Psychiatr Prax 2004; 31(6): 320-321
DOI: 10.1055/s-2004-832270
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vollbeschäftigung - eine Utopie von gestern

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Publication Date:
25 August 2004 (online)

 

Eigentlich besprechen wir nur neuerschienene Bücher. Aber es gibt Ausnahmen. Vorubas "Alternativen zur Vollbeschäftigung" ist so eine: ein Buch, das auf den ersten Blick nichts mit Psychiatrie zu tun hat - aber nur auf den ersten Blick. Denn seit die Psychiatrie therapeutisch geworden ist, versteht sie sich auch als rehabilitativ: Berufliche Wiedereingliederung gilt nach wie vor als vorrangiges Behandlungsziel. Bis Mitte der 70er-Jahre war sie auch realisierbar. Seither sind wir mit wachsender Ratlosigkeit mit einer Arbeitswelt konfrontiert, die unsere rehabilitierten Patientinnen und Patienten nicht will.

Damit nicht genug. Daten aus Österreich und der Schweiz zeigen, dass zwei von fünf vorzeitige Invalidisierungen wegen psychischer Störungen erfolgen. Deshalb ist es an der Zeit, dass wir uns auf die Suche nach Alternativen zur Erwerbsarbeit suchen. Denn eines macht Vorubas Buch mit Nachdruck deutlich: dass eine Rückkehr zur Vollbeschäftigungsgesellschaft nicht stattfinden wird. Vollbeschäftigung, das war eine kurze historische Episode, die etwa von 1960 bis 1975 gedauert hat.

Davor haben Familien von verschiedenen Einkommensquellen gelebt. In Zukunft wird das wieder so sein. In Zukunft werden es nicht die selbst angebauten Kartoffeln, die eigenen Kaninchen sein, nicht die selbstverständliche Unterstützung der Eltern durch die Kinder: Es werden innergesellschaftliche Transfers sein, wie es sie heute bereits in hohem Maße gibt: Invalidenrenten, Sozialhilfe und Sozialhilfe zum Beispiel - oder verschiedene und vorübergehende Teilzeitjobs.

Eines der zentralen Probleme unserer Zeit, so Voruba, besteht aber darin, dass die Arbeitsgesellschaft, der die bezahlte Arbeit ausgeht, solche Alternativen über dem unrealistischen Dogma der Vollbeschäftigung abwertet, und jene die mangels Arbeit auf solche Transfers angewiesen sind stigmatisiert. Sie steht damit der notwendigen Transformation von Arbeit und Einkommen zur Post-Vollbeschäftigungsgesellschaft im Wege. Sie gefährdet damit langfristig nicht nur den sozialen Frieden; sie trägt zugleich auch zur dauerhaften Ausgrenzung jener sozial Schwachen bei, die den zunehmend rigorosen Anforderungen der Arbeitswelt nicht genügen. Und dazu gehören auch die psychisch Kranken und Behinderten.

Je weiter wir unsere rehabilitativen Anstrengungen verfeinern, je heftiger wir unsere Patienten auf das Therapieziel berufliche Wiedereingliederung einschwören, um sie dann im grauen Nieselregen der Realität stehen lassen, desto mehr Frust schaffen wir. Aber nicht nur das, durch unsere Blindheit gegenüber dem selbst konstruierten Double Bind schaden wir unseren Patienten. Auch wir brauchen Alternativen zur Vollbeschäftigung, zur bezahlten Arbeit. Unter diesem Aspekt lohnt es, in Vorubas Buch nicht nur zu blättern.

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