und praktisch gelebt wird, dann reden wir von Hospizkultur.
Um welche Themen geht es? Das Bild des Konzepthauses veranschaulicht die organisatorischen Frage-Räume (Abb. 1). Ich nenne einige zentrale Fragen und nutze sie als Wegweiser für einen kleinen Rundgang. Eine umfassende Operationalisierung von Qualitätskriterien für Palliativversorgung findet sich bei Rösch, Alsheimer und Kittelberger (2017).
Blick auf Träger und Leitung: Das Fundament bilden Träger und Leitung, an die sich bestimmte Fragen und Aufgaben richten: Gibt es ein schriftliches Konzept oder Leitlinien der Einrichtung zur Palliativversorgung? Wenn ja: Ist dieses oder sind diese den Mitarbeiter*innen bekannt? Wie konnten sich Mitarbeitende an dem Konzept beteiligen? Macht es Aussagen darüber, wann Palliativversorgung und wann Sterbebegleitung beginnt und was diese alles umfassen? Wie wird das Verhältnis kurativ - palliativ gesehen? Ist das Konzept verständlich und mit konkreten Maßnahmen verbunden?
Hier gibt es typische Missverständnisse: Pflegende, Mediziner*innen und Angehörige haben oft ein verengtes, eher dunkel gefärbtes Verständnis von "palliativ" (Tab. 1). Gerade bei dem schleichenden Verlauf von Krankheiten und Gebrechlichkeit von Bewohner*innen im Alter gibt es über längere Strecken eine berechtigte Gleichzeitigkeit von aktivierender und palliativer Pflege. Die Mischung und das Maß - wie viel kurativ, wie viel palliativ? - müssen immer wieder im Team, mit Ärzt*innen und mit Betroffenen bzw. deren autorisierten Stellvertreter*innen neu bestimmt werden. Entscheidende Orte dafür sind kleine und große "Fall"-Besprechungen oder gut moderierte Ethikberatungen. Eine Palliativversorgung endet nicht mit dem Tod. Die Nachsorge für Angehörige gehört auch dazu. Palliativversorgung ist also deutlich früher im Beginn, später im Abschluss und wesentlich umfassender als Sterbebegleitung. Ein ausgereiftes Musterkonzept, das dieses Verständnis aufnimmt und exemplarisch durchspielt, findet sich bei Schwenk et al. (2015).
Tab. 1
: Was bedeutet "palliativ"? Typische Missverständnisse und die Auflösung
Typische negative Assoziationen
Positive Deutungen
Palliativ = "Das ist doch die Behandlung bei Krebserkrankung im letzten Stadium!"
Hier wird palliativ nur mit einem Krankheitsbild verbunden.
Palliativ = Aufmerksamkeit auf alle Belastungen, die mit Multimorbidität und hohem Alter verbunden sind. Und umgekehrt: Wir achten auf alles, was persönlich verstandene "Würde" und "Lebensqualität" fördert.
Palliativ = "Jetzt wird nichts mehr gemacht!"
Das erzeugt das Gefühl von "Vernachlässigung". Na ja, vielleicht geht noch Schmerztherapie.
Palliativ = kreativer Einsatz für Lebensqualität
Palliative Medizin, Pflege und Begleitung eröffnen uns viele Möglichkeiten, noch etwas für die jeweilige Lebensqualität tun zu können. Übrigens: Schmerz hat viele Gesichter: körperlich, psychisch, sozial und spirituell.
Palliativ = "Jetzt ist der Betroffene dem Tode nahe!"
Dadurch wird "palliativ" auf "Sterbebegleitung verkürzt.
Palliativ = möglichst früh = lebensverlängernd
Palliative Medizin, Pflege und Begleitung beginnen möglichst frühzeitig im Krankheitsverlauf. Übrigens: Früh begonnen wirkt palliativ nachweislich "lebensverlängernd".
Palliativ = "Erst dann, wenn nichts mehr kurativ gegen die Erkrankung hilft!"
Hier werden "palliativ" und "kurativ, oder aktivierend" als sich ausschließend gedacht.
Palliativ = ergänzender, integrativer Ansatz
Palliative Medizin, Pflege und Begleitung können zeitgleich neben kurativen Therapien und aktivierender Pflege erfolgen.
Palliativ = "Jetzt ist der Betroffene austherapiert! Therapieabbruch!"
