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Open Access 2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

12. Reformbedarf für angemessene Arzneimittelpreise aus Sicht der gesetzlichen Krankenkasse

verfasst von : Dr. Sabine Richard, Sabine Jablonka, Dr. Jana Bogum, Gina Opitz, Constanze Wolf

Erschienen in: Arzneimittel-Kompass 2021

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Zusammenfassung

Zusammenfassung

Neue Arzneimittel sind in Deutschland unmittelbar für die Patientinnen und Patienten verfügbar: Nach der Zulassung werden die Arzneimittel automatisch von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattet – zum vom pharmazeutischen Unternehmer frei festgelegten Preis. Dies steht im Gegensatz zum Vorgehen in vielen anderen europäischen Ländern mit weitergehenden Regulierungen des Markt- und damit Erstattungszuganges. Der frei festgelegte Marktpreis wird erst in Preisverhandlungen zum Erstattungsbetrag in der GKV auf Basis der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beschlossenen Nutzenbewertung angepasst und gilt ab dem 13. Monat nach Marktzugang. Krankenkassen und Ärztinnen und Ärzte sind mit einer zunehmenden Zahl hochpreisiger Arzneimittel konfrontiert, die durch beschleunigte Zulassungsverfahren eine eingeschränkte Datenbasis für eine Bewertung ihres Zusatznutzens mitbringen. Gesetzliche Änderungen sind dringend geboten, um die hohe Qualität der Gesundheitsversorgung und deren Finanzierbarkeit zu sichern. Dabei können die Einführung eines Interimspreises statt des frei festgelegten Marktpreises, ein rückwirkend geltender Erstattungsbetrag, eine Stärkung des Wettbewerbs auch unter Patentarzneimitteln sowie der gezielte, qualitätsgesicherte Einsatz von Arzneimitteln mit eingeschränkter Datenlage nur in spezialisierten Behandlungseinrichtungen, die sich an der Generierung von Wirksamkeits- und Sicherheitsdaten beteiligen, geeignete Schritte sein. Zudem wäre eine Stärkung der europäischen Zusammenarbeit für angemessene Erstattungspreise neuer Arzneimittel anzustreben.
Zusammenfassung
Neue Arzneimittel sind in Deutschland unmittelbar für die Patientinnen und Patienten verfügbar: Nach der Zulassung werden die Arzneimittel automatisch von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattet – zum vom pharmazeutischen Unternehmer frei festgelegten Preis. Dies steht im Gegensatz zum Vorgehen in vielen anderen europäischen Ländern mit weitergehenden Regulierungen des Markt- und damit Erstattungszuganges.
Der frei festgelegte Marktpreis wird erst in Preisverhandlungen zum Erstattungsbetrag in der GKV auf Basis der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beschlossenen Nutzenbewertung angepasst und gilt ab dem 13. Monat nach Marktzugang. Krankenkassen und Ärztinnen und Ärzte sind mit einer zunehmenden Zahl hochpreisiger Arzneimittel konfrontiert, die durch beschleunigte Zulassungsverfahren eine eingeschränkte Datenbasis für eine Bewertung ihres Zusatznutzens mitbringen. Gesetzliche Änderungen sind dringend geboten um die hohe Qualität der Gesundheitsversorgung und deren Finanzierbarkeit zu sichern. Dabei können die Einführung eines Interimspreises statt des frei festgelegten Marktpreises, ein rückwirkend geltender Erstattungsbetrag, eine Stärkung des Wettbewerbs auch unter Patentarzneimitteln sowie der gezielte, qualitätsgesicherte Einsatz von Arzneimitteln mit eingeschränkter Datenlage nur in spezialisierten Behandlungseinrichtungen, die sich an der Generierung von Wirksamkeits- und Sicherheitsdaten beteiligen, geeignete Schritte sein. Zudem wäre eine Stärkung der europäischen Zusammenarbeit für angemessene Erstattungspreise neuer Arzneimittel anzustreben.

