Dtsch Med Wochenschr 2007; 132(4): 137-138
DOI: 10.1055/s-2007-959307
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was das IQWiG besser machen (können) sollte

What the Institute for Quality and Cost-Effectiveness in the Health System could and should do betterP. C. Scriba1 , M. Middeke2
  • 1Medizinische Klinik Innenstadt, Klinikum der Universität München
  • 2Blutdruckinstitut München
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Publication Date:
18 January 2007 (online)

Es gibt Publikationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), die in interessierter Fachwelt und betroffener Öffentlichkeit - vorsichtig formuliert - Verwunderung auslösen. Hierzu zählt auch der am 3.11.2006 veröffentlichte Abschlussbericht (www.iqwig.de): „Nutzenbewertung nichtmedikamentöser Behandlungsstrategien bei Patienten mit essentieller Hypertonie: Gewichtsreduktion”.

Dieser Bericht gibt Anlass, über den Auftrag für das IQWiG und seine Methodik nachzudenken. Hier sollte der Nutzen einer Intervention zur Gewichtsreduktion durch Medikamente oder durch nichtmedikamentöse Maßnahmen wie Diät versus keine spezielle gewichtsreduzierende Intervention bewertet werden, jeweils bei Patienten mit essentieller Hypertonie. Ohne hier weitere Ziele dieser Untersuchung darzustellen, sei noch festgehalten, dass die Nutzenbewertung einer Gewichtsreduktion bei anderen Erkrankungen als der Hypertonie oder der präventive Nutzen nicht Gegenstand der Untersuchung waren.

Für unser Anliegen soll es hier nur um den entscheidenden Satz aus dem Abschlussbericht gehen: „Für den Einsatz nichtmedikamentöser diätetischer Maßnahmen zur Gewichtsreduktion in der antihypertensiven Therapie übergewichtiger Patienten mit essentiellem Bluthochdruck ist derzeit nicht sicher belegt, dass ein Nutzen vorhanden ist”.

Das mag ja zutreffen, wenn man Auftrag und Methodik des IQWiG unbesehen akzeptiert. Die Aussage ist aber destruktiv für alle Bemühungen um die „Volksseuche Fettsucht” und die sehr erfolgreiche nicht medikamentöse Therapie der Hypertonie durch Gewichtsreduktion. Die Formulierung muss vehementen Widerspruch erfahrener Ärzte provozieren. Kaum ein Hypertoniker, der sein Gewicht mehr als ein bisschen reduziert, kommt nicht zu einer wesentlichen Besserung seines Hochdrucks, wenn die Hypertonie nicht gar verschwindet.

Gewichtsreduktion und Blutdrucksenkung: kein „Surrogaterfolg”

Es besteht heute wissenschaftlicher Konsens darüber, dass Übergewicht den quantitativ wichtigste Manifestationsfaktor für die primäre (essentielle) Hypertonie darstellt: Ca. 40-50 % der Hypertoniker sind übergewichtig. Eine Gewichtsreduktion kann insbesondere bei nur leichter bis mittelschwerer Hypertonie zu einer Blutdrucknormalisierung führen. Dies ist eine kausale (!) Therapie. Die epidemiologische Evidenz ist eindeutig [1] [2] [5] [9], und die pathophysiologischen Zusammenhänge zwischen Gewichtsanstieg, Adipositas und Hypertonie wurden in den letzten Jahren sehr gut charakterisiert [8] [9]. Daher kann man die Blutdrucksenkung durch Gewichtsreduktion nicht als „Surrogaterfolg” diskreditieren. Daten der Framingham-Studie zeigen, dass eine Gewichtsreduktion von 6,8 kg und mehr zu einer Reduktion des Langzeitrisikos einer Hypertonie um 28 % für mittelalte und 37 % für ältere Erwachsene führt [2] [5] (Abb. [1]).

Was ist da passiert?

Das IQWiG hat im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) eine Nutzenbewertung der Gewichtsreduktion bei Patienten mit essentieller Hypertonie erstellt. Hierzu wurden von 5680 ausgesuchten Primärstudien zu dem Thema lediglich 53 Publikationen (0,93 %) vom IQWiG für gut befunden und bei der Auswertung berücksichtigt. Davon betreffen 43 Publikationen zu nur 10 (!) Studien die Gewichtsreduktion mittels nichtmedikamentöser Maßnahmen.

