Fortschr Neurol Psychiatr 2006; 74(6): 307-308
DOI: 10.1055/s-2006-932202
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zum zwiespältigen Erfolg der Enthospitalisierung

On the Ambivalent Success of DehospitalisationK.  Heinrich1
  • 1Rheinische Kliniken, Psychiatrische Klinik der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
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Publication Date:
29 May 2006 (online)

1976, zurzeit der lebhaften Diskussionen über die Psychiatriereform, wurde in „Bilanz und Ausblick der Anstaltspsychiatrie” [1] ausgeführt [2], dass jede Abhandlung über die notwendige Verbesserung der psychiatrischen Versorgung von der Beschreibung erheblicher Insuffizienzen auszugehen habe. Diese beträfen vor allem die großen psychiatrischen Krankenhäuser, die seit Beginn des Ersten Weltkrieges von der Weiterentwicklung des Krankenhauswesens weithin ausgeschlossen geblieben seien. In den letzten Jahren habe die Anstaltspsychiatrie große und auch erfolgreiche Anstrengungen unternommen, die Situation der in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern behandelten Kranken und Behinderten zu verbessern. Neben der Ersetzung überalterter Bausubstanz durch neue Gebäude konnte die Überbelegung durch Enthospitalisierung beseitigt werden, von den Anstalten wurden als Stützpunkte der regionalen Versorgung komplementäre Einrichtungen wie Patientenclubs, Übergangsheime, Tages- und Nachtkliniken sowie beschützende Wohnungen und Werkstätten eingerichtet und unterhalten. In verschiedenen Formen wurde auch von den Anstalten aus der ambulante Versorgungssektor ausgebaut.

Es wurde als unbezweifeltes Reformziel bezeichnet, dass niedergelassene Nervenärzte mehr als bisher Altenheime konsiliarisch versorgen, Patientenclubs leiten, Tagesstätten und Tageskliniken betreuen oder mit beschützenden Werkstätten zusammenarbeiten.

Waren 1976 die Verkleinerungs- und Enthospitalisierungstendenzen der psychiatrischen Großkrankenhäuser noch uneingeschränkt als notwendige Veränderungen postuliert worden, so wurden wenige Jahre später Relativierungen der Enthospitalisierung deutlich. 1980 wurde auf dem 4. Düsseldorfer Symposion „Der Schizophrene außerhalb der Klinik” [3] die Enthospitalisierung der wichtigen Patientengruppe der Schizophrenen diskutiert. Das Zustandekommen der Lebensform außerhalb des psychiatrischen Krankenhauses wurde erörtert, wobei festgestellt wurde, dass es zur extraklinischen Lebensform kommen könne durch Vermeidung der Klinikaufnahme, durch regelgemäße Entlassung aus der stationären Behandlung, durch Abbruch der stationären Behandlung durch den Patienten und durch Vertreibung des Patienten aus dem Krankenhaus. Es entspricht sowohl dem damaligen wie dem heutigen Selbstverständnis der klinischen Psychiatrie, dass alles versucht wird, um den Patienten so schnell wie möglich in einem möglichst guten Zustand wieder aus der Klinik entlassen zu können. Die Entlassung ist im günstigsten Falle das Ergebnis einer sorgfältigen Planung der Therapie, der partnerschaftlichen Verabredung mit dem Patienten und seinen Angehörigen und der Vergewisserung der Aufnahmebereitschaft des sozialen Feldes. Es wurde darauf hingewiesen, dass nicht selten Misserfolge von Enthospitalisierungsmaßnahmen durch die Nichtbeachtung des postremissiven Erschöpfungssyndroms (postpsychotische Depression) verursacht werden [4].