12.1 Einführung

Die Deutschen sind nach Umfragen sehr zufrieden mit ihrer Gesundheitsversorgung (Bräunlein-Reuß und Freismuth 2020). Hintergrund dürfte auch die hohe Versorgungssicherheit im deutschen Markt sein: Hersteller bieten bekanntermaßen im europäischen Vergleich neue Arzneimittel in Deutschland besonders schnell aus (IQVIA 2021; Vogler 2018), zudem werden neue Arzneimittel unmittelbar nach Marktzugang von den Krankenkassen erstattet. Diese Schnelligkeit wird jedoch zu einem hohen Preis erkauft: Krankenkassen müssen zunächst jeden vom Hersteller verlangten Preis für ein neues Arzneimittel zahlen. Erst nach einem Jahr wird dieser Preis durch die Festlegung eines Erstattungsbetrages korrigiert. Diese Besonderheit des deutschen Marktes führt zu immer neuen Höchstpreisen für neue Arzneimittel: Jeder vierte Marktzugang erzeugt inzwischen mehr als 100.000 € Therapiekosten pro Jahr (Gensorowsky et al. 2020). Dementsprechend steigen trotz Kostenreduktionen durch Patentabläufe die Arzneimittelausgaben weiter an. Patentarzneimittel verursachen 49,9 % der Ausgaben, sie stellen jedoch lediglich 6,4 % der Verordnungen im Jahr 2020 dar (vgl. Beitrag 16 von Telschow et al.). Dabei gilt Deutschland bereits seit Jahren als Hochpreisland (Schneider und Vogler 2019). Dies dokumentiert sich auch in der eher untergeordneten Bedeutung Deutschlands für die internationale Preisreferenzierung. Nach Analysen des GKV-Spitzenverbands war Deutschland nur in 16 von 28 Länderkörben der europäischen Nachbarn vertreten und dabei auch nicht das einzige Land. Weit häufiger als Deutschland wurden sechs andere große Nationen, u. a. Frankreich, Italien und Großbritannien, herangezogen (GKV-Spitzenverband 2017). Zuletzt hatten die Niederlande Deutschland wegen seiner zu hohen Preise vor allem für neue Arzneimittel aus ihrer Preisreferenzierung gestrichen und durch Norwegen ersetzt (Government of the Netherlands 2020).
Versorgung geht auf Dauer nicht zu jedem Preis, wenn die hohe Versorgungsqualität in Deutschland weiterhin für alle verfügbar und bezahlbar bleiben soll. Angesichts der zunehmend angespannten Finanzlage der Krankenkassen in Deutschland – nach Schätzungen fehlen bereits im kommenden Jahr 16 bis 19 Mrd. € (GKV-Spitzenverband 2021) – muss sich der Fokus verstärkt auf eine höhere Wirtschaftlichkeit der Versorgung richten. Hierzu können für den Arzneimittelmarkt die Anpassung der Rahmenbedingungen für den Marktzugang und die Preisbildung neuer Arzneimittel sowie die konsequente Eröffnung wettbewerblicher Spielräume maßgeblich beitragen. Dies sind die vordringlichsten Aufgaben der kommenden Jahre.
Kritisch ist jedoch nicht nur der hohe Preis so mancher Neuentwicklung, auch die große Zahl der Arzneimittel mit geringer Evidenz zum Zeitpunkt des Marktzugangs ist bemerkenswert. Daher kommt der weiteren Datengenerierung, aber auch der Sicherstellung der Therapiequalität mit einem engmaschig betreuten Einsatz entsprechender Arzneimittel erhebliche Bedeutung zu.
In einem zusammenwachsenden europäischen Markt können zudem Kooperationen der EU-Länder bisher ungenutzte Chancen auch in Fragen der Gesundheitsversorgung bieten. Dabei ist es sinnvoll zu prüfen, welche Ansätze für eine wirtschaftlichere Versorgung auch in Deutschland erprobt werden können.