Palliativ klingt hier brutal nach Hoffnungslosigkeit und Aufgeben.
Palliativ = Therapieziel und Therapien ausgerichtet auf Linderung. Therapiemöglichkeiten gibt es immer. Ein Therapieziel kann auch sein, "ein friedvolles Sterben zu ermöglichen".
Palliativ = "Nun ja, mit dem Tod ist die Versorgung vorbei!"
Palliativ wird auf die direkt Betroffenen und die unmittelbare Zeit des Sterbens verengt
Palliativ = gleichzeitig Sorge um trauernden Zugehörigen und das betroffene begleitende Pflege- und Betreuungsteam. Trauerbegleitung in Zeiten der Krankheit und Nachsorge sind ein wesentliches Element.
Empfehlung: Entwickeln Sie im Team zunächst ein geriatrisch erweitertes und integratives Verständnis von "palliativ" (Kojer & Heimerl 2010). Ein gutes Assessment für die Sensibilisierung bietet der Anamnesebogen SPICT™. An der Universität Edinburgh entworfen wird die Praxistauglichkeit im klinischen und hausärztlichen Bereich von der Medizinischen Hochschule Hannover wissenschaftlich erprobt (Afshar et al. 2016). Kostenfreie Schulungshilfen zum praktischen Verständnis von "palliativ" bieten die zwar dramaturgisch einfachen, aber inhaltlich gehaltvollen Lehrfilme PPP des Christophorus Hospiz Verein e.V. und der Fachstelle Palliativversorgung in der stationären Altenhilfe in Stadt und Landkreis München (CHV 2021). Didaktisch aufbereitetes Material auch für Inhouse-Fortbildungen für unterschiedliche palliative Themen ist unter "Palliative Care - Lehren. Lernen. Leben" abrufbar (Alsheimer et al. 2005 ff).
Blick auf Bewohner*innen: Symbolisch steht dafür die Eingangstür. Leitfragen: Wie können frühzeitig unaufdringlich Wünsche und Vorstellungen, aber auch Ängste zur letzten Lebensphase erfasst und gesichert werden? Bietet die Einrichtung entsprechende Beratung, wie beispielsweise in Form der "Gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase" (GVP) an? Wie können Sie als stationäre Einrichtung der Altenhilfe die Selbstbestimmung und Fürsorge von Menschen in der letzten Lebensphase schützen? Wie können Sie das Risiko von Über- oder Untertherapien minimieren?
Schlaglicht: Mehr als die Hälfte der Bewohner*innen ist in der terminalen Phase noch einmal im Krankenhaus. Ein Viertel verstirbt dort (Schwinger 2022). Wie lassen sich unnötige und ungewollte Krankenhauseinweisungen verhindern? Der Gesetzgeber ermöglicht im Hospiz- und Palliativgesetz "bezahlte Redezeit", um frühzeitig Bewohner*innen auf Wunsch eine Beratung zu den medizinischen, pflegerischen, psychosozialen und seelsorgerischen Versorgungsmöglichkeiten in der letzten Lebensphase anzubieten (§ 132g SGB V). Diese Form von Begleitung schafft einen Raum für Gedanken, Fragen und (Vor-)Entscheidungen aller Betroffenen und Beteiligten. Die Krankenkassen übernehmen als monatliche Pro-Kopf-Pauschale die Kosten für diese qualifizierte Beratung. Voraussetzung ist, dass Einrichtungen über entsprechend geschulte Berater*innen verfügen, einrichtungsintern oder in Kooperationen. Das Ziel ist, sensibel im Dialog mit Betroffenen oder über Fallbesprechungen Wert- und Lebensvorstellungen zu entwickeln, zu erörtern und zu verstehen. Die GVP-Berater*innen unterstützen auch die Dokumentation als wichtige Orientierung für künftige Therapieentscheidungen bei fehlender Einwilligungsfähigkeit (Patientenverfügung plus). Sie nehmen absehbare Komplikationen und Notfälle in den Blick, klären Fragen und Abläufe, bringen Informationen in die Teams und initiieren beispielsweise einen "Palliativen Krisen- und Behandlungsplan". Der Wirksamkeitsnachweis durch Begleitforschung steht noch aus. Aber es gibt starke Erfahrungen, wonach mit GVP-Berater*innen frühzeitig Sicherheit und Vernetzung geschaffen werden konnten.
