PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(4): 398-404
DOI: 10.1055/s-2003-45303
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Man kann nicht ständig nur der Helfer sein, ohne auch etwas für sich zu tun …”

Susanne  Schneider , Johannes  Ketteler , Artist  v. Schlippe
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Publication Date:
05 December 2003 (online)

Susanne Schneider ist Diplom-Psychologin und Mitarbeiterin im Krisenzentrum Dortmund-Hörde. Johannes Ketteler ist Diplom-Sozialpädagoge und Leiter der Einrichtung.

PiD: Herzlichen Dank, dass Sie bereit sind, Ihre Einrichtung, das Krisenzentrum Dortmund vorzustellen. Wenn ich mich recht erinnere, hieß es früher einmal „Krisen- und Kontaktzentrum Hörde”, was hat sich da geändert?

J. Ketteler: Das war früher mal, das ist Geschichte. Heute ist es das Krisenzentrum Dortmund. Das Krisen- und Kontaktzentrum war ursprünglich von der Idee getragen, im klassischen Sinn gemeindepsychiatrisch tätig zu werden, also Versorgungssektoren zu entwickeln, stadtteilorientiert zu arbeiten usw. Die Dinge haben sich anders entwickelt, und so ist das Krisenzentrum Dortmund als Beratungsstelle heute für die gesamte Stadt zuständig. Wir verstehen uns heute als eigenständiger Fachdienst der Krisenversorgung mit einem eigenen Standard.

PiD: Wie ist es dazu gekommen?

J. Ketteler: Wir sind in diesem Jahr im 25-jährigen Bestehen. Hier am Krankenhaus Bethanien wurde danach gesucht, für Menschen, die in suizidalen Situationen oder nach Suizidversuch im Krankenhaus versorgt wurden, etwas anderes anzubieten als die klassische psychiatrische Versorgung. So entstand eine zur damaligen Zeit bundesweit einmalige integrierte Einrichtung, ambulant und stationär, mit einer Beratungsstelle für Menschen in akuten Lebenskrisen, in psychiatrischen Krisen oder Notfällen, besonders in suizidalen Situationen. Diese Beratungsstelle war direkt mit einer kleinen Station verbunden, bewusst nicht psychiatrisch, sondern in einem Allgemeinkrankenhaus. Dies bot die Möglichkeit, im Rahmen von Krisenintervention Rückzugsmöglichkeiten zu haben, sich also stationär zu stabilisieren. Das war die Gründungsidee, die sich bis 1999 gehalten hat. Damals wurde aus finanziellen Gründen die Station geschlossen und das Krisenzentrum musste sich neu strukturieren und den ambulanten Bereich der Krisenversorgung ausweiten.

PiD: Ist das jetzt eine Verschlechterung?

S. Schneider: Das ist im Sinne der Standards von Krisenversorgung eine Verschlechterung. Wir sind dabei, in einem Kooperationsmodell wieder ärztliche und psychiatrische Kompetenzen neu im Krisenzentrum zu etablieren.

PiD: Sie haben sich sozusagen von einer integrierten zu einer komplementären Institution gewandelt, und nun müssen ganz neue Kooperationsmodelle entwickelt werden. Passt denn dann die Frage nach Ihrem Konzept überhaupt noch, oder ist das gerade im Umbruch?

J. Ketteler: In den letzten 4 Jahren, nachdem die Station geschlossen wurde, hat sich die Beratungsarbeit ganz auf die Ambulanz konzentriert. Wir arbeiten nach einem bestimmten Terminvergabeverfahren. Personen, die bei uns anrufen und in einer Krisensituation sind, bekommen in aller Regel einen Termin innerhalb von drei Tagen. Es gibt aber auch Krankenhäuser und besondere Kooperationspartner wie die Polizei, für die wir immer noch einen Notfalltermin anbieten, wenn möglich, noch am selben Tag.

PiD: Wie sieht ein Krisenbetreuungsverlauf aus?

J. Ketteler: Es gibt, wie gesagt, an jedem Arbeitstag Krisentermine. Darüber haben wir natürlich noch die weiterführenden Gespräche. Wir führen Erstgespräche und bieten dem Klienten in aller Regel noch 4, 5 oder 6 Folgetermine an. Wir entscheiden dann gemeinsam mit dem Klienten, wobei der Klient selbst natürlich der wesentliche Entscheidungsträger ist, wie lange die Krisenintervention dauern wird. Manchmal reicht schon ein Gespräch oder man entwickelt weiterführende Ideen, an welche Adressen sich die Person wenden kann. Oft aber führen wir noch Folgegespräche. Manchmal sind die Termine ganz eng gesteckt und manchmal erstrecken sie sich über relativ lange Zeiträume. Grundsätzlich ist es auch so, dass es noch einen gewissen Spielraum gibt, wenn dieses Kontingent an Terminen nicht ausreicht.