12.2 Niedrige Evidenz – höhere Preise? Regelungsbedarf im Patentmarkt

12.2.1 Preisparameter für die Erstattungsbetragsvereinbarungen – Status quo

Die Ausgabendynamik bei Arzneimitteln wird seit Jahren vom Patentmarkt angetrieben. Während andere europäische Staaten den Marktzugang für neue Präparate regulieren, indem eine Erstattung erst nach Festlegung der Anwendungsbreite und des Preises erfolgt, können Hersteller in Deutschland die Preise neuer Arzneimittel für den Zeitraum von zwölf Monaten frei festlegen, in denen die Erstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung zu den Bedingungen der gesamten Zulassungsbreite ab dem ersten Tag garantiert ist. Preisverhandlungen finden daher erst mit großem Verzug statt. Selbst auf eine rückwirkende Preiskorrektur wird bislang verzichtet – obwohl vielfach diskutiert und für sinnvoll erachtet (z. B. Staeck 2016; GKV-Spitzenverband 2017; Ärztezeitung 2020; Gerechte Gesundheit – Das E-Magazin 2021). Dabei war ein rückwirkender Erstattungsbetrag 2016 schon einmal Teil eines Gesetzentwurfs (Dt. Bundestag 2017), damals jedoch – wenig tauglich – beschränkt auf Arzneimittelumsätze im ersten Jahr nach Überschreitung einer Umsatzschwelle von 250 Mio. €. Insgesamt 1,75 Mrd. € hätte die GKV in den Jahren 2011 bis 2019 einsparen können, wenn die vereinbarten Erstattungsbeträge bereits ab der Markteinführung bzw. Zulassungserweiterung gültig gewesen wären (Schröder et al. 2020). Allein für 2019 hätte der Betrag bei korrekter Rückrechnung 180 Mio. € betragen (Schröder et al. 2020).
In der politischen Diskussion wurde bereits bei Implementierung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) im Jahr 2010 auf zu erwartende „Mondpreise“ hingewiesen, bei denen später gewährte Rabatte eingepreist seien (ZEIT online 2010). Damit profitieren die Hersteller auch über das erste Jahr hinaus, denn eine echte Adjustierung der Preise hin zu einem angemessenen – also insgesamt auch langfristig bezahlbaren – Preisniveau gelingt aktuell selbst in den ersten Erstattungsbetragsverhandlungen, die den Preis ab dem zweiten Jahr festlegen, nur begrenzt. Um die Gründe zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Preisparameter, die in den Erstattungsbetragsverhandlungen eine Rolle spielen und im Folgenden diskutiert werden.
Von den Entwicklungskosten entkoppelt
In den Arzneimittelpreisen soll sich die therapeutische Überlegenheit eines Arzneimittels widerspiegeln dürfen. Dieses Prinzip ist nach wie vor ein tragender Grundpfeiler des AMNOG-Verfahrens. Allerdings zeigt die steile Kurve der Preissteigerungen bei Neuzugängen im Patentmarkt (vgl. Kap.​ 5) inzwischen, dass sich die Preisentwicklung aufgrund der Nutzenorientierung von den tatsächlichen Entstehungskosten einer Innovation völlig entkoppelt hat. Es reicht nicht aus, sich bei der Preisbildung nur an vermiedenen Schäden zu orientieren. Nach diesem Prinzip müssten auch Fahrradhelme oder Sicherheitsgurte ein kleines Vermögen kosten. Mit den derzeitigen AMNOG-Regeln kann der missbräuchlichen Preissetzung daher keine wirksame Grenze gesetzt werden. Dies zeigen nicht zuletzt die EBIT-Margen der Arzneimittelhersteller (Ernst & Young 2021), die für ihre Neueinführungen weiterhin unverhältnismäßige Renditen erwirtschaften können, obwohl ihnen, wie oben gezeigt, im Produktentwicklungsprozess durch Aufsetzen auf öffentlich gefördertes Wissen und beschleunigte Zulassungen in den letzten Jahren erhebliche Kostenreduzierungen zugestanden wurden und Risiken durch unzureichende Evidenz mehr und mehr auf die Solidargemeinschaft abgewälzt werden.
Realpreise in anderen europäischen Ländern zumeist nicht bekannt
Auch die Referenzierung auf die Preise des Präparats in anderen europäischen Ländern zeigt nicht die erwartete Wirkung: Denn meist ist zum Zeitpunkt der ersten Erstattungsbetragsverhandlungen ein neues Arzneimittel allenfalls in wenigen Ländern ausgeboten. Sollte eine Referenzierung möglich sein, so scheitert ein transparenter Vergleich oftmals an der Vertraulichkeit des tatsächlichen Erstattungspreises in anderen Ländern. Irrelevante Listenpreise können jedoch kein Maßstab für die Preisfindung sein. Aus der Praxis der Schiedsstelle nach § 130b SGB V ist bekannt, dass die hieraus resultierende Kontroverse zur Frage der tatsächlichen Abgabepreise zwischen GKV und pharmazeutischen Herstellern nicht aufgelöst ist (Wasem und Engelberth 2019).
Kein Anreiz für Preiswettbewerb bei therapeutisch in Konkurrenz stehenden Arzneimitteln
Anders als in anderen Märkten haben Anbieter eines Analogarzneimittels für ein Anwendungsgebiet quasi einen Mindestanspruch auf das Preisniveau des Vorgängerpräparats. Mit der Bezugnahme auf die Preise der Vergleichstherapie sowie anderer vergleichbarer Arzneimittel wird der Preiswettbewerb weitgehend erstickt, auch wenn die Präparate in therapeutischer Konkurrenz stehen. Insofern kennt die Preisentwicklung unabhängig vom Ausmaß des Zusatznutzens in der Regel nur eine Richtung: nach oben. Stellt man sich die Abfolge der Erstattungspreisverhandlungen zu neuen Arzneimitteln in einem Indikationsgebiet als Treppe vor, addiert jeder Neuzugang eine Stufe nach oben, auch wenn dann nur ein marginaler Zusatznutzen vorliegt. In anderen Märkten ist es üblich, dass sich die Folgeanbieter ihren Marktanteil auch über besonders günstige Einstiegspreise erschließen. Ein Blick nach Österreich zeigt, dass dort nach § 24 Abs. 2 VO-EKO (Verfahrensordnung zum Erstattungskodex (EKO)) gleichwertige Zweitanbieter einen Preisabschlag von mindestens 10 % hinnehmen müssen, was einem Ergebnis auf wettbewerblicher strukturierten Märkten wesentlich näherkommt.
Mit Einführung des AMNOG wurden auch die unverhandelten Bestandsmarktpreise zum historischen Ballast und zementieren durch ihre Fortschreibung die erheblichen Preisunterschiede auch zwischen den verschiedenen Indikationsgebieten. Demnach steigen die Preise vor allem in Indikationsgebieten, in denen die Anzahl der Neuentwicklungen besonders hoch ist, wie in den letzten Jahren vor allem im Markt der Onkologika abzulesen ist. Mit diesem Anreiz wird auch in Kauf genommen, dass sich die Hersteller in ihrer Produktentwicklung weiterhin nur auf lukrative Indikationsgebiete konzentrieren, während für die Schließung von Versorgungslücken in weniger erlösträchtigen Bereichen wie bspw. Antibiotika das Engagement in der Forschung begrenzt ist.
Orientierung am Einstiegspreis des Herstellers in den ersten zwölf Monaten
Als „stummer“, aber hochrelevanter Faktor wirkt in den Erstattungsbetragsverhandlungen der vom Hersteller initial geforderte Preis des neuen Arzneimittels. Obwohl in der bestehenden Rahmenvereinbarung zu den Erstattungsbetragsverhandlungen nach § 130b Abs. 9 SGB V die Preisbildung als Aufschlag auf den Preis der zweckmäßigen Vergleichstherapie verankert ist, so wird der Erstattungsbetrag letztlich als Abschlag auf den bisherigen Marktpreis wahrgenommen. Da sich das Arzneimittel zum Zeitpunkt der Verhandlungen bereits in der Versorgung befindet, hat der Hersteller durch die deutsche Sondersituation auch ein besonderes Druckmittel: Erscheint ihm der angebotene Erstattungsbetrag als zu niedrig, kann er mit dem Rückzug aus der Versorgung drohen und so die bereits auf sein Produkt eingestellten Patientinnen und Patienten quasi als Geiseln nehmen.