Empfehlung: Nutzen Sie diese refinanzierte, faktische Stellenerweiterung für palliative Beratung im Haus. Wählen Sie Mitarbeiter*innen für diese vielfältige kommunikative Aufgabe sorgfältig aus. Achten Sie auf eine seriöse Qualifizierung.
Blick auf Angehörige: Die An- und Zugehörigen logieren im Bild des Konzepthauses ebenfalls im Erdgeschoss. Das gehört zum Grundverständnis von Palliative Care. Denn Angehörige sind Betroffene. Sie sind gleichrangig. Wie sieht die Unterstützung von Angehörigen im Vorfeld, in der akuten Zeit des Sterbens und auch danach aus?
Beispiel: In einem Pflegeheim in Neuburg an der Donau erhalten Angehörige nicht nur unmittelbar nach dem Tod eine Kondolenzkarte, sondern etwa ein bis zwei Monate später einen schön gestalteten Brief, der vom gesamten beteiligten Team unterzeichnet ist. Sinngemäß steht darin: "Wir sitzen gerade im Team zusammen und denken an Sie und Ihren verstorbenen Vater. Wir fragen uns, wie Sie die Zeit des Abschieds bei uns im Haus erlebt haben. Vielleicht hat Sie etwas gekränkt, was wir übersehen haben. Vielleicht hat Ihnen etwas gutgetan. Als Bereichsleitung würde ich Sie gerne in den nächsten Tagen anrufen und - natürlich nur, sofern Sie möchten - mich bei Ihnen erkundigen …".
Das Echo auf diese Aktion ist sehr positiv. Menschen sind berührt, dass sie und ihre verstorbenen Angehörigen Bedeutung haben und nicht schnell vergessen werden. Manchmal entdeckt man im Gespräch etwas, auf das man im Team in der nächsten Begleitung achten muss. Technisch gesagt: eine fürsorgliche Form von Qualitätskontrolle. Meistens dürfen die telefonierenden Kolleg*innen ein Dankeschön an das Team weitergeben.
Empfehlung: Üben sie im Team immer wieder den Perspektivenwechsel: Was würde ich mir als Angehörige*r von der Einrichtung wünschen? Was für ein Typ von Angehörige*r wäre ich wohl, so wie ich mich kenne? Wie würde wohl im Team über meine Familie geflüstert werden? Diese Selbstreflexion kann Vorurteile gegenüber "schwierigen" Angehörigen etwas aufweichen.
Rituale: Gibt es Formen des Gedenkens für Angehörige? In vielen Heimen werden Gedenkfeiern gehalten, meist in den liturgischen Formen eines Gottesdienstes. Manche Angehörige werden dadurch aber nicht erreicht. Gibt es offenere rituelle Angebote?
Empfehlung: Rituale haben ein gewisses Grundrezept. Damit lassen sich im Team Ideen suchen und zu einem stimmigen eigenen Ritual komponieren. (Alsheimer 2009, 2021). Beteiligte Mitarbeiter*innen und Ehrenamtlich erleben sich dabei in besonderer Weise kreativ und wirksam.
Blick auf Ehrenamtliche: Das Zimmer rechts vom Eingang im Konzept-Haus steht symbolisch für Ehrenamtliche. Spielen Ehrenamtliche in der Palliativversorgung eine Rolle? Wenn ja: Wie sind sie integriert? Pflegeheime sind gesetzlich verpflichtet, mit ambulanten Hospizdiensten zu kooperieren und darüber Auskunft zu geben wie sie die Zusammenarbeit organisieren. Oft besteht diese Kooperation aber nur "auf dem Papier". Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, wenn Hospizbegleiter*innen nicht nur sporadisch "last minute" gerufen werden, sondern fest zum erweiterten Team gehören. So kommen sie frühzeitig in Kontakt mit Bewohner*innen. Es kann sich daraus die eine oder andere Sterbebegleitung im engeren Sinne entwickeln. Auf diese Weise werden nicht am Schluss "Fremde zu Fremden geschubst". Eine höhere Präsenz in der Einrichtung ermöglicht Hospizbegleiter*innen auch, flankierende Unterstützung jenseits der direkten Begleitung zu geben.
