NOTARZT 2007; 23(2): 41-42
DOI: 10.1055/s-2006-952000
Editorial
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Sichtung - immer nur eine ärztliche Aufgabe?

Triage Examination: Always Solely a Task for Physicians?D.  Stratmann1
  • 1Klinikum Minden, Institut für Anästhesiologie
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Publication Date:
20 April 2007 (online)

Vorbereitungen für mögliche Großschadensereignisse mit einer erheblich höheren Anzahl von Betroffenen als bisher eingeplant, z. B. im Rahmen der FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft 2006 als auch reale Ereignisse, z. B. die terroristischen Anschläge in Madrid und London mit gleichzeitig mehreren Einsatzstellen haben die Diskussion über die Organisation und den Ablauf der Sichtung gefördert [1] [2] [3] [5].

Dies ist zu begrüßen, denn die Diskrepanz zwischen verfügbaren und erforderlichen ärztlichen Kapazitäten (LNA) zur Sichtung in der Frühphase eines Großschadensereignisses ist real. Zudem wird die Lagebeurteilung häufig genug durch weitere Faktoren zusätzlich erschwert wie z. B.

Schadensart, -verlauf und -ausbreitung, Lage des Schadensortes (Entfernungen, Infrastruktur), Schadensgebiet (Größe, Übersichtlichkeit, Zugänglichkeit), Tageszeit, Witterung, Sichtverhältnisse, vorhandene/nachalarmierbare Kapazitäten.

Es bedarf daher alternativer und praktikabler Lösungen.

Dabei sollte planerisch die Zuordnung der Sichtung als - oft ausgesprochen schwierige und besonders verantwortungsvolle - „ärztliche Aufgabe” (entsprechend den Empfehlungen der Bundesärztekammer zum „Leitenden Notarzt”) grundsätzlich nicht infrage gestellt werden. Da dies auch in keinem der bisher bekannten Konzepte geschieht, kann eine langwierige, frustrane Grundsatzdiskussion von vornherein vermieden werden!

Um zeitlich und räumlich adäquat eine rasche erste sowohl individuelle Zustandsbeurteilung eines jeden (!) einzelnen Betroffenen wie auch eine erste medizinische Gesamtlagebeurteilung für die weiteren notwendigen Entscheidungen der Einsatzleitung zu erhalten, wird nichtärztliches Rettungsdienstfachpersonal häufig genug diese erste Zustandsbeurteilung vornehmen müssen [2] [3] [5]. Der klarstellende Begriff „Vorsichtung” ist hierfür gut gewählt, weist er doch eindeutig auf eine zunächst vorläufige Beurteilung und die daher später noch erforderliche ärztliche Sichtung hin.

Zur Umsetzung dieser Aufgabe bedarf das Rettungsdienstfachpersonal, dessen Qualifikation die eines Rettungsassistenten/einer Rettungsassistentin sein sollte und mindestens die eines Rettungssanitäters/einer Rettungssanitäterin sein muss, einer gesonderten, mit einer Prüfung abzuschließenden Fortbildung [1] [3] [5]. Schließlich werden Menschen „kategorisiert” mit allen daraus resultierenden Folgen für den weiteren (ggf. zu unterlassenden!) Behandlungsverlauf. Zudem kann aus eigenen Erfahrungen die Aussage von Kanz et al. [2] nur bestätigt werden, dass häufig der Schwere- und Bedrohungsgrad eher überbewertet und damit Versorgungskapazität zum Nachteil anderer unnötig gebunden wird [2].

Zudem sind auch andere als traumatologische Schäden zu berücksichtigen, obwohl auch dort bereits genügend spezifische Probleme, z. B. nach Bombenexplosionen, auftreten können [4]. So dürfen z. B. (unklare) Intoxikationen, Massenhysterien bis hin zu ABC-Schäden in der Ausbildung nicht gänzlich vernachlässigt werden, erfordern sie doch oft andere Sichtungskriterien als in der Traumatologie.

Als geeignete Ausbildungsgrundlage kann der auch von der AG Notfallmedizin der DGU empfohlene STaRT-Algorithmus bzw. dessen Variation als mSTaRT-Algorithmus dienen [1] [2] [5]. Dies insbesondere, weil hier das für Nichtärzte kritische Stellen von „Verdachtsdiagnosen” weitestgehend vermieden wird und einfache Symptom-Beurteilungen wie Bewusstsein/Beweglichkeit, Atem- und Puls-Qualität und -frequenzen sowie Blutungen im Vordergrund stehen.

Bleibt zu hoffen, dass fernab von Grundsatzdiskussionen - aber an allseits akzeptierten Grundsätzen orientierte - geeignete, am lokalen Bedarf und regionalen Möglichkeiten adaptierte Konzepte für eine rasche und zugleich qualifizierte Erstbeurteilung Betroffener bei Großschadenslagen inklusive Konzepten der „Vorsichtung” umgesetzt werden können, wie sie z. B. Kanz et al. [2] bereits aufzeigte und Sefrin et al. in diesem Heft darstellen [5].

Dr. Dieter Stratmann, Vorsitzender der BAND

Literatur

  • 1 Beck A, Bayeff-Filoff M, Kanz K-G, Sauerland S. AG Notfallmedizin der DGU . Algorithmus für den Massenanfall von Verletzten an der Unfallstelle.  Notfall Rettungsmed. 2005;  8 466-473
  • 2 Kanz K G, Hornburger P, Kay M V, Mutschler W, Schäuble W. mSTaRT-Algorithmus für Sichtung, Behandlung und Transport bei einem Massenanfall von Verletzten.  Notfall Rettungsmed. 2006;  9 264-270
  • 3 Peters J, Böll D. et al . Die „Vorsichtung” als Maßnahme des nicht-ärztlichen Rettungsdienstpersonals.  Rettungsdienst. 2006;  29 342-346
  • 4 Seitz S, Kanz K-G, Kay M V, Hornburger P, Kreimeier U, Mussack T, Schäuble W, Mutschler W. Bombenexplosion - Was muss der Notarzt wissen?.  Notarzt. 2006;  22 7-11
  • 5 Sefrin P, Kuhnigk H, Ibrom M, Cermak R. „Vorsichtung” als Konzept bei Großschadensereignissen und Katastrophen.  Notarzt. 2007;  23 43-48

Dr. med. Dieter Stratmann

Klinikum Minden, Institut für Anästhesiologie

Friedrichstraße 17

32427 Minden

Email: dieter.stratmann@klinikum-minden.de

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