12.2.2 Stärkung des Wettbewerbs – neue Rahmenbedingungen für die Preisverhandlungen

Das bisherige AMNOG-Verfahren enthält keine Incentives für einen Preiswettbewerb. Eine Reform muss daher das Ziel haben, wettbewerbliche Elemente wieder zur Wirkung zu bringen, um diese Entwicklung zu bremsen. Dabei sollte sich ein angemessener Preis auch am erwartbaren „budget impact“ – der Finanzwirkung des Präparats – bemessen. Denn schließlich muss gute Versorgung auch perspektivisch noch für die Solidargemeinschaft bezahlbar bleiben. Dieser wichtige Parameter ist jedoch bislang nicht hinreichend berücksichtigt. Implizit sind den Arzneimittelausgaben – zusammen mit den weiteren Sozialabgaben – durch die Zahlungsbereitschaft der Beitragszahler ein Limit gesetzt. Aktuell wird dies deutlich am politischen Konsens zur prozentualen Begrenzung der Sozialabgaben auf derzeit maximal 40 % und der heftigen Diskussion über die zusätzliche Steuerfinanzierung für laufende Ausgaben der Sozialversicherungen. Überproportionale Renditen in Teilen der Gesundheitswirtschaft stehen angesichts steigender Belastungen aller Steuer- und Beitragszahler unter besonderem Rechtfertigungsdruck. Will man ein solches Szenario vermeiden, gilt es, künftig verstärkt bestehende Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen und dabei auch die Preise für neue Arzneimittel in den Blick zu nehmen.
Das Problem zu hoher Arzneimittelpreise betrifft jedoch nicht nur den deutschen Markt. Vor diesem Hintergrund hatte die Association Internationale de la Mutualité (AIM) Ende 2019 dem Europäischen Parlament ein alternatives Modell vorgestellt, wie angemessene Preise für neue Arzneimittel erreicht werden können (AIM 2019): In das Verfahren gehen neben der Einschätzung des therapeutischen Werts auch die erwartete Absatzmenge sowie insbesondere Kosten für Forschung und Entwicklung, Produktion, Verkauf und medizinische Information sowie entsprechende Gewinnmargen für die pharmazeutischen Hersteller mit ein (siehe Kap.​ 11). Eine Adaptation des Modells einer neuen Preisbildung zum Erstattungsbetrag für den deutschen Markt könnte demnach helfen, die Fehlentwicklungen bei den Erstattungsbeträgen neuer Arzneimittel zu durchbrechen. Denn neben der Berücksichtigung der Bezahlbarkeit neuer Arzneimittel für die GKV, gemessen an den Gesamtausgaben für Arzneimittel, ist auch eine Regelung für die immer wieder zu beobachtende Doppelfinanzierung von Forschung und Entwicklung notwendig, wenn Firmen in der Entwicklung ihrer Produkte auf bereits mit öffentlichen oder anderen Geldern finanzierte Forschung aufsetzen. Damit könnte ein so gebildeter, rückwirkend zum Markteinstieg geltender Erstattungsbetrag helfen, die künftigen Preise neuer Arzneimittel angemessener zu gestalten.

12.2.3 Reform des Markteinstiegs neuer Arzneimittel

Für einen von Anfang an fairen Preis sollte ab Markteinstieg künftig ein angemessener, vorläufiger Verrechnungspreis für jedes neue Arzneimittel gelten, der sog. Interimspreis (Jablonka et al. 2021). Dieser kann in einem rechnerischen Verfahren vom GKV-Spitzenverband für jedes neue Arzneimittel festgelegt und dem pharmazeutischen Unternehmen vor Marktzugang mitgeteilt werden. Basis der Preisfestlegung wären in Übertragung des § 130b Absatz 3 SGB V die jeweiligen Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT), die vom Gemeinsamen Bundesausschuss für jedes neue Arzneimittel im Nutzenbewertungsbeschluss bestimmt werden. Der Interimspreis folgt dabei in den verschiedenen Indikationsgebieten den verfügbaren Therapieoptionen und Behandlungsstandards. Weist das Anwendungsgebiet eines neuen Arzneimittels verschiedene Patientengruppen mit unterschiedlichen Behandlungsoptionen auf, so könnte ein solcher Interimspreis durch Mittelung der jeweiligen Preise der Vergleichstherapien im Anwendungsgebiet bestimmt werden (Vergleiche Beispiel Ropeginterferon alfa-2b in Tab. 12.1). Ist im Anwendungsgebiet eines neuen Arzneimittels bisher keine kausale bzw. kurative Behandlungsoption verfügbar, könnte der Interimspreis anhand der Behandlungskosten der aktuell besten optimierten unterstützenden Therapie abgeleitet werden. Soweit daraus nachweislich kein auskömmlicher Interimspreis resultiert, könnte dies ergänzend berücksichtigt werden.
Tab. 12.1
Berechnung des Interimspreises am Beispiel Ropeginterferon alfa-2b (Quelle: Eigene Berechnung auf Basis des Nutzenbewertungsbeschlusses des G-BA zu Ropeginterferon alpha-2b vom 16.07.2020)
Beschluss nach § 35a SGB V im G-BA
Ein Zusatznutzen ist nicht belegt
Patientengruppe laut G-BA-Beschluss
A (nicht vorbehandelte oder mit Hydroxyurea vorbehandelte erwachsene Patienten mit Polycythaemia vera ohne symptomatische Splenomegalie, die nicht resistent oder intolerant gegenüber Hydroxyurea sind)
B (mit Hydroxyurea vorbehandelte erwachsene Patienten mit Polycythaemia vera ohne symptomatische Splenomegalie, die resistent oder intolerant gegenüber Hydroxyurea sind)
zVT
Hydroxyurea
Ruxolitinib
Jahrestherapiekosten (JTK)
283,68–567,36 €
24.669,44–73.283,79 €
Mittelwert JTK
425,52 €
48.976,62 €
Gemittelte Jahrestherapiekosten
24.701,07 € (INTERIMSPREIS)
Mittlere aktuelle Jahrestherapiekosten im ersten Jahr nach Angaben pU
85.580,86 €
Jahrestherapiekosten (verhandelter Erstattungsbetrag)
43.260,16 €
Arzneimittel-Kompass 2021
Die Festlegung des Interimspreises sollte vor Marktzugang und damit rechtzeitig für die Meldung der Preis- und Produktinformationen in den Verzeichnisdiensten der Apotheken, Krankenhäuser und Ärzte vorgenommen werden. Für ein solches Verfahren wären die entsprechenden zur Preisfestlegung heranzuziehenden Therapien frühzeitig vom Gemeinsamen Bundesausschuss zu benennen. Der Interimspreis ist dann vorübergehend Basis der Abrechnung, bis er durch den zeitnah ausgehandelten Erstattungsbetrag rückwirkend abgelöst wird. Damit ergänzen sich der Interimspreis und die Rückwirkung des Erstattungsbetrags zu einem jederzeit fairen Preisbildungsmechanismus.
Denn mit Festlegung eines ersten ebenso wie eines neuen Erstattungsbetrags bspw. nach Zulassungserweiterung soll eine Rückabwicklung zu Über- oder Unterzahlungen zwischen dem pharmazeutischen Unternehmen und den Krankenkassen erfolgen – soweit die Vertragspartner die Ansprüche nicht mit dem entsprechenden neu ausgehandelten Preis verrechnen (Vergleiche Abb. 12.1).
Der Interimspreis ist als vorläufiger Erstattungsbetrag somit lediglich eine vorübergehende Rechengröße. Seine Festlegung sollte ausdrücklich kein weiterer Verhandlungsprozess sein, sondern ein pragmatisches, kurzfristig umsetzbares Verfahren entsprechend vorab festgelegter Grundsätze und Regeln. Das bietet Transparenz und schafft zügige Klarheit für alle Seiten. Allein aufgrund der kurzen Zeit zwischen Zulassungsempfehlung und Marktzugang, die für eine Bestimmung des Interimspreises bleibt, wird es nicht möglich sein, in dem Verfahren jede Besonderheit eines Einzelfalls abzubilden. Da der Interimspreis jedoch ohnehin rückwirkend durch den Erstattungsbetrag ersetzt wird und bis dahin nur eine kurze Zeit Anwendung findet, ist eine solche Unschärfe tolerierbar. Um möglichst zeitnah Klarheit und damit Kalkulationssicherheit über den Preis eines neuen Arzneimittels zu haben, sollte die Anwendungsdauer des Interimspreises möglichst kurz bleiben. Dies könnte durch eine Beschleunigung des Verfahrens zur Nutzenbewertung und Erstattungsbetragsverhandlung erreicht werden: Neben der Option für einen möglichen früheren Start der Nutzenbewertung nach Zulassung kann eine Verkürzung der Erstattungsbetragsverhandlungen helfen, zeitnah Klarheit zum jeweils geltenden Erstattungsbetrag zu bekommen. Soweit ein Hersteller dies anstrebt, könnte er ggf. durch ein Antragsverfahren für sein zur Zulassung empfohlenes Präparat ein G-BA-Verfahren bereits vor dem tatsächlichen Marktzugang starten. Mit einer Verkürzung um zwei Runden auf maximal drei Verhandlungsrunden könnte das Verfahren deutlich gestrafft und bereits nach drei Monaten abgeschlossen werden. Im Ergebnis wäre selbst bei einem Start der Nutzenbewertung mit Marktzugang der erste Erstattungsbetrag nach neun Monaten bekannt. Der Interimspreis würde – soweit kein Schiedsverfahren stattfindet – spätestens zu diesem Zeitpunkt rückwirkend abgelöst werden. Weitere zeitnahe Erstattungsbetragsverhandlungen könnten zudem helfen, die wachsende Evidenz zu einem Arzneimittel möglichst kurzfristig auch im Preis abzubilden.