Wenn schon die wohlvorbereitete Entlassung des Patienten aus der Klinik erhebliche Probleme aufwerfen kann, so gilt dies umso mehr, wenn der Kranke vor erfolgreichem Abschluss der klinischen Therapie aus für ihn zwingend erscheinenden Gründen die Behandlung abbricht und, wie es heißt, „gegen ärztlichen Rat” die Lebensform außerhalb der Klinik aufsucht. Es muss befürchtet werden, dass diese Weise des Handelns gegen eine als unerträglich erlebte Fremdbestimmung in den meisten Fällen zu einer Verschlechterung des Befindens des Patienten führt. Für diesen Fall müssen Hilfen vorbereitet sein, die dem Kranken das Verbleiben außerhalb der Klinik ermöglichen.

So sehr der Begriff der Enthospitalisierung mit dem Begriff der „Befreiung” assoziiert wurde, so sehr muss er jedoch infrage gestellt werden, wenn er Ausdruck eines zeitgeistgemäßen Symbolhandelns ist, das zur Vertreibung der Kranken in eine Lebensform außerhalb der Klinik führt. Die überstürzt-revolutionäre Psychiatriereform in Italien, für die der Name Basaglias steht, hat zur Vertreibung vieler Kranker aus den staatlichen psychiatrischen Großkrankenhäusern geführt. Diese Kliniken waren veraltet, überfüllt, mangelhaft ausgestattet und wurden ihren humanitären und psychiatrischen Aufgaben nicht gerecht, die Lebensform der Klinikvertriebenen wurde jedoch noch unwürdiger, weil komplementäre psychiatrische Dienste nur in geringem Umfang vorhanden waren. Die Enthospitalisierung durch Vertreibung ist auch heute noch eine Gefahr, die nicht völlig gebannt erscheint. Eine Reformideologie, die sich nur nach der Zahl der enthospitalisierten Patienten bemisst und die nicht nach der Qualität des Lebens außerhalb der Klinik fragt, verfehlt das Ziel einer Lebensqualitätsverbesserung für die Patienten. Es war aus zwingenden sachlichen Gründen unvermeidlich, dass das 1978 vom italienischen Parlament beschlossene Gesetz 180, nach dem die Abschaffung der psychiatrischen Anstalten angeordnet wurde, 1982 bzw. 1984 wegen der damit einhergehenden Verelendung vor allem chronisch Kranker revidiert werden musste [5].

Sind lediglich ökonomische Gründe für die Enthospitalisierung psychisch Kranker ausschlaggebend, so müssen Misserfolge befürchtet werden. Der psychiatrische Patient bedarf außerhalb der Klinik eines erheblichen, immer wieder einmal unterschätzten institutionellen Aufwandes. In der Entlassung aus der stationären Behandlung ist keine Panazee zu sehen, die auf der einen Seite billig, auf der anderen Seite rehabilitativ wirksam ist. Klug [6] hat die anspruchsvollen Bedingungen Erfolg versprechender außerstationärer Netzwerke formuliert. Er fordert über mindestens fünf Jahre stabile Angebote (örtlich, persönlich und in der Dichte), eine strukturierende Krisenintervention mit einheitlicher professioneller Haltung, einen Zugang zu kleinen stimulationsarmen Übernachtungsmöglichkeiten, maximale Familienunterstützung und eine enge Verbindung zu Patienten und informellen Helfern. Kallert u. Mitarb. [7] haben bei ihrer Untersuchung des Enthospitalisierungsprozesses des psychiatrischen Heimbereichs eines ehemaligen Großkrankenhauses aus Patienten- und Mitarbeitersicht festgestellt, dass die nach zweijähriger Beobachtung in einem Pflegeheimbereich befindlichen Patienten aufgrund ihrer Erkrankungschronizität nur noch über ein sehr begrenztes Veränderungspotenzial hinsichtlich psychopathologischer Symptome und sozialer Behinderungen verfügen. Diese Tatsache wirft auch Probleme für die involvierten Mitarbeiter auf, denen vermittelt werden muss, dass es als Erfolg ihrer Arbeit zu werten ist, wenn Stabilität auf verschiedenen Outcome-Ebenen erreicht werden konnte. Schlecht vorbereitete und überwiegend als unfreiwillig beurteilten Enthospitalisierungsprozesse gehen mit erheblicher Unzufriedenheit und mit einer Zunahme des psychiatrischen Versorgungsbedarfs einher. Wenn vorher klinisch tätiges Pflegepersonal im Enthospitalisierungsprozess in den Heimbereich wechselt, ist dies möglicherweise mit einem Diffuswerden des Berufsbildes verbunden, das als sozial abträglich empfunden wird. Es muss berücksichtigt werden, dass viele Angehörige des Pflegepersonals eine medizinisch-klinische Ausbildung erfahren haben, die mit professionellem Prestige verbunden ist, das durch ein Überwechseln in einen Heimbereich als gemindert erlebt werden kann. Auch die totale oder partielle Auflösung eines Heims im Sinne eines Übergangs zu beschützendem Wohnen oder zum freien Wohnen in der Gemeinde wirft Arbeitsplatzprobleme auf, die zu einer Verunsicherung der betroffenen Mitarbeiter führen können [7].

