Psychiatr Prax 2007; 34(3): 154
DOI: 10.1055/s-2007-980276
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Renaissance der Traumforschung

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Publication Date:
08 May 2007 (online)

 

"Die Beschäftigung mit Traum bedeutet die Beschäftigung mit dem Wesen des Menschen", heißt es im Eingangskapitel des jüngst erschienenen Sammelbandes zum Thema Schlaf und Traum. Ein ganzes Jahrhundert nach Sigmund Freuds einflussreichem Werk "Die Traumdeutung" (1900) erlebt das Studium der Träume derzeit eine Renaissance. Warum? Die Herausgeber formulieren ihre Hypothese gleich eingangs. (Mit)bedingt durch Fortschritte der Neurowissenschaften erscheint der Traum als "Zugang zur Funktion des Gehirns, ...ein Fenster, das uns Einblicke verheißt in die Interaktion von Leib und Seele." Es ist das offenkundige Anliegen der Herausgeber, sich dem Thema Traum und Schlaf in all seinen Facetten zu nähern. Das Eingangskapitel, welches Geschichte und Kultur des Traums von der Antike bis zur Gegenwart aus historischer Sicht betrachtet, formuliert gleichsam ein "Programm" für das gesamte Buch. "Das Spektrum der Theorie und Praxis des Traums ist groß." Zu den entscheidenden Dimensionen gehören (unter anderem) Biologie, Physiologie und Pathologie der Träume, psychologische und phänomenologische Interpretationen, Träume in Diagnose und Therapie, Träume in Literatur und Kunst. Zu all diesen Themen enthält der insgesamt sehr gut lesbare Sammelband ein eigenes komprimiertes Kapitel, welches jeweils mit einer eigenen Literaturliste abgeschlossen wird. Vorangestellt ist ein Aufsatz über neurobiologische Traumtheorien. Weiter gehts mit einem Kapitel zur experimentell-psychologischen Traumforschung. Wie sehen Träume aus? Wodurch werden sie beeinflusst? Welche Auswirkungen haben Träume? Warum träumen wir? Lakonisch konstatieren die Autoren, dass letztendlich die Funktion der Träume noch immer "ein Buch mit sieben Siegeln" (S. 67) sei. Eine ganze Reihe plausibler Theorien werden dazu vorgestellt.

Hervorzuheben sind zwei Kapitel, die aus klinischer Sicht besonders interessant sein dürften. In einem sehr lesenswerten Beitrag über Affekte in Traum und Wacherleben (S. 115ff) gehen die Autoren detailliert auf Insomnie und psychische Störungen ein (insbesondere Depression) und stellen ein Konzept zur Traumhygiene vor (Traum-Affekt-Spiel-Therapie). Den Gespenstern der Nacht, Albtraum und Pavor nocturnus widmet sich ein weiterer, ebenfalls sehr lesenswerter Aufsatz, der auch auf therapeutische Implikationen zur Behandlung der quälenden nächtlichen Erlebnisse eingeht. Wie wichtig der Beitrag Freuds für die Theorie des Traums ist, lässt sich allein daran ablesen, dass in beinah jedem Kapitel des vorgestellten Sammelbands (auch den neurobiologisch-wissenschaftlich orientierten!) auf Freuds Thesen und sein Werk "Die Traumdeutung" Bezug genommen wird. Der Beitrag der Psychoanalyse zur Traumtheorie ist derart fundamental, dass er in jedweder Auseinandersetzung mit dem Traum zu würdigen ist. Mehrere Aufsätze des Buches widmen sich folglich dem Traum aus tiefenpsychologischer Perspektive. Einmal wird der Traum aus therapiebezogenem Blickwinkel betrachtet: Wie werden Träume in die psychoanalytische Behandlung einbezogen? Ein andermal wird die Traumerzählung aus "narrativer Perspektive" (S. 141) mithilfe der Erzählanalyse betrachtet. Der Sammelband schließt mit Aufsätzen zur Rolle des Traums in Kunsttherapie, Kunst und Musik. Damit ist der bereits im Eingangskapitel vorgestellte Bogen, das "große Spektrum" des Traums vollzogen, das Thema Traum in seiner großen Vielfalt abgehandelt.

Es sind nur wenige Punkte zu nennen, die das Buch offen lässt. Der Titel "Schlaf & Traum" mag etwas irreführend sein. Tatsächlich beschäftigt sich der Sammelband ganz überwiegend mit dem Traum. Nur ein einziges Kapitel ist explizit dem Schlaf gewidmet (S. 75ff.). Leser, die sich vor allem für den Schlaf interessieren, mögen etwas irritiert sein. Wünschenswert wäre ein Kapitel, das die Veränderung des Traumgeschehens mit dem Lebensalter thematisiert. Ein Kapitel beschäftigt sich zwar mit dem "Träumen im Alter" (S. 107 ff), doch nimmt der knappe Beitrag eine überwiegend klinische Perspektive ein und thematisiert de facto fast ausschließlich Träume in Verbindung mit Hirnerkrankungen. Das logische Gegenstück "Träumen im Kindesalter" fehlt. Für den Kliniker lassen sich im Buch zahlreiche Anregungen finden. Zwar sind die einzelnen Kapitel übergeordneten, allgemeineren Aspekten gewidmet. Fast alle Autoren und die Herausgeber verfügen jedoch über umfangreiche klinische Erfahrungen, sodass klinische Aspekte in beinah allen Beiträgen ausführlich diskutiert werden. Ein detailliertes Sachwortregister erleichtert das Auffinden spezifischer Themen sehr. Der Sammelband vermittelt einen sehr guten, komprimierten Eindruck zum Thema Traum für Kliniker und Wissenschaftler, der der Vielfalt des Themas gerecht wird. Es ist den Herausgebern hoch anzurechnen, dass das Buch Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen würdigt und zu Wort kommen lässt und somit zur Annäherung dieser "zwei Kulturen" beiträgt.

Anke Hensel, Leipzig

Email: Anke.Hensel@medizin.uni-leipzig.de

Wiegand MH, Spreti F von, Förstl H. Schlaf & Traum - Neurobiologie, Psychologie, Therapie. Stuttgart: Schattauer 2006

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