12.2.4 Von anderen europäischen Staaten lernen

In Europa gibt es bereits seit längerem eine Bewegung hin zu mehr Kooperation. Viele Vorarbeiten sind dabei bereits in EU-Projekten geleistet worden und haben eine gemeinsame methodische Basis für Zusammenarbeit und Informationsaustausch, insbesondere zu gemeinsamen Health Technology Assessment-Berichten (HTA), etabliert. Durch eine weitere Intensivierung der Zusammenarbeit mit anderen europäischen Ländern könnten Chancen für eine Stärkung der Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung genutzt werden. Denn schließlich stehen die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder bei Preisverhandlungen zu neuen Arzneimitteln jeweils Monopolisten gegenüber.
Bislang besteht jedoch eine große Intransparenz zu den tatsächlich gezahlten Abgabepreisen für Arzneimittel. Mit Blick auf die zunehmende gemeinsame Herausforderung, die Gesundheitsversorgung auch langfristig bezahlbar zu halten, sollten daher die Möglichkeiten für eine Stärkung der Kooperationen zur Preistransparenz ausgelotet werden. Angesichts heterogener Regelungen zur Vertraulichkeit der tatsächlichen Abgabepreise wäre zu prüfen, wie ein solcher Austausch durch klare rechtliche Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene gestaltet werden kann.
Eine weitere Maßnahme könnte die Option für gemeinsame Preisverhandlungen auf europäischer Ebene sein. Zwar hatte der Marktzugang des hochpreisigen Hepatitis-C-Therapeutikums Sovaldi® entsprechende Bestrebungen unterstützt, jedoch wurden Verhandlungen bislang immer nur von kleinen Gruppen einzelner Staaten gemeinsam realisiert. Hintergrund sind nicht zuletzt die sehr heterogenen Regelungen zu Marktzugang und Erstattung in den Mitgliedsstaaten. Für Deutschland könnte daher zunächst der Fokus auf eine Beteiligung an einer der bestehenden Kooperationsverbünde in Europa gelegt werden. Insbesondere BeNeLuxA als Kooperation zwischen Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Österreich und Irland wäre aufgrund der Gemeinsamkeiten der beteiligten Länder mit Deutschland hinsichtlich der Wirtschaftskraft gut für eine entsprechende Kooperation geeignet. Bislang konnten sechs gemeinsame HTA-Berichte erstellt und auf dieser Basis zwei gemeinsame Preisverhandlungen initiiert werden (Middelburg et al. 2021); der Abschluss einer gemeinsamen Preisverhandlung zu Spinraza® von Biogen für Belgien und die Niederlande wurde öffentlich bekannt gemacht (Government of the Netherlands 2018). Angesichts der bislang schwierigen Verhandlungssituation bei neuen, hochpreisigen Arzneimitteln vor allem für seltene Erkrankungen könnten solche Verhandlungskooperationen insbesondere in diesem Feld für Deutschland hilfreich sein, um mehr Wirtschaftlichkeit bei der Aushandlung eines angemessenen Erstattungsbetrags zu erzielen.
Weitere Wirtschaftlichkeitsreserven könnten in Deutschland durch Stärkung von Selektivverträgen gehoben werden, wie es bereits in anderen europäischen Ländern praktiziert wird: Sowohl Belgien als auch die Niederlande hatten nach Preisverhandlungen mit den Herstellern der beiden Gentherapien zur Behandlung von B-Zell-Neoplasien Kymriah® und Yescarta® zunächst jeweils nur ein Präparat in die Erstattung aufgenommen. Die Übernahme einer entsprechenden Regelung, nach der wirkstoffübergreifend unter gleichwertigen Therapieoptionen vertragsgebundene Arzneimittel bevorzugt verordnungs- und erstattungsfähig wären, würde für die GKV einen bislang nicht bestehenden Anreiz für mehr Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb im Markt der patentgeschützten Arzneimittel bedeuten. Entsprechende Verträge sollten daher künftig gesetzlich unterstützt werden. Versicherte profitieren damit von mehr Wirtschaftlichkeit ohne Nachteile für die Teilhabe am Entwicklungsfortschritt neuer Arzneimittel: Auch bei bevorzugter Verordnung eines Vertragsarzneimittels wäre die (teurere) Alternativtherapie weiterhin verordnungs- und erstattungsfähig, wenn ein besonderer Einzelfall das erfordert.