Beispiel: Die Hospizbegleiter*innen in einem Pflegeheim in Unterfranken sind Mitglieder im "Team Gedenkfeiern" und in der "Palliativgruppe" der Einrichtung. Außerdem sind vier Frauen und Männer in "Aromapflege" qualifiziert. Ihre Leidenschaft sind Aromamassagen für die Bewohner*innen und das Beraten zu Palliativer Mundpflege. Der Hospizverein hält zwei Mal im Monat eine Sprechstunde im Haus zum Thema Patientenverfügung als niedrigschwelliges Angebot. Zwei Mal im Jahr wird ein Angehörigenabend mitgestaltet. Die Hospizbegleiter*innen sind zudem alle in validierender Kommunikation mit demenziell erkrankten Menschen geschult.
Empfehlung: Nutzen Sie die Ressourcen der Ambulanten Hospizdienste. Deren Koordinator*innen können als erfahrene Palliativkräfte auch niederschwellig fachlich beraten. Ehrenamtliche bringen eine kostbare Ressource mit ins Pflegeheim: Zeit. Und sie schaffen etwas Unbezahlbares: Normalität und Beziehung. Aber diese Bindungen gelingen nur, wenn Ehrenamtliche gut eingebunden sind. Ehrenamtliche Arbeit ist zwar kostenlos, aber sie hat durchaus einen Preis: Anerkennung und Zugehörigkeit. Diese "Währung" ist nicht anrüchig. Aber nicht der Begleitete "schuldet" sie, sondern der jeweilige Hospizverein und die Leitung der Pflegeeinrichtung. Einen Leitfaden für Kooperationsgespräche finden Sie bei Kittelberger et al. (2015 67 ff).
Blick auf Mitbewohner*innen: Das "Balkonzimmer" ist reserviert für die Rücksicht auf Mitbewohner*innen. Als Balkonzimmer bezeichne ich es deshalb, weil es für Mitbewohner*innen eine Art "Vorsterben" ist, wie es eine Heimbewohnerin einmal treffend genannt hat. Je nachdem, was Mitbewohner*innen im Haus im Umgang mit Sterben und Tod erleben, kann dies Ängste steigern oder Zuversicht schaffen. Wie können Mitbewohner*innen Abschied nehmen? Aber auch: Wie können Mitbewohner*innen das Erleben von Sterben und Tod auf gewünschten Abstand halten? Es muss möglich sein, dass Mitbewohner*innen Distanz wahren können und sich entziehen dürfen. Eine Hospizkultur ist keine Erziehungsdiktatur.
Blick auf die Situation nach dem Versterben: Im Zimmer mit der Aufschrift "Bestatter*innen" geht es nicht nur um diese Berufsgruppe und wie sie sich in der Einrichtung bewegt, sondern um Fragen dazu, wie die Situation nach dem Versterben gestaltet wird. Beispielsweise: Wie lange können Verstorbene in der Einrichtung bleiben - oder tickt sofort die Stoppuhr? Gibt es Formen der Aufbahrung? Braucht es bestimmte Räumlichkeiten und wenn ja: Wie sind diese gestaltet? Sind das Gruselkammern und Kellerverliese? Wie ist die Überführung gestaltet? Heimlich und unheimlich? In einigen Projekten hatten die Teams schöne räumliche Lösungen für Aufbahrungen und Aussegnungsfeiern gestaltet.
Beispiel: Pflegeheim St. Augustin in Neuburg: Ein Raum im ersten Stock mit separatem Zugang zum Garten. Man hat einen Blick ins Grüne. Der Aufbahrungsraum strahlt eine wohnliche Atmosphäre aus. Eine Künstlerin - bezahlt aus Spenden des Lions Clubs - hat den Raum in warme Farben getaucht. Ein Sofa gibt der Schwere Platz. Man kann Kaffee trinken am Totenbett ("Ich glaube, dass hätte Ihrer Mutter gefallen …"). Kinder finden im Trauerkorb Malstifte und Block ("Vielleicht magst Du Oma noch etwas malen …).