Zunächst fällt auf, dass von einer Gewichtsreduktion durch Diät um 4,14 kg berichtet wird. Das ist relativ wenig und stellt offenbar einen Mittelwert für eine Patientengruppe dar, deren Spektrum von Patienten mit glattem Therapieversagen bis zu solchen Patienten reicht, die einen Body-Mass-Index (BMI) von weniger als 25 erreichten. Wir denken, dass ein solches Vorgehen nicht adäquat ist. Es wären viel mehr Subgruppen zu bilden, die erfolgreiche Gewichtsreduktion von weniger erfolgreicher trennen, sowie Ausgangsgewicht und Ausgangsblutdruck berücksichtigen. Diese Sichtweise wird noch unterstützt durch die aus den Meta-Analysen abgelesene, nur mäßige Absenkung des systolischen Blutdrucks um 6,26 mmHg.

Sinnvoll: Subgruppen

Es leitet sich hieraus der Vorschlag ab, das Institut möge seinen Bewertungen eine sinnvolle Subgruppenbildung zugrunde legen und wirklich relevante Therapieziele formulieren. Als patientenrelevantes Therapieziel im Methodenteil die Reduktion der Gesamtmortalität an 1. Stelle zu nennen ist im Zusammenhang mit der Gewichtsreduktion zur Blutdrucksenkung völlig inakzeptabel. Den Nachweis der Reduktion der Gesamtsterblichkeit durch randomisierte kontrollierte Studien für den Bereich Prävention bzw. nichtmedikamentöse Maßnahmen zu fordern ist anmaßend: Wer fordert denn, dass die Gesamtsterblichkeit überhaupt ein patientenrelevantes Therapieziel ist? Und wer soll diese Studien durchführen und bezahlen?

Man kann vieles formulieren und fordern. Man kann sich auch vieles wünschen, zum Beispiel ist der Wunsch des Nachweises der Senkung der kardio- und zerebrovaskulären Mortalität durch nichtmedikamentöse Blutdruck senkende Maßnahmen ja verständlich. Auch hierzu bedarf es entsprechender Studienmittel. Man kann aber auch die Erfahrung aus großen medikamentösen Interventionsstudien, aus epidemiologischer Forschung, aus klinischer Expertise und täglicher praktischer Tätigkeit nehmen, und unter Berücksichtigung pathophysiologischer Aspekte zu einer tatsächlich patientenrelevanten Einstellung gelangen, die der Versorgungswirklichkeit Rechnung trägt.

Meide den Statistik-Sumpf!

Wenn man Therapieversagen so einfach, wie das mit der Waage möglich ist, erkennen und vorhersagen kann, ist es einfach nicht zielführend, wenn man die erfahrungsgemäß guten Ergebnisse bei erfolgreicher Gewichtsreduktion im statistischen Sumpf des Therapieversagens untergehen lässt. Was hat es für einen Sinn, nach Hochdrucksenkung oder gar Verminderung der Folgeschäden des Hochdrucks zu fragen, wenn das Übergewicht im Mittel nur leicht tangiert wurde? Sinnvolle Subgruppenbildung im IQWiG selbst durchzuführen oder für Nachfolge-Studien anzuregen, lautet die Forderung. Falls sich das mit dem Auftrag des Instituts ( SGB V, § 139a und folgende) nicht vereinbaren lässt, so richtet sich die Forderung an die Auftraggeber des IQWiG: Ändern Sie den Auftrag, so dass konstruktivere Stellungnahmen möglich werden. Das wird die Akzeptanz der Nutzenbewertung verbessern.

Abb. 1 Relatives Hypertonierisiko in Abhängigkeit vom Body Mass Index 2.

Diese Anregung kommt von Anhängern einer vernünftigen Evidenz-basierten Medizin (www.svr-gesundheit.de); Gutachten 2000/2001, Band II,2). Wir sehen allerdings die Notwendigkeit einer „Outcome-Bewertung” von EbM. Für die EbM wären zu beurteilen:

  1. Ziele

  2. Erfolge (Ziel erreicht)

  3. Misserfolge (Ziel noch nicht erreicht oder falsche Ziele?)

  4. Unerwünschte Nebenwirkungen

  5. Nettonutzen/Kosten(Aufwand)-Quotient

Zur Erinnerung: Was ist Evidenz-basierte Medizin?

Falsche Ziele und unerwünschte Nebenwirkungen der Arbeit des IQWiG müssten nahelegen, den Auftrag an das Institut zu modifizieren. Wir denken, dies ist der richtige Ort, um an das Schema der Komponenten der Evidenz-basierten klinischen Entscheidungsfindung von Haynes und Sackett [3] [4] [6] [7] zu erinnern, nach der die externe wissenschaftliche Evidenz zwar eine wichtige Komponente darstellt, die aber nur neben klinischer Erfahrung und Patientenpräferenzen zum Tragen kommt. Es steht zu hoffen, dass diese „Evidenz-gestützte, an Patientenpräferenzen orientierte und auf ärztliche Erfahrung fußende Medizin” auch für den gemeinsamen Bundesausschuss § 91 vermehrt zur Entscheidungsgrundlage wird.

Die Evidenz-basierte Medizin ist „der vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten.” Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung. Damit ist für Gutwillige die EbM weder unreflektierter Szientismus noch Evidenz-basierte Besserwisserei. Und Nutzenbewertung ist im Prinzip notwendig, sie kann und muss aber erheblich verbessert werden.

Auch eine bessere und frühzeitigere Einbindung wissenschaftlicher Fachgesellschaften und Experten in die Entscheidungsfindung des IQWiG erscheint dringend notwendig. Die Einbindung sollte bereits bei der Formulierung der Zielgrößen, Subpopulationen und anderer methodischer Details geschehen, ebenso bei der Auswahl der Literatur. Bevor Empfehlungen abgegeben werden, die wie im Fall der Gewichtsreduktion den gesamten Bereich der Prävention tangieren, sollte ein breiter Konsensus angestrebt werden.

Was macht nun der Gemeinsame Bundesausschuss mit dem IQWiG-Bericht? Wir sind gespannt.

Autorenerklärung: P.S. ist Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und Vorsitzender des wiss. Beirates der Bundesärztekammer (Weiteres s. u. www.svr-gesundheit.de). M.M. ist Sprecher der Sektion Versorgungsstrukturen der Deutschen Hochdruckliga/Deutsche Hypertoniegesellschaft.

Literatur

  • 1 Adams K F TB. et al . Overweight, obesity, and mortality in a large prospective cohort of persons 50 to 71 years old.  N Engl J Med. 2006;  355 763-778
  • 2 Colditz G A. The economic costs of obesity.  Am J Clin Nutr. 1992;  55 5503-5507
  • 3 Haynes R B. What kind of evidence is it that Evidence-Based Medicine advocate want health care providers and consumers to pay attention to?.  BMC Health Serv Res. 2002;  2 3
  • 4 Haynes R B, Devereaux P J, Guyatt G H. PhysiciansŽ and patientsŽ choices in evidence based practice.  BMJ. 2002;  324 1350
  • 5 Moore L L. et al . Weight loss in overweight adults and the long-term risk of hypertension: the Framingham study.  Arch Intern Med. 2005;  165 1298-1303
  • 6 Sackett D L, Rosenberg W M, Gray J A, Haynes R B, Richardson W S. Evidence based medicine: what it is and what it isn’t.  BMJ. 1996;  312 71-72
  • 7 Sackett D L, Strauss S, Richardson S R, Rosenberg W, Haynes R B. Evidence-Based Medicine: How to Practice and Teach EBM. London, Churchill Livingstone 2000
  • 8 Sharma A M. et al . Hypertonie bei Adipositas: Epidemiologie, Pathophysiologie und Behandlungsansätze.  Dtsch Med Wochenschr. 1999;  124 1337-1341
  • 9 Wilson P W, D`Ágostino R B, Sullivan L, Parise H, Kannel W B. Overweight and obesity as determinants of cardiovascular risk: the Framingham study.  Arch Intern Med. 2002;  162 1867-1872

em. Prof. Dr. med. Dr. h. c. em. Peter C. Scriba

Medizinische Klinik Innenstadt, Klinikum der Universität München

Ziemssenstraße 1

80336 München

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