12.2.5 Ausnahmen von der Nutzenbewertung abschaffen

Bei Arzneimitteln für seltene Leiden (sog. Orphan Drugs) werden immer wieder Evidenzlücken beobachtet. Diese werden üblicherweise mit der Seltenheit der Erkrankung begründet, die die Durchführung von hochwertigen vergleichenden Studien erschwere (Kulig 2017). Der Gesetzgeber hat für diese Arzneimittel eine Sonderregelung vorgesehen, nach der ihnen unabhängig vom Ergebnis einer frühen Nutzenbewertung des G-BA bis zu einer Umsatzgrenze von 50 Mio. € zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung pauschal ein Zusatznutzen zugeschrieben wird. Seit 2019 werden neben den vertragsärztlichen auch die stationären Kosten zu Lasten der GKV mit einberechnet. Hingegen bleiben Ausgaben anderer Kostenträger außerhalb der GKV weiterhin außen vor. Dass Arzneimittel für seltene Erkrankungen umsatzstark sein können, zeigen die zahlreichen Beispiele von Wirkstoffen, die diese Grenze überschreiten und daher eine vollumfängliche Nutzenbewertung durchlaufen, zuletzt Daratumumab bei multiplem Myelom, Onasemnogen-Abeparvovec sowie Nusinersen bei spinaler Muskelatrophie, Tafamidis bei Amyloidose oder auch Tezacaftor/Ivacaftor bei zystischer Fibrose.
Diese Sonderregelung, die von vielen Seiten kritisch bewertet wird (BÄK und AkdÄ 2016; GKV-Spitzenverband 2016), wurde im Gesetzgebungsverfahren auch mit dem regelhaften Fehlen therapeutisch gleichwertiger Alternativen begründet (Deutscher Bundestag 2010). Jedoch sind auch für seltene Erkrankungen zum Teil mehrere Behandlungsalternativen auf dem Markt. Durch die pauschale Zuschreibung eines Zusatznutzens besteht aber für den pharmazeutischen Hersteller kein Anreiz, im Verfahren umfassende Daten zur Evidenz für das Arzneimittel vorzulegen. Damit erweist sich die Regelung als letztlich kontraproduktiv im Sinne der Patientinnen und Patienten, wenn anhand der unzureichenden Daten eine qualitative Differenzierung der Präparate schwierig ist. Zudem ergeben sich auch im europäischen Kontext Erklärungsnöte: Der gesetzlich legitimierte, fiktive Zusatznutzen ist nicht das Ergebnis der frühen Nutzenbewertung in Deutschland; er steht damit im Widerspruch zu HTA-basierten Wertungs- und Erstattungsentscheidungen anderer europäischer Länder, wenn diese im konkreten Einzelfall anhand der Studiendaten keinen Zusatznutzen erkennen können, wie bspw. bei Vimizim® durch die Niederlande (Zorginstitut Nederland 2017) – im Gegensatz zur deutschen Entscheidung auf Basis der gesetzlichen Zusatznutzenfiktion. Insofern sollte dieser Sonderstatus für Orphan Drugs in Deutschland aufgehoben werden und diese grundsätzlich ein vollumfängliches Bewertungsverfahren durchlaufen. Die EU-Kommission plant, die Auswirkungen der Orphan-Drug-Regularien zu analysieren und mögliche Fehlanreize zu überarbeiten, um letztlich passgenauer die Entwicklung von neuen Therapien für seltene (Stoffwechsel-)Erkrankungen insbesondere bei Kindern zu fördern (EU-Kommission 2020).
Dabei muss die Seltenheit einer Erkrankung nicht zwingend mit einem Mangel an entsprechenden vergleichenden Studien einhergehen (Gemeinsamer Bundesausschuss 2021; Kulig 2017) – sofern diese jedoch fehlen, belastet das die Bewertung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Pharmazeutische Hersteller verweisen dabei auf die Anforderungen an Studien für die Zulassung, an denen man sich orientiere – und die keine vergleichende Bewertung vorschreibt (Kaiser 2021). Dass Arzneimittel für seltene Erkrankungen nicht grundsätzlich eine umfassende Nutzenbewertung scheuen müssen, zeigen – nicht nur – die Ergebnisse von Bewertungsverfahren nach Überschreitung der Umsatzgrenze, bei denen zahlreiche Präparate positiv abgeschnitten haben (Kohzer und Diessel 2019). Gleichwohl ist die Zahl der Arzneimittel für seltene Erkrankungen mit schwacher Evidenz weiterhin hoch: Nach Auswertungen des G-BA erhielten 2019 von 20 dieser Präparate 14 lediglich einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen aufgrund nicht ausgereifter Datenbasis für eine verlässliche Evidenzprognose (Tebroke 2020). Daher liegt die Hoffnung auf den durch das GSAV 2019 eingeführten anwendungsbegleitend zu erhebenden Daten, mit denen diese Lücken künftig besser geschlossen werden sollen.
Wie schwierig der Umgang mit solchen Arzneimitteln sein kann, zeigt das Beispiel von Glybera®, einer Gentherapie für eine seltene Stoffwechselerkrankung. Im laufenden G-BA-Bewertungsverfahren waren Zweifel der Zulassungsbehörden an dem positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis bekannt geworden. In seiner Bewertung formulierte der G-BA: „Die zum Zeitpunkt der Beschlussfassung vorliegenden Daten lassen eine valide fachliche Aussage über einen Zusatznutzen und dessen Quantifizierung nicht zu.“ (Gemeinsamer Bundesausschuss 2015) Gleichwohl musste mit dem Beschluss formal ein Zusatznutzen zugestanden werden. Letztlich wurde Glybera® vom Hersteller nach kurzer Zeit wieder aus dem Handel genommen, nachdem der Hersteller keinen Antrag auf Verlängerung der Zulassung gestellt hatte (European Medicines Agency 2017a). Bis dahin war in Deutschland lediglich eine Patientin behandelt worden (Feldwisch-Dentrup 2017).

