PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(1): 93-94
DOI: 10.1055/s-2004-834663
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was brauchen Schmerzpatienten?

Marianne  Koch im Gespräch mit Hanne  Seemann
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Publication Date:
24 March 2005 (online)

Hanne Seemann: Liebe Marianne, du stehst seit 1997 an der Spitze der Deutschen Schmerzliga, der größten deutschen Organisation für Schmerzkranke. Wie kamst du dazu?

Marianne Koch: Ich kam Mitte der Neunzigerjahre zum ersten Mal mit der Schmerzliga in Verbindung, als ich neben meiner Praxis Studioredakteurin beim „Medizin Magazin” des WDR war. Damals hatten wir „Schmerz” als Schwerpunktthema und eine Reihe von Experten und Patienten ins Studio eingeladen. Ich erinnere mich, dass ich mich ziemlich geschämt habe, als Internistin so wenig über das Phänomen Schmerz sowie über die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der Schmerzkrankheit zu wissen. Gleichzeitig wurde mir klar, dass wir alle in unserem Studium fast nichts darüber erfahren hatten.

Meine Patienten überwies ich zwar, wenn es um ein chronifiziertes Krankheitsbild ging, zu Schmerztherapeuten, aber es hätte mir sehr geholfen, mehr darüber zu wissen.

Ein Jahr später zog sich die damalige Präsidentin der Schmerzliga aus Altersgründen zurück und meine Freunde aus der Sendung fragten mich, ob ich nicht deren ehrenamtliche Position übernehmen und sozusagen als Galionsfigur an die Spitze der Liga kommen könnte. Ich habe die Entscheidung nie bereut, obwohl die Sache mit deutlich mehr Arbeit und Zeitaufwand verbunden ist, als ich damals ahnte.

Du bist eine „spätberufene” Ärztin. Obwohl du ganz jung mit dem Studium begonnen hattest?

Ja. Ich habe erst im zweiten Anlauf mein Medizinstudium beendet. Zwischen dem Physikum und der Wiederaufnahme des Studiums lagen 20 Jahre Filmkarriere, viel Fernsehen - zum Beispiel „Was bin ich” - und ein völlig anderes Leben. Immerhin war mir in all diesen Jahren klar, dass ich eigentlich, trotz aller Erfolge, im falschen Beruf war und unbedingt wieder zurück zur Medizin gehen wollte. Du kannst dir ja vorstellen, was es bedeutete, mit meiner damaligen Popularität wieder im Hörsaal aufzutauchen und mit um 20 Jahre Jüngeren auf der Bank zu sitzen. Nach außen hin cool, mit flatterndem Selbstbewusstsein, aber auch mit einem großen Glücksgefühl: Medizin, da bin ich wieder!

Es ging dann aber alles sehr gut. Drei Jahre später machte ich Staatsexamen.

Ich erinnere mich übrigens noch an meinen ersten schweren Schmerzfall, eine Patientin mit einem Pankreaskarzinom im terminalen Stadium. Und wie ich sie, der amerikanischen Literatur folgend, mit adäquaten Dosen von retardierten Morphinen versorgte, damit sie so lange wie möglich ein gutes Leben zu Hause bei ihrer Familie führen konnte. Prompt bekam ich dann ein unverschämtes Schreiben der Deutschen Opiumstelle, in dem mir vorgehalten wurde, die Patientin auf diese Weise doch abhängig zu machen! Sie drohten mir sogar mit einem Verfahren zum Approbationsentzug. Unglaublich, nicht wahr? Ich schickte darauf einen noch gröberen Brief und viele Auszüge aus amerikanischen Lehrbüchern an diese Behörde und habe dann nie wieder etwas von ihr gehört.

Hast du persönliche Erfahrungen mit Schmerzen?

Außer den „normalen” wie Geburten oder einem Knöchelbruch eigentlich nicht. Allerdings - man hat mich mal, das ist schon lange her, im Rahmen dieses berühmten Proustschen Fragebogens der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefragt, welche natürliche Begabung ich mir wünschte. Ich habe damals spontan „Schmerzen lindern” gesagt. Deshalb glaube ich, dass mich seelisches und körperliches Leiden eben doch von jeher beschäftigt hat und dass es deshalb kein reiner Zufall ist, wenn ich heute für die Schmerzliga arbeite.

Was sind die Ziele der Schmerzliga - was habt Ihr bisher erreicht?

Hauptziel ist es, die völlig unzureichende Versorgung der Schmerzpatienten in Deutschland zu verbessern. Du weißt ja, dass Schmerzdiagnostik und -therapie immer noch keine Pflichtvorlesung der deutschen Universitäten sind, dass das Thema auch nicht in die neue Approbationsordnung aufgenommen wurde, und dass deshalb auch die neue Generation der Ärzte die Unis ohne ausreichende Kenntnisse in der Schmerzbehandlung verlässt und verlassen wird. Eine traurige Bilanz!

