PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(1): 95-97
DOI: 10.1055/s-2004-834665
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Umgang mit dem CRPS-Patienten

Gaby  Haitzer im Gespräch mit Hanne  Seemann
Further Information

Publication History

Publication Date:
24 March 2005 (online)

Hanne Seemann: Frau Haitzer, das CRPS, früher Morbus Sudeck genannt, ist eine bei Schmerz-Psychotherapeuten nicht sehr bekannte Erkrankung. Könnten Sie uns zunächst einmal sagen, was man sich darunter vorstellen kann?

Gaby Haitzer: Morbus Sudeck ist ein nicht mehr geläufiger Begriff für eine schwerwiegende Komplikation nach Trauma oder OP. Die heute verwendete Bezeichnung CRPS (Complex-Regional-Pain-Syndrom) beschreibt eine äußerst komplizierte Schmerzkrankheit mit Funktionsverlust eines Armes oder Beines, die - obwohl seit mehr als 100 Jahren in der Literatur beschrieben - erst in den letzten Jahren einigermaßen geklärt werden konnte.

Es handelt sich um einen sekundären, sehr schmerzhaften Muskel- und Knochenschwund einer Extremität mit Durchblutungs- und Stoffwechselstörungen aller Gewebeschichten und drohendem Funktionsverlust.

Ursächlich werden lokale Entzündungsreaktionen nach Nervenschädigung mit Ausschüttung von Neuropeptiden, Koppelung an sympathische Nervenfasern, Verstärkung der Schmerzweiterleitung und vor allem eine zentrale Schmerzverarbeitungsstörung in den entsprechenden Hirnregionen verantwortlich gemacht. Frühe Schmerz- und Stresserfahrung kann die Symptomatik verstärken, sollte aber angesichts der multikausalen Veränderungen keinesfalls als alleiniger Auslöser missverstanden werden, zumal rechtzeitige konsequente postoperative Schmerztherapie mit Physiotherapie eine drohende lebenslange Behinderung verhindern kann.

Obwohl klare Kriterien für das CRPS erarbeitet wurden (Diagnosekriterien nach Brühl), fehlt vielen Kollegen schlichtweg das Wissen, um die alles andere als seltene Erkrankung zu erkennen (mehr als 20 000 Neuerkrankungen/Jahr). Symptome wie unverhältnismäßig schwerer Schmerz, Berührungsschmerz, Überwärmung, Schwellung, beginnender Funktionsverlust bei auffälligem Muskelschwund eines Armes oder Beines sollten den Verdacht frühzeitig nach einem Trauma auf diese Komplikation lenken.

„Neglect-like”-Symptomatik, also das Unvermögen, zielgerichtete Bewegungen ohne Sichtkontrolle auszuführen, Tremor, Parästhesien oder Paresen (Lähmungen) sind einige der neurologischen Bilder, die das CRPS bieten kann.

Leider wird diese Krankheit - ist sie endlich diagnostiziert - von Chirurgen oder Orthopäden, Hausärzten oder Neurologen aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus gerne auf psychische Ursachen reduziert, die betroffene Extremität wird zu lange ruhig gestellt und einfach nicht mit Schmerzmitteln behandelt, sodass auch heute noch schwere Behinderungen mit chronischen Schmerzen selbst schon bei jungen Menschen zu sehen sind. Die daraus resultierende Depression, ausgeprägte Verunsicherung und Frustration begründen sich aus den schwerwiegenden sozialen Konsequenzen wie Arbeitslosigkeit und Isolation usw.

Sie haben ja persönliche Erfahrung mit dem CRPS. Wie stehen Sie selbst zu der oft geäußerten Vermutung einer Sudeck-Persönlichkeit?

Seit der Beschreibung von Weir Mitchell Ende des 19. Jahrhunderts, wird diskutiert, inwieweit und ob eine bestimmte so genannte „Sudeck-Persönlichkeit” vorliegt und zur Krankheit Sudeck disponiert.

Auch wenn aus meiner Sicht eine Persönlichkeit durch wesentlich mehr individuelle und unverwechselbare Eigenschaften definiert ist, als der von manchen Psychologen gern auf „ängstlich, neurotisch und depressiv” reduzierte Typus, so sind doch gewisse Gemeinsamkeiten bei all den verschiedenen Sudeck-Patienten zu finden, die aber erstens ohne Wertung gesehen werden sollten und zweitens zu einem bestimmten besonders einfühlsamen und motivierenden Umgang führen sollten.