12.2.6 Qualitätsgesicherter Einsatz von Arzneimitteln mit niedriger Evidenz

Die Zulassung bescheinigt dem Arzneimittel einen die Risiken überwiegenden Nutzen und ermöglicht den Marktzugang. Während im Rahmen von Phase II- und III-Zulassungsstudien ein hinsichtlich der Einschlussparameter streng limitiertes Kollektiv von Patientinnen und Patienten adressiert wird, um den Zulassungsvorgaben entsprechende Evidenz zu generieren, stellt sich dieses beim Einsatz des schließlich am Markt verfügbaren Produktes vielfältiger dar. Um einer breiteren Zahl an Patientinnen und Patienten schnell den Zugang zu neuen Therapien zu ermöglichen – etwa bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ohne Behandlungsalternative –, führte die EMA beschleunigte Zulassungsverfahren ein. In Kauf genommen wird hierbei eine initial schlechtere Datenlage, die sukzessiv mit ggf. fortgeführten Studien sowie Versorgungsdaten aufgefüllt werden soll (European Medicines Agency 2017b).
Kritisch anzumerken ist, dass beschleunigte Zulassungen zu einer Verlagerung von Kosten von den Herstellern auf die Solidargemeinschaft führen: Anstelle des pharmazeutischen Unternehmers, der in aufwendigen und kostenintensiven klinischen Studien die Prüfpräparate kostenfrei zur Verfügung stellt, tragen nach frühzeitiger Zulassung und Marktzugang nunmehr die Krankenversicherungen die Ausgaben für die Arzneimittel und Behandlung – und auch für den Umgang mit auftretenden Nebenwirkungen und deren Folgekosten. Zumindest in Einzelfällen könnte eine Alternative für eine frühzeitige Verfügbarkeit einer Therapie für entsprechende Härtefälle auch ein verstärkter Einsatz des compassionate use sein. Damit würde der frühe Einsatz weiterhin unter sehr engmaschiger Kontrolle stattfinden, die Kosten der Evidenzgenerierung wären vollständig vom pharmazeutischen Hersteller zu finanzieren. Denn mit dem frühen Marktzutritt wird nicht nur ein höheres Arzneimittelrisiko, sondern auch ein Teil des unternehmerischen Risikos auf die Solidarsysteme übertragen, während der pharmazeutische Hersteller zusätzlich auch noch eine längere Restpatentlaufzeit auskosten kann. Diese Risiko- und Kostenverlagerung spiegelt sich jedoch nicht in der Preisentwicklung wider.
Beschleunigte Zulassungsverfahren stellen den Gemeinsamen Bundesausschuss in seinem Bewertungsverfahren vor ein Problem: Denn vielfach reicht die Evidenz für eine fundierte Nutzenbewertung dieser Arzneimittel nicht aus. Daher wurde der G-BA mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) ermächtigt, für beschleunigt zugelassene Arzneimittel und solche, die unter besonderen Bedingungen zugelassen sind, im Rahmen der Nutzenbewertung anwendungsbegleitende Datenerhebungen von den pharmazeutischen Unternehmen einzufordern. Die Regelung wird zurzeit erstmals umgesetzt, so für Gentherapien zur Anwendung bei B-Zell-Neoplasien bzw. spinaler Muskelatrophie. Es stellen sich noch zahlreiche verfahrenstechnische Fragen. Ob damit zumindest perspektivisch Evidenzlücken effektiv und zeitgerecht geschlossen werden können, bleibt abzuwarten.
Bis ein umfassendes Wissen über die neuen, beschleunigt zugelassenen Arzneimittel vorliegt, kann jedoch der Schutz der Patientinnen und Patienten nicht zurückstehen. Daher sollten Arzneimittel mit unsicherer Evidenz immer zunächst fokussiert auf Patientinnen und Patienten ohne Behandlungsalternative, vor allem aber ausschließlich in qualifizierten und auf das Krankheitsbild spezialisierten Einrichtungen mit der erforderlichen Datenerhebung und besonders engmaschigen Betreuung eingesetzt werden. Denn schließlich würde der Arzneimitteleinsatz bei fortlaufender Zulassungsstudie auch streng kontrolliert und überwacht in Studienzentren stattfinden. In einem entsprechenden Setting können im Rahmen dieser dort gebündelten Behandlungen Nebenwirkungen leichter erfasst werden. Zudem könnten so aussagekräftigere Daten konzentriert erhoben werden. Entsprechend den wachsenden Erkenntnissen über den (Zusatz)Nutzen und die Behandlungsrisiken könnte der Zugang für weitere Patientengruppen und Einrichtungen geöffnet werden. Ein erster positiver Schritt ist die Einführung der Qualitätsrichtlinien nach § 136a SGB V, welche bislang allerdings erst deutlich nach Marktzugang für die neuen Präparate in Kraft treten. Die Vorgaben für die Einrichtungen und behandelnden Ärzte sollten daher künftig vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bereits vor dem Marktzugang festgelegt und benannt werden.