Blick auf Seelsorge und Hauswirtschaft: Ich gehe mit Ihnen nun in unserem Bild des Konzept-Hauses ins Obergeschoss: Im schützenden Dachgeschoss werden Fragen zur seelsorgerlichen Begleitung gestellt. Auch die Hauswirtschaft oder Verwaltung kann Teil der Hospizkultur sein. Wie geht es einer Kollegin aus der Hauswirtschaft, wenn sie in ein Zimmer geschickt wird, in dem eine Bewohnerin mit schwerer Rasselatmung liegt? Wie ist sie darauf vorbereitet? Oder umgekehrt: Werden Erfahrungen von hauswirtschaftlichen Kräften für eine Sterbebegleitung genutzt? Oft gibt es ja hier ganz eigene Beziehungen? Darf eine hauswirtschaftliche Kraft das Putzen für ein paar Minuten sein lassen und in der Stille des Zimmers bei einem sterbenden Menschen sitzen? Oder wie beteiligt sich die Küche an der Palliativversorgung?
Beispiel: In mehreren Projekten war die Küche äußerst kreativ und flexibel, um die Kolleg*innen in der Pflege und Betreuung bei der palliativen Mundpflege zu unterstützen. Es gab dutzende vorbereiteter, eingefrorener Geschmacksproben von Sekt bis Bratensoße. Kurzer Anruf in der Küche genügt. Oder man kann in appetitliche Form gebrachte passierte Häppchen ordern. Frau Mayer verspürt beispielsweise noch ein letztes Mal Lust auf den geliebten Schweinebraten. Essen kann sie ihn nicht mehr, aber den Geschmack noch einmal auskosten. Die Küche hat eine Bratensoße für die Mundpflege eingefroren. Diese wird aufgewärmt und entfaltet eine kleine vertraute Geschmacksexplosion bei der palliativen Mundpflege.
Blick auf Mitarbeiter*innen Pflege und Betreuung: Praktizieren die Pflegekräfte in der Palliativversorgung besondere pflegerische Maßnahmen? Wenn ja: welche? Sind Pflegekräfte dafür vorbereitet worden, beispielsweise durch Fortbildungen in Palliative Care? Wird Zeit für die Palliativversorgung und Sterbebegleitung organisiert? Wenn ja: wie?
Eine Frage zum Team greife ich am Schluss des Rundganges auf: Werden neue Mitarbeiter*innen und Auszubildende herangeführt und bei der Sterbebegleitung angeleitet? Wenn Sie an Ihre erste berufliche Begegnung mit einem Verstorbenen denken: Wie bewerten Sie dieses Erlebnis im Rückblick? In Palliativ oder Leitungskursen wird diese Frage mehrheitlich "negativ" beantwortet: unvorbereitet, alleingelassen, verwirrt. Manche zweifelten dann lange, ob sie beruflich geeignet sind. Wenn wir verhindern wollen, dass sich solche Ersterfahrungen über Generationen fortsetzen, dann muss das Thema sorgfältig in die Einarbeitung aufgenommen werden.
Empfehlung: Sensibilisieren Sie die Praxisanleitungen dafür, die jungen Kolleg*innen mit ihren Fragen, Vorstellungen und eventuellen Ängsten ohne Handlungsdruck wirklich gut abzuholen und heranzuführen (Alsheimer 2015, 2021).

Mitarbeitende lernen über Fortbildung, Organisationen über Projektarbeit

Wie Sie die gestreiften Themen und Fragen projektmäßig bearbeiten können, zeigt die Projekt-Treppe (Abb. 2, e-only). Dieses Arbeitsmittel dient zur Planung und Orientierung im Prozess. Die Projekt-Treppe identifiziert wichtige Schritte und Aufgaben. Die Reihenfolge hat eine gewisse Sachlogik, ist aber für die "Bewegung im Projekt" nicht zwingend. Es gibt beispielsweise Projektgruppen, die sich zunächst intensiv mit einzelnen Situationen beschäftigen und neue Handlungsstandards vorschlagen, weil hier die "größte Energie" vorhanden ist. Erst zu einem späteren Zeitpunkt werden die Einzelinitiativen in den Zusammenhang eines Gesamtkonzeptes integriert. Oder es wird zunächst die Vernetzung nach außen intensiviert und geregelt, weil es bereits gute Kontakte mit der örtlichen Hospizinitiative gibt (Checkliste). Auf dem "Wunschzettel" des Autors stehen diese Werkzeuge für Ihre Projektarbeit zur Verfügung. Sie können folgende Materialien per E-Mail kostenfrei anfordern:
  • Analysebogen: Wie gut ist unsere Palliativversorgung organisiert?