Umso wichtiger ist es, dass die Patienten selbst aktiv werden und sich nicht länger mit Sprüchen wie „Da kann man nichts machen” oder „Schmerz ist eben schicksalhaft” abspeisen lassen. Die Schmerzliga versorgt diese Kranken mit Adressen von Experten, von Selbsthilfegruppen und von interdisziplinären Schmerzzentren, die vor allem für komplexe Fälle ein Segen sind.

Welche Rolle spielen in dieser Hinsicht die Öffentlichkeitsarbeit und die Medien?

Eine sehr große. Aufklärung, den Menschen Mut machen und sie aus ihrer oft jahrelangen Isolation herausführen - das empfinden wir als eine große Aufgabe. Glücklicherweise haben wir es, zusammen mit der Gesellschaft für Schmerztherapie, geschafft, dass immer mehr Verlagshäuser und TV-Stationen die Bedeutung des Themas erkannt haben. Ein Beispiel: Als wir neulich bei der Apotheken Umschau drei Stunden telefonische Fragen der Leser zum Thema Schmerztherapie beantworteten, war die Reaktion darauf überwältigend. 18 000 Leute hatten angerufen! Das hat auch die Zeitungsmacher sehr nachdenklich gestimmt und sie meinten danach, sie hätten nicht geahnt, wie groß das Bedürfnis der Patienten nach seriöser Information ist.

Selbstverständlich haben wir auch viele Initiativen gestartet, die die Gesundheitspolitiker für die Problematik der Schmerzpatienten sensibilisiert. Aber, seien wir ehrlich: Wir sind, trotz aller Erfolge der letzten Jahre, immer noch am Anfang mit unserer Aufklärungsarbeit.

Du hast die interdisziplinären Schmerzzentren erwähnt. Inwiefern ist dies ein Erfolg versprechendes Modell?

Es gibt, wie du weißt, eine Vielzahl von Studien darüber, dass die Therapie mit unterschiedlichen Ansatzpunkten gerade für langjährige Schmerzpatienten die größte Chance für eine Linderung ihres Zustands darstellt.

Warum, denkst du, ist es wichtig, dass der Patient mit einer chronischen Schmerzkrankheit auch von Psychologen behandelt wird?

Wir wissen, dass der chronische Schmerz eine Krankheit des ganzen Menschen ist. Schmerz erzeugt Depressionen, und zudem verändern psychische Befindlichkeitsstörungen die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung. Eine kompetente Therapie wird deshalb immer interdisziplinär erfolgen müssen: Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten und andere Experten haben gemeinsam eine viel größere Chance, festgefahrene Leidens- und Verhaltensmuster zusammen mit dem Patienten zu bearbeiten und zu ändern.

Was wünschen sich Ärzte von Psychotherapeuten?

Sie wünschen sich eine fachliche Unterstützung, die dem Patienten erlaubt, wieder Herr seiner Krankheit und nicht deren Sklave zu sein. Konkret wissen wir, dass gerade die Schmerzwahrnehmung eine Variable ist und eine entscheidende Rolle in der Bewältigung der Schmerzkrankheit spielt. Und dass psychologische Techniken wie Visualisierungen und Hypnotherapie einen erstaunlichen Einfluss auf das Schmerzempfinden haben. Noch wichtiger aber erscheint mir, dass der Patient durch solche oder ähnliche Methoden erfährt, dass er selbst Einfluss auf das Schmerzgeschehen nehmen kann, statt ihm hilflos ausgesetzt zu sein.

Dass daneben auch andere Regelkreise im Körper des Kranken wieder harmonisiert werden, dass sich Muskelverspannungen und andere psychosomatische Symptome bessern, kommt der allmählichen Erholung des Schmerzpatienten mit seiner chronischen Dysregulation aller Systeme zugute.

Was bedeutet eine psychologische Therapie für den Schmerzpatienten?

Patienten mit einer langen „Schmerzkarriere” haben in vielen Fällen die Hoffnung aufgegeben, dass ihnen geholfen werden kann. Sie haben erlebt, dass Berufskollegen, Angehörige und oft auch ihre Ärzte dem scheinbar unbeeinflussbaren Schmerzgeschehen hilflos und nicht selten mit latenten Aggressionen begegnen. Das Wichtigste für sie ist, aus der Situation der Hoffnungslosigkeit und der damit verbundenen Depression herauszufinden. Sobald sie durch psychologische oder psychotherapeutische Methoden erfahren, dass sie nicht in diesem „Käfig eingesperrt” oder in ihren „Schmerz eingemauert” bleiben - so die Schilderung der Patienten -, können sie sich wieder aktiv mit ihrer Krankheit und ihrem Leben auseinander setzen. Welche der möglichen Therapieformen dann im einzelnen Fall sich als die wirkungsvollste erweist - von Entspannungstechniken zu Musik-, Tanz- oder Hypnotherapie - wird der Behandler zusammen mit dem Patienten erst herausfinden müssen. Es ist ganz erstaunlich, wie durch solche Therapien die Einstellung des Patienten zu seiner Krankheit und zu deren Überwindung verändert wird. Nicht mehr ausgeliefert sein - das ist es, worauf es ankommt.

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