Insgesamt gilt, dass die Enthospitalisierung nicht die gleichsam automatische Lösung der Probleme der Psychiatriereform ist [8]. Ihre Schwierigkeiten im Einzelfall dürfen nicht unterschätzt werden, ein erheblicher Vorbereitungsaufwand ist notwendig. Es können Beeinträchtigungen nicht nur für die aus ihrer bis dahin vertrauten Umgebung herausgeratenen Klinik- und Heiminsassen entstehen, auch für klinisch ausgebildete Mitarbeiter ist der Wechsel in einen anderen professionellen Rahmen möglicherweise belastend. Die Anerkennung dieser Probleme bedeutet allerdings nicht den Verzicht auf die Enthospitalisierung, die in vielen Fällen dank der Bemühungen von Patienten, Mitarbeitern und sozialem Umfeld erfolgreich ist.

Literatur

  • 1 Krantz H, Heinrich K. Bilanz und Ausblick der Anstaltspsychiatrie. 100 Jahre Rheinisches Landeskrankenhaus - Psychiatrische Klinik der Universität Düsseldorf 1876 - 1976. 2. Düsseldorfer Symposion am 25.06.1976. Stuttgart-New York: Schattauer 1977
  • 2 Heinrich K. Die Reform der Anstaltspsychiatrie als Priorität der Psychiatriereform. In: Krantz H, Heinrich K (Hrsg). Bilanz und Ausblick der Anstaltspsychiatrie. 100 Jahre Rheinisches Landeskrankenhaus - Psychiatrische Klinik der Universität Düsseldorf 1876 - 1976. 2. Düsseldorfer Symposion am 25.06.1976. Stuttgart-New York: Schattauer 1977: 1-6
  • 3 Heinrich K. Ermöglichungsweisen außerklinischen Lebens schizophrener Patienten. In: Heinrich K (Hrsg). Der Schizophrene außerhalb der Klinik. Bern, Stuttgart, Wien: Huber 1982: 11-16
  • 4 Heinrich K. Zur Bedeutung des postremissiven Erschöpfungs-Syndroms für die Rehabilitation Schizophrener.  Nervenarzt. 1967;  38 487-491
  • 5 Payk T R. Antipsychiatrie - eine vorläufige Bilanz.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 516-522
  • 6 Klug G. Die Veränderung sozialer Netzwerke im Rahmen von Psychosen.  Fortschr Neurol Psychiat. 2005;  73 Sonderheft 1 566-573
  • 7 Kallert T W, Looks P, Leiße N, Hoffmann K, Franz M. Enthospitalisierungsprozesse in deutschen psychiatrischen Großkrankenhäusern.  Fortschr Neurol Psychiat. 2005;  73 1-20
  • 8 Eikelmann B, Reker T, Richter D. Zur sozialen Exklusion psychisch Kranker - Kritische Bilanz und Ausblick der Gemeindepsychiatrie zu Beginn des 21. Jahrhunderts.  Fortschr Neurol Psychiat. 2005;  73 664-673

Prof. Dr. med. K. Heinrich

Rheinische Kliniken - Psychiatrische Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Bergische Landstraße 2

40629 Düsseldorf

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