NOTARZT 2007; 23(1): 21-23
DOI: 10.1055/s-2006-952020
Fortbildung
Der toxikologische Notfall
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Liebeskummer und der Weidenbaum

F.  Martens1
  • 1Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (Direktor: Prof. Dr. Ulrich Frei), Berlin
Further Information

Publication History

Publication Date:
22 February 2007 (online)

Fall 1

Der Notarzt wird mit dem Stichwort „Plötzliche Bewusstlosigkeit” in eine Hinterhauswohnung gerufen. Die Rettungsassistenten des zuvor eingetroffenen RTW applizieren bei einer auf dem Boden liegenden 25-jährigen Patientin mittels Maske Sauerstoff. Der Freund der Patientin berichtet, dass er sie bewusstlos vor dem Bett auf dem Boden liegend vorgefunden habe. Er habe etwa vier Stunden zuvor nach einem Streit die gemeinsame Wohnung verlassen. Zu diesem Zeitpunkt sei seine Freundlin vollkommen wach gewesen.

Bei näherer Untersuchung der Patientin fällt ein erheblicher Alkoholgeruch auf. Die Pupillen sind beidseits eng, die Konjunktiven gerötet. Auf kräftige Schmerzreize reagiert sie mit gleichseitigen Extremitätenbewegungen. Auffällig ist eine deutliche Hyperventilation. Blutdruck und pulsoxymetrische Sättigung weisen Normalwerte auf; die Herzfrequenz ist mit 124/min erhöht. Unter dem Verdacht einer schweren Alkoholvergiftung wird eine Venenverweilkanüle eingelegt und die Patientin dann in stabiler Seitenlage auf die RTW-Trage gelegt. Kurz vor Verlassen der Einsatzstelle werden leere Blisterpackungen eines azetylsalizylsäurehaltigen Präparates à 500 mg entdeckt, die nach Angaben des Freundes bislang weitgehend vollständig im Badezimmerschrank gelegen hätten. Somit ergibt sich jetzt der zusätzliche Verdacht einer Vergiftung mit bis zu 75 g Azetylsalizylsäure.

Nach Transport in eine nahe gelegene Klinik wird dort eine Ethanolkonzentration im Serum von 2,6 g/l und eine Salizylatkonzentration von 253 mg/l bestimmt. In der venösen Blutgasanalyse zeigt sich eine mäßige respiratorische Alkalose (pH 7,49 pCO2 37). Beim Versuch, eine nasogastrale Sonde zur Gabe von Aktivkohle einzulegen, erwacht die Patientin und ist auch in der Lage, aufgeschwemmte Aktivkohle zu trinken. In der Folge schläft sie immer wieder ein, bleibt jedoch erweckbar und gibt drei Stunden nach Aufnahme Bauchschmerzen und Übelkeit an. Unter der kontinuierlichen Zufuhr von 5 %-iger Glukoselösung mit Zusatz von Natriumbikarbonat und KCl ist die Patientin nach 15 Stunden in der Lage, ausführlich mit dem Psychiater zu sprechen. Dieser diagnostiziert anhaltende Suizidalität und veranlasst die Verlegung in eine psychiatrische Kriseninterventionsstation. Bei dieser Gelegenheit berichtet die Patientin, zwar knapp 150 Tabletten eingenommen zu haben, jedoch kurz danach wieder erbrochen zu haben. Somit erklärt sich die relativ niedrige Konzentration von Salizylsäure im Plasma.

Literatur

  • 1 Peyriere H, Balmes N, Rouanet I, Mauboussin J M, Hillaire-Buys D, Arich C, Blayac J P, Vincent D. Acute salicylate intoxication after percutaneous absorption in an HIV patient treated for psoriasis.  AIDS. 2002;  16 (13) 1843-1844
  • 2 Wecker H, Laubert A. Reversible Hörminderung bei akuter Salizylatintoxikation.  HNO. 2004;  52 (4) 347-351
  • 3 Barnett A K, Boyer E W, Traub S J. Salicylate intoxication in children and adolescents. UpToDate 2006 http://www.uptodate.com
  • 4 Rose B D, Traub S J. Aspirin intoxication in adults. UpToDate 2006 http://www.uptodate.com
  • 5 American Academy of Clinical Toxicology, European Association of Poisons Centres and Clinical Toxicologists . Position Paper: Gastric Lavage.  Clin Toxicol. 2004;  42 (7) 933-943
  • 6 American Academy of Clinical Toxicology, European Association of Poisons Centres and Clinical Toxicologists . Position Statement and Practice Guidelines on the Use of Multi-Dose Activated Charcoal in the Treatment of Acute Poisoning.  Clin Toxicol. 1999;  37 (2) 731-751
  • 7 Chyka P A, Seger D, Krenzelok E P, Vale J A. American Academy of Clinical Toxicology; European Association of Poisons Centres and Clinical Toxicologists. Position paper: Single-dose activated charcoal.  Clin Toxicol. 2005;  43 (2) 61-87
  • 8 Cooper G M, Couteur D G Le, Richardson D, Buckley N A. A randomized clinical trial of activated charcoal for the routine management of oral drug overdose.  QJM. 2005;  98 (9) 655-660

Priv.-Doz. Dr. Frank Martens

Charité, Campus Virchow Klinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

Email: frank.martens@charite.de

    >