  • Anamnesebogen: Einschätzung Palliativer Status
  • Musterkonzept: Palliativversorgung und Hospizkultur
Zur Auflösung der Eingangsfrage "Würden Sie in Ihrem Heim sterben wollen?": Fast die Hälfte der befragten Pflegekräfte in Heimen misstraut der eigenen Sterbebegleitung. Eine enorme Spannung: Ich leiste als Pflegekraft eine Arbeit, der ich selbst nicht ausgeliefert sein möchte. Ein Kuriosum am Rande: Je höher man in der Position der Befragten kommt, um so positiver ist das Urteil: Bei den Pflegedienstleitungen wären rund 60% bereit, und bei den Heimleiter*innen können sich 70% vorstellen, im eigenen Heim ihr Leben zu beenden. Die Studie von Kaluza und Töpferwein liefert aber auch deutliche Zusammenhänge: Je mehr Rahmenbedingungen und Prozesse vor Ort geklärt wurden, umso höher ist der Grad der Zustimmung der Pflegekräfte auf die Ausgangsfrage (Ähnlicher Befund: Schneider et al. 2018). Erfolgreiche Projektbeispiele liefern den praktischen Beleg. Bei allen Widrigkeiten: Es gibt Chancen, auf der organisatorischen Ebene eines Heimes, etwas zu verändern. Nutzen wir sie.
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Abb. 2: Die Projekttreppe - Stufen und Aufgaben

Checkliste: Projektgestaltung - 7 Empfehlungen

  • Mitarbeiterorientierung: Das Personal muss das Projekt tragen und umsetzen können. Daher stehen die Mitarbeitenden mit ihren Erfahrungen, Überlegungen, Befürchtungen, Haltungen und Wünschen im Zentrum der Befragung und des Austausches. Die verschiedenen Mitarbeitergruppen, Positionen und Arbeitsbereiche müssen in der Projektgruppe repräsentiert sein.
  • Realistisch bleiben: Entlasten statt Belasten! Die Vorgaben und Maßnahmen müssen darauf geprüft werden, ob sie unter den jeweiligen Arbeitsbedingungen wirklich tragbar sind. Der vorübergehende Aufwand, den ein Projekt immer mit sich bringt, muss überschaubar und akzeptabel sein.
  • Wertschätzung: Ausgangspunkt ist die jeweilige Kultur des Hauses. Die bisherigen Leistungen, das persönliche Engagement, die gelebten Traditionen und Standards müssen gewürdigt und ins Bewusstsein gerückt werden, bevor Neues entwickelt werden darf.
  • Anstöße von außen - Verwandlung von innen: Oft ist es leichter, innerhalb der Organisation etwas zu bewegen, wenn neutrale Berater*innen den Prozess moderieren und Vorschläge einbringen.
  • Motivation: Auf erste Erfolge achten! Aus den anstehenden Aufgaben wählen Sie zunächst diejenigen aus, die eine schnelle Umsetzung versprechen. Rasche, spürbare Erfolge erhöhen das Durchhaltevermögen für längerfristige und schwierigere Prozesse.
  • Rückendeckung: Der Wille und die Beteiligung von Leitungskräften und Träger sind notwendig, damit das Projekt auf allen Ebenen Eingang findet und finanzielle und personelle Ressourcen dafür gesichert sind. Vorbildfunktion!
  • Transparenz: Bedeutung, Schritte und Ergebnisse müssen immer für Mitarbeitende, Bewohner*innen, Angehörige, Ärzt*innen erkennbar sein! Flankierende Info-Veranstaltungen, Teamdiskussionen und Fortbildungen sichern das Verständnis für das Projekt.

Fazit

In den stationären Pflegeeinrichtungen ist die systematische (Weiter-) Entwicklung einer Hospizkultur notwendig.
Das Bild des Konzepthauses kann als Wegweiser und zur Veranschaulichung genutzt werden, um Qualitätskriterien der Palliativversorgung zu hinterfragen und festzulegen.
Eine Projektarbeit kann als Arbeitshilfe dienen, damit in einer Einrichtung eine Hospizkultur (neu) entstehen kann.

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Metadaten
Titel
Lebendige Hospizkultur im Pflegeheim entwickeln
verfasst von
Martin Alsheimer
Publikationsdatum
01.11.2022
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 12/2022
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-022-1973-6

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