Gesundheitswesen 2006; 68(5): 294-302
DOI: 10.1055/s-2006-926781
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vorhersage der Erwerbstätigkeit in einer Bevölkerungsstichprobe von 4225 Versicherten der LVA über einen Prognosezeitraum von fünf Jahren mittels einer kurzen Skala (SPE-Skala)

Predicting Gainful Employment in a Population Sample of 4225 Statutory Pension Insurance Members Covering a Prognostic Period of Five Years Using a Brief Subjective Prognostic Employment Scale (SPE Scale)O. Mittag1 , T. Meyer1 , N. Glaser-Möller2 , C. Matthis1 , H. Raspe1
  • 1Institut für Sozialmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (Campus Lübeck)
  • 2Deutsche Rentenversicherung Nord, Lübeck
Aus dem Projekt „Die Abschätzung von Rehabedarf bei aktiven Mitgliedern der gesetzlichen Rentenversicherung: Der Lübecker Algorithmus und seine Validierung” (Förderer: BMBF und VDR; FKZ: 02 1 06; Projektleiter: Prof. Dr. Dr. H. Raspe) im Norddeutschen Verbund Rehabilitationsforschung (NVRF)
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Publication Date:
13 June 2006 (online)

Zusammenfassung

Ziele: Das erwerbsbezogene Leistungsvermögen ist eine der zentralen Kategorien der praktischen Sozialmedizin. Es spielt insbesondere im Aufgabenbereich der Gesetzlichen Rentenversicherung (z. B. bei der sozialmedizinischen Begutachtung) oder in der epidemiologischen bzw. Rehaforschung eine wichtige Rolle. In einer früheren Studie an einer Bevölkerungsstichprobe von LVA-Versicherten wurde eine kurze Skala zur subjektiven Prognose der Erwerbstätigkeit (SPE-Skala; Range: 0 - 3) hinsichtlich ihrer Reliabilität überprüft. In einem weiteren Schritt sollte nun untersucht werden, ob sich die SPE-Skala auch eignet, die sozialmedizinischen Outcomes in dieser Bevölkerungsstichprobe über einen längeren Zeitraum vorherzusagen. Methoden: Die Stichprobe entstammt einer Kohorte von initial berufstätigen LVA-Versicherten der Geburtsjahrgänge 1944 - 1958 aus Lübeck und Umgebung. Sie wurden zwischen April 1999 und Juli 2000 mittels eines umfassenden Fragebogens untersucht. Von insgesamt 4225 dieser Probanden (= 95 % der Nettokohorte) liegen uns komplette SPE-Daten sowie die folgenden Outcomedaten aus den Versichertenkonten vor: Renten (Antragsdatum und Rentenbeginn) sowie ggf. das Todesdatum. Der erfasste Nachbeobachtungszeitraum beträgt im Mittel 4,75 Jahre. Im Nachbeobachtungszeitraum wurden 323 Rentenanträge gestellt (= 7,6 %) und 200 Renten gewährt (= 4,7 %). Die Auswertung erfolgte auf der Grundlage von Überlebensanalysen (Cox-Regression). Ergebnisse: Eine erste Analyse unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht zeigte, dass Versicherte mit einem Wert von „2” auf der SPE-Skala mit einer gegenüber denjenigen mit dem Wert „0” dreifach (Berentung: zweifach) höheren Wahrscheinlichkeit einen Rentenantrag stellen und Versicherte mit einem Wert von „3” sogar mit einer achtfach höheren Wahrscheinlichkeit einen Rentenantrag stellen und auch berentet werden. Auch in der multivariaten Analyse (Kovariate: allgemeiner Gesundheitszustand, Anzahl chronischer Erkrankungen, Vorliegen einer Schwerbehinderung, berufliches Leistungsvermögen, AU-Dauer) blieb der eigenständige prädiktive Anteil der SPE-Skala für den Endpunkt Rentenantragstellung mit einer über zweifachen Wahrscheinlichkeitserhöhung bei einem Skalenwert von „3” erhalten. Schlussfolgerungen: Die Skala ist insbesondere zum Screening auf eine Gefährdung der Erwerbstätigkeit sowie auch zur Unterstützung im sozialmedizinischen Begutachtungsverfahren geeignet. Außerdem kann der Einsatz in der epidemiologischen oder Rehabilitationsforschung empfohlen werden.