Gemeint ist dabei eine auffallend sensible und im weitesten Sinne verletzbare Gefühlswelt, die den meisten Patienten zu Eigen ist und die - da haben Psychologen gute Forschungsarbeit geleistet - oft durch frühe Stress- und Schmerzerfahrung verstärkt wurde. Mittels Positronenemissionstomographie konnte nachgewiesen werden, dass identische Hirnregionen (z. B. anteriorer zingulärer Kortex) für die Schmerz- und Stressverarbeitung verantwortlich sind. Zusammenhänge sind dem Betroffenen dabei natürlich nicht bewusst und sollten daher vorsichtig erarbeitet werden.

Frühe Leistungsanforderungen („ich musste immer stark sein”) erschweren zusätzlich den Zugang zum Patienten, da ihm damit auch das Empfinden für die eigene Befindlichkeit und die Körperwahrnehmung abhanden gekommen ist. Eine gewisse Entfremdung zur eigenen Person äußert sich auch und gerade in weiteren oft sportlichen und beruflichen Hochleistungen, da die Patienten oft von klein auf gelernt haben, ihr Selbstbild mit Leistung zu verknüpfen. Meist wurden sie nicht gefragt, Alternativen boten sich nicht. Jede Form der Schuldzuweisung ist daher nicht nur kontraproduktiv, sondern auch unangebracht. Ich sehe also oft sensible, sportliche und stressempfindliche Menschen, die am CRPS erkrankt sind, und die ansonsten aber viele individuelle wertvolle Eigenschaften aufweisen. Unabhängig davon halte ich eine gewisse genetische Veranlagung für die hohe Empfindsamkeit nicht für ausgeschlossen.

Welche Verhaltensweisen sind Therapeuten nicht zu empfehlen, um CRPS-Patienten weiterzuhelfen?

Die große Problematik in der Therapie entsteht erst durch die oft übliche Negativwertung und Stigmatisierung des Betroffenen als „Psycherl” oder „Schwächling”, der ja nur „katastrophisiert!” Respektlosigkeit, Schuldzuweisung und Psychologisierung sollten besonders angesichts tragischer und verheerender Krankheitsverläufe mit komplettem Funktionsverlust und bleibenden schweren Schmerzen (auch und besonders bei jungen Menschen) tunlichst vermieden werden. Auch Bevormundung bei den meist sehr verunsicherten Betroffenen führt häufig zu dem Phänomen des Doktorshopping, dass ja immer eine Konsequenz inadäquater Therapie ist.

Wie bei Herzinfarkt oder Magengeschwür niemals die psychische Stresssituation als Auslöser vergessen werden sollte, so ist das CRPS vergleichbar schwerwiegend in seinen Konsequenzen wie körperlicher Funktionsverlust und chronisches Schmerzsyndrom. Invalidisierung, sozialer Abstieg, Verzweiflung und Isolation sind weitere verheerende Folgen, die vom Therapeuten in der Tragweite nicht bagatellisiert werden sollten.

Wie gehen Sie im Umgang und Gespräch mit dem Betroffenen vor?

Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung und Bewältigung der Krankheit habe ich eine bestimmte Strategie im Umgang mit dem Betroffenen entwickelt:

Bereits bei der Begrüßung achte ich auf eine entspannte Atmosphäre, ein freundliches Lächeln mit Handschlag. Ohne Schreibtischbarriere wende ich mich dem Patienten zu, bekunde Interesse, ermutige durch Nicken und Augenkontakt. Da gerade CRPS-Patienten oft eine wahre Odyssee hinter sich haben, Negativerfahrungen mitbringen und bei erhöhter Verletzbarkeit auch über geringe Frustrationstoleranz verfügen, ist jede Form der Ermutigung und Akzeptanz hilfreich, um das Wichtigste in der Kommunikation zu schaffen, nämlich Vertrauen. Nur mit Vertrauen ist es möglich, den Patienten in seiner Ausnahmesituation auf dem schwierigen Weg der Selbsterkenntnis und Selbstheilung zu begleiten. Um eventuelle Zusammenhänge zu früherer Traumatisierung zu erarbeiten, benötige ich zudem Zeit und Geduld. Anschließend befasse ich mich sachlich mit der Diagnostik, frage nach Allodynie, Schmerzgrad, Überwärmung, Fremdkörpergefühl, trophischen Störungen und prüfe die Bewegungseinschränkung (siehe Diagnosekriterien nach Brühl). Da das CRPS eine klinische Diagnose darstellt, ist Röntgen und Drei-Phasen-Szintigramm zwar hilfreich, aber nicht obligat. Vorsichtiger Umgang mit der schmerzenden Extremität ist selbstverständlich. Steht die Diagnose CRPS fest, informiere ich den Patienten über die komplizierten Zusammenhänge, also Nervenschädigung mit Entzündung durch Ausschüttung von Botenstoffen, dadurch Verstärkung der Schmerzweiterleitung und Koppelung an Sympathikusfasern und Berührungsnerven, dann Schmerzverstärkung durch biochemische Vorgänge auch im Hinterhorn des Rückenmarkes und veränderte Verarbeitung im Gehirn mit Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses. Frühe Schmerzerfahrung als Verstärker wird ebenfalls erwähnt. Jetzt wird ein Therapieplan zusammen mit dem Patienten erarbeitet.

Wie muss eine Therapie Ihrer Meinung nach aussehen, um erfolgreich zu sein?

Je früher und vielseitiger der Ansatz, desto besser die Heilungschancen.

Schmerztherapie nach dem WHO-Schema, frühzeitiger Einsatz auch von Opiaten oder/und Gabapentin oder Pregabalin, Begleitmedikation mit Antidepressiva, frühzeitiger Einsatz von Sympathikusblockaden. Individuelle Therapie je nach Alter, Mobilität und Begleiterkrankungen. Physiotherapie nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Physiotherapie. Lymphdrainagen, Hydrotherapie, vorsichtige Kühlung, Hochlagern, Üben mit Raps.

Meines Erachtens wird in Deutschland immer noch zu lange ruhig gestellt, was der Einsteifung Vorschub leistet. Extreme Therapie mit Mobilisierung ohne Schmerztherapie ist angesichts schwerer neuropathischer Schmerzen aber schlichtweg inhuman.

Als dritter wichtiger Aspekt ist die Verhaltenstherapie anzusehen. Auch hier ist ein multimodaler Ansatz Erfolg versprechend:

Entspannungsverfahren nach Jacobson „Vergeben lernen”, da oft ein versteckter Groll zu erneuter Anspannung führt „Grenzen erkennen und setzen” für sich selbst und andere „Genusstraining” im Sinne einer positiven Lebensgestaltung Verbesserung des „Ich-Bildes”, das heißt, einen guten Umgang mit der eigenen Person lernen, Überforderungen vermeiden, von außen kommende Verletzungen abwehren Ablenkung, um Schmerzen weniger stark wahrzunehmen.

Damit die unbedingt nötige Aktivität für die Physiotherapie erhalten bleibt, und zur Abmilderung einer posttraumatischen Belastungsstörung, kann ein Serotoninwiederaufnahmehemmer unterstützend eingesetzt werden.

Als Merkhilfe für die Behandlung der CRPS habe ich ein neues Wortspiel gewählt:

Was kann der Patient dabei selbst tun?

Die Aktivität des Patienten ist unabdingbare Voraussetzung für den Heilungsverlauf. Zunächst steht aber im Vordergrund die Akzeptanz der Krankheit und ein Annehmen der eigenen Person. Ich empfehle dazu gerne Ihr Buch „Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen”. Der Patient muss die Chance bekommen, sein Selbstwertgefühl zu stärken, d. h. Zuversicht und ein positives Lebensgefühl zu bekommen. Dies ist besonders wichtig, da die CRPS-Patienten durch Schmerzen, Funktionsverlust und Unverständnis von Seiten der Therapeuten oft sehr verunsichert sind. Um jeder Opfermentalität entgegenzutreten, fordere ich immer die aktive Mitarbeit des Patienten, der lernen muss, dem Teufelskreis aus Angst, Anspannung; Stress, Sympathikusaktivirung, Koppelung an die Schmerzspirale durch Entspannung, Medikamente, geeignete Physiotherapie und nicht zuletzt eine erlernbare positive Lebenseinstellung entgegenzuwirken.

Schließlich muss der Betroffene nach Alternativen in seiner veränderten Lebenssituation suchen, die ja oft auch eine deutlich eingeschränkte Mobilität bedeutet. Mir ist aufgefallen, dass sehr viele CRPS-Patienten außerordentlich tierlieb und naturverbunden sind, was sich wahrscheinlich mit ihrer sensiblen Antenne für das Lebendige erklären lässt. Oft lässt sich auch ihre Kreativität ausbauen und stärken!

Wie haben Sie die Krankheit persönlich erlebt und welchen Wunsch haben Sie vor allem an Therapeuten?

Die Krankheit war die härteste und längste Prüfung meines Lebens, sie hat zweieinhalb Jahre gedauert. In einer Zeichnung (Abb. [2]) habe ich versucht, Empfindungen und Einschränkungen darzustellen. Seit über drei Jahren bin ich schmerz- und beschwerdefrei und engagiere mich für eine frühzeitigere Diagnostik, adäquate Schmerztherapie und einen verständnisvollen und respektvollen Umgang.

Wie können Patienten und Interessierte Sie erreichen?

Über meine Adresse.

Abb. 2

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Gaby Haitzer

Hirschau 6

83355 Grabenstätt

    >