PiD: Wo sehen Sie den entscheidenden Unterschied zwischen Krisenintervention und dem klassischen psychotherapeutischen Vorgehen?

S. Schneider: Zum einen ist es die Zeitbegrenzung, zum anderen auch, dass wir sehr schnell einen Termin anbieten können. Das ist mit Sicherheit ein Unterschied, das ist auch die Rückmeldung, die wir von den Klienten bekommen: „Das dauert ja ewig lange, bis man bei einem Psychotherapeuten einen Termin bekommt!” Hinzu kommt, dass die niedergelassenen Kollegen Krisenintervention nicht abrechnen können. Diese Lücke füllen wir mit dem Krisenzentrum.

PiD: Das führt direkt zu der Frage nach der Finanzierung.

S. Schneider: Wir sind formal eine Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle. Der Träger ist die Ev. Krankenhaus GmbH, hier im Speziellen das Krankenhaus Bethanien. Das ist eine interessante Struktur, der Träger kommt aus dem medizinischen Bereich, wir haben aber Refinanzierungsstrukturen aus psychosozialen und aus medizinischen Bereichen. Wir sind also nicht klassisch im Wohlfahrtsbereich eingebunden, sondern stehen als Beratungsstelle mit einem Bein im psychosozialen und mit dem anderen im medizinischen Bereich. Das ist ein Spannungsfeld, das auch manchmal weh tut.

PiD: Wenn der Spagat zu groß wird...

J. Ketteler: Genau, zum einen ist der Spagat groß auf der formalen Ebene, wenn es um die Refinanzierung geht, aber er ist auch inhaltlich sehr groß. Wir sind im Augenblick dabei, Verhandlungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung zu führen, und zwar darüber, dass bestimmte Leistungen auch über die Kassen refinanziert werden im Sinne von Krisenversorgung. Da spielen ganz verschiedene Stimmen mit unterschiedlichen Sprachen eine Rolle. Das Herausfordernde, manchmal auch das sehr Belastende ist, alles zu koordinieren. Krisenversorgung ist ja in keinem Bereich als eigenständiger Standard definiert. Alle machen Krisenintervention und Krisenversorgung, aber jeder im eigenen Bezugssystem, jeder versteht auch etwas ganz anderes darunter.

PiD: Sie sagen, ein eigenständiger Standard fehlt. Arbeiten Sie daran, diesen zu entwickeln?

J. Ketteler: Ja, wir erarbeiten mit anderen Krisenberatungsstellen zusammen Standards, die Krisenintervention als eigenständige Leistung definieren, so dass sie auch einmal als solche anerkannt werden kann. Das ist schwer, sehr schwer, weil darum gerungen wird, wer letztendlich die Deutungshoheit über bestimmte Begriffe hat. Das fängt schon bei der Definition an: Was ist denn eine Krise überhaupt, was verstehen eigentlich in den einzelnen Kontexten die Beteiligten darunter? Was ist ein Notfall? Da wird oft vieles durcheinander geworfen. Allein die Refinanzierungsstrukturen zeigen die Auseinandersetzungen, in denen wir mit unserem Angebot stehen.

PiD: Man muss also mit unterschiedlichen Geldgebern verhandeln und dabei die unterschiedlichen Ideen, was Krisen eigentlich sind, kennen und verstehen?

S. Schneider: Ja, der Arzt versteht etwas völlig anderes darunter, der beschreibt den psychiatrischen Notfall, die Polizei versteht etwas anderes darunter, die Feuerwehr oder andere Beratungsstellen wieder anderes - und dann kommen natürlich die Klienten mit ihren Ideen auch dazu.

PiD: Noch einmal zurück zu Ihrem Konzept: Wie sieht es mit der Erreichbarkeit aus? In den Niederlanden gibt es eine gesetzliche Regelung, nach der Krisendienste 24 Stunden am Tag ansprechbar sein müssen, wie ist es bei Ihnen? Wie sind Sie ausgestattet?

S. Schneider: Wir haben 46 Stunden Öffnungszeiten pro Woche von montags - freitags. Mittwochs und freitags arbeiten wir von 9 - 20 Uhr. An den anderen Tagen haben wir die üblichen Geschäftszeiten von 9 - 17 Uhr. Insgesamt sind wir 5 therapeutische Kolleginnen und Kollegen, die alle auf Teilzeitstellen arbeiten. Zusammen genommen haben wir drei Vollzeitstellen, wenn man das umrechnen würde.

PiD: Welche Berufsgruppen sind bei Ihnen tätig?

S. Schneider: Zwei Sozialpädagoginnen und drei Diplompsychologinnen arbeiten hier. Dann haben wir noch zwei Verwaltungskräfte, die dann aber auch in Teilzeit arbeiten. Allein daraus ergibt sich schon, dass wir eine 24-Stunden-Leistung überhaupt nicht erbringen können. Wir sind schon jetzt absolut an den Grenzen unserer Kapazität, wenn man Urlaubszeiten, Weiterbildung, Krankheiten usw. mit bedenkt.