Abstract

Purpose: Vocational (dis-)ability is a key concept in social medicine. It plays a major role in the realm of statutory pension funds (e. g. appraisal of applications for early retirement) as well as in epidemiologic or rehabilitation research. In a former population-based survey reliability of a short scale assessing the subjective prognosis of gainful employment (SPE-Scale, range = 0 - 3) had been tested. We now wanted to explore whether the SPE-Scale allows a prediction of vocational outcomes (early retirement) in the population sample over longer periods of time. Methods: Statutory pension insurees from Luebeck and surroundings aged between 40 and 55 were surveyed by questionnaire in 1999/2000. For 4225 subjects (= 95 % of the original cohort) we obtained the following outcome data from pension fund records: dates of any applications for early retirement and beginning of retirement, date of death. The follow-up period covers 4.75 years on average. During this period 323 applications for early retirement (= 7.6 %) were filed, and 200 subjects (= 4.7 %) actually retired. Results: First analysis including age and sex as covariates showed a threefold (SPE = 2) and eightfold (SPE = 3) risk of early retirement. Multivariate analysis (covariates: overall health status, number of chronic conditions, approved disability, subjective vocational ability, and length of sick leave measured at study onset) yielded a twofold risk of filing an application for early retirement (SPE = 3). Conclusions: The SPE-Scale is an appropriate screening instrument for hazards regarding gainful employment. It also can be recommended for use in epidemiologic or rehabilitation surveys.

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1 Folgende Variablen aus dem postalischen Fragebogen zu Beginn des Beobachtungszeitraums wurden auf einen Zusammenhang mit der Dauer bis zum Ereignis Rentenantrag analysiert: Allgemeine Gesundheit (1-Item-Frage), Grad der Behinderung (zuerkannt bzw. beantragt vs. nicht vorhanden), Leistungsvermögen im Beruf (Visuelle Analog Skala), AU-Zeiten in den vergangenen 12 Monaten, Anzahl chronischer Erkrankungen, Gesamtwert Funktionsfragebogen Hannover (FFbH-R), Somatisierung (Subskala der SCL-90-R), Schmerzausbreitung (Anzahl unterschiedlicher Schmerzlokalisationen), Rückenschmerzgrad, Subskalen Vitalität und psychische Gesundheit der Short-Form 36 (SF-36), Body Mass Index.

2 Folgende Variablen wurden dazu aufgenommen (in Klammern jeweils der prozentuale Anteil fehlender Werte): Alter (0 %), Allgemeine Gesundheit (4,4 %), Leistungsfähigkeit im Alltag (1,4 %), Leistungsfähigkeit im Beruf (2,5 %), Leistungsfähigkeit in der Freizeit (2,6 %), AU-Zeiten in den vergangenen 12 Monaten (7 Kategorien; 1 %), Funktionskapazität (FFbH-R, 0,5 %), Anzahl somatischer Beschwerden (0 %), Anzahl genannter Schmerzlokalisationen (0 %), Rückenschmerzgrad (4 Kategorien, 2,2 %), Subskala Vitalität der SF-36 (0,7 %), Subskala Psychisches Wohlbefinden der SF-36 (0,8 %), Body-Mass-Index (0,9 %).

PD Dr. Oskar Mittag

Institut für Sozialmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (Campus Lübeck)

Beckergrube 43 - 47

23552 Lübeck

Email: oskar.mittag@sozmed.uni-luebeck.de

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