12.3 Fazit

Zehn Jahre nach Einführung des AMNOG ist es Zeit für eine Weiterentwicklung des „lernenden“ Systems. Nachdem in dieser Zeit vor allem die frühe Nutzenbewertung immer wieder reformiert wurde, sind nunmehr Anpassungen beim Marktzugang und der Regelungen zur Preisbildung dringend erforderlich. Der Willkür bei der Preisgestaltung kann mit dem Interimspreis in Kombination mit der Rückwirkung des Erstattungsbetrags bei Straffung des AMNOG-Verfahrens Einhalt geboten werden. Neue Parameter für die Erstattungsbetragsvereinbarungen ermöglichen es, die momentane Aufwärtsspirale bei den Preisen zu durchbrechen. Um auch im Patentmarkt Wettbewerb zu initiieren, sollten wirkstoffübergreifende Selektivverträge gefördert werden. Wichtig ist auch die Kooperation auf europäischer Ebene, um Preistransparenz zu schaffen und die Option auf gemeinsame Preisverhandlungen nutzen zu können. Des Weiteren sind Ausnahmen von der Nutzenbewertung abzuschaffen, um Evidenzlücken zu schließen. Für Arzneimittel mit unsicherer Evidenz ist ein qualitätsgesicherter Einsatz zu gewährleisten und vorauszusetzen. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen kann ein nachhaltiger und qualitätsgesicherter Zugang zum therapeutischen Fortschritt gewährleistet werden, der die Zahlungsbereitschaft der gesetzlichen Krankenversicherung nicht überfordert.
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Literatur
Zurück zum Zitat BÄK, AkdÄ (2016) Stellungnahme der Bundesärztekammer und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz – AM-VSG) BÄK, AkdÄ (2016) Stellungnahme der Bundesärztekammer und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz – AM-VSG)
Zurück zum Zitat Deutscher Bundestag (2010) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Drs 17/3698, S 50 Deutscher Bundestag (2010) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Drs 17/3698, S 50
Zurück zum Zitat Deutscher Bundestag (2017) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV“. Drs 18/11449, S 18 Deutscher Bundestag (2017) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV“. Drs 18/11449, S 18
Zurück zum Zitat European Medicines Agency (2017b) Conditional marketing authorisation EMA/471951/2016, S 18 European Medicines Agency (2017b) Conditional marketing authorisation EMA/471951/2016, S 18
Zurück zum Zitat Gensorowsky D, Greiner W, Pauge S et al (2020) AMNOG Fakten-Check. In: Storm A (Hrsg) AMNOG-Report 2020. medhochzwei, Heidelberg, S 238–239 Gensorowsky D, Greiner W, Pauge S et al (2020) AMNOG Fakten-Check. In: Storm A (Hrsg) AMNOG-Report 2020. medhochzwei, Heidelberg, S 238–239
Zurück zum Zitat Kohzer N, Diessel C (2019) Orphan Drugs – ein Akt der Balance zwischen Patientenversorgung und Finanzierung. G&S 73(3):40–47 Kohzer N, Diessel C (2019) Orphan Drugs – ein Akt der Balance zwischen Patientenversorgung und Finanzierung. G&S 73(3):40–47
Zurück zum Zitat Schneider P, Vogler S (2019) Price studies for specific medicines. In: Medicines price surveys, analyses and comparisons. Academic Press. Elsevier, London Schneider P, Vogler S (2019) Price studies for specific medicines. In: Medicines price surveys, analyses and comparisons. Academic Press. Elsevier, London
Zurück zum Zitat Vogler S (2018) Marktzugang, Erstattung und Preissetzung neuer patentgeschützter Arzneimittel in der Europäischen Union. In: Schwabe U, Paffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg) Arzneiverordnungs-Report 2018. Springer, Berlin, S 239–260 Vogler S (2018) Marktzugang, Erstattung und Preissetzung neuer patentgeschützter Arzneimittel in der Europäischen Union. In: Schwabe U, Paffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg) Arzneiverordnungs-Report 2018. Springer, Berlin, S 239–260
Metadaten
Titel
Reformbedarf für angemessene Arzneimittelpreise aus Sicht der gesetzlichen Krankenkasse
verfasst von
Dr. Sabine Richard
Sabine Jablonka
Dr. Jana Bogum
Gina Opitz
Constanze Wolf
Copyright-Jahr
2021
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-63929-0_12