PiD: Eine gesetzliche Regelung wie in den Niederlanden gibt es in Deutschland nicht, oder?

J. Ketteler: Nicht als verpflichtende Leistung. Berlin hat ein Landeskrisenkonzept, und dort gibt es tatsächlich einen Berlin-weiten Krisendienst, der 24 Stunden funktioniert, auch aufsuchend. In Berlin hat es auf Landesebene Vereinbarungen gegeben, die es ermöglichen, dass die unterschiedlichen bestehenden Einrichtungen der Krisenversorgung in Berlin sich zusammenschließen konnten und so ein komplementär vernetztes Modell bereitstellen. Das Modell ist auch in Dortmund gehört worden, die Dortmunder Lokal-Politiker sind nach Berlin gereist, aber der entscheidende Punkt, und der war auch in 25 Jahren nicht zu lösen, ist das Geld. Wir haben immer wieder versucht, ein aufsuchendes 24-Stunden-Modell zu entwickeln, es ist immer gescheitert an den Finanzen und an dem Gerangel der Zuständigkeiten. Es fehlt einfach ein einheitlicher Standard von Krisenintervention, weil jeder das Feld für sich besetzt.

PiD: Es fehlt ja auch eine verpflichtende gesetzliche Regelung.

J. Ketteler: Ja, es ist eine freiwillige Leistung! Ein Teil unserer Arbeit ist es daher, den Beteiligten immer wieder zu sagen: „Es ist kein Luxus, sondern zwingende Notwendigkeit, dass Kommunen solche Einrichtungen haben.” Wir müssen den Beteiligten deutlich machen, wie notwendig und wichtig das ist. Da sind die Rückmeldungen der Klienten für uns eine enorme Stärkung. Die beschreiben nämlich, wie wichtig und notwendig diese schnell zugängliche, begrenzt auf die Akutsituation fokussierte Arbeit ist. Wir erarbeiten im Augenblick eine Katamnese und erhoffen uns von dieser Rückmeldung eine Stärkung unserer Position.

PiD: Wäre denn aus Ihrer Sicht eine potenzielle Erreichbarkeit von 24 Stunden eigentlich auch unabdingbar?

S. Schneider: Ich würde mich da gar nicht auf die 24 Stunden konzentrieren, das wäre ein Idealzustand. Notwendig wäre aus unserer Sicht eine verbesserte Präsenz zu kritischen Zeiten, also in den späten Nachmittags- und frühen Abendstunden bis 24 Uhr. Das sind die wichtigsten Zeiten, das zeigen auch die Zahlen der Telefonseelsorge. Als Zweites natürlich das Wochenende, aber auch nur zu bestimmten Zeiten. Den Sonntagmorgen z. B. kann man vergessen. Aber wieder diese Zeiten 16 - 24 Uhr, das sind Zeiten starker Nachfrage.

PiD: Wenn ich zusammenfasse, könnte man sagen, da wäre eigentlich eine klare gesetzliche Regelung hilfreich, die einen Rahmen vorgibt, an dem sich Träger orientieren müssen?

S. Schneider: Ja, mit einem einheitlichen Standard, der aber weit über die Regelung der Zeit hinausgeht und diese komplex und komplementär vernetzte Leistung strukturiert. Krisenintervention ist immer Vernetzungsarbeit. Das braucht viele verschiedene Anknüpfungsangebote in der Versorgung. Andererseits machen wir in unserer Einrichtung auch die Erfahrung, dass eine erste Intervention oft schon gelungen ist, wenn die Klienten, die hier anrufen, einen Termin bekommen, selbst wenn es erst am nächsten Tag ist.

J. Ketteler: Es kommt noch etwas hinzu, was von der Qualität her ein ganz wesentlicher Faktor ist, und das ist, ein Angebot zu gestalten, das verlässlich ist, Verlässlichkeit ist in der Krisenversorgung, zentral. Wenn ich jemandem sage: „Ich kann heute nicht mit Ihnen sprechen, wir sind von den Terminen her voll, aber morgen können Sie zu den und den Zeiten kommen und ich habe eine Stunde Zeit für Sie!” ist das eine ziemlich machtvolle Intervention.

PiD: Eine Art Geländer.

J. Ketteler: Ja, das ist nämlich etwas Perspektivisches und in Krisensituationen ist ja das perspektivische Denken nicht mehr da. Die Leute stehen von der Dynamik her vor einer Wand, und wenn es da ein verlässliches klares Angebot gibt, auch am Telefon, dann ist das sehr hilfreich. Deswegen ist es wichtig, dass in der Krisensituation diese Sekundärleistungen abrechenbar sind! Auch eine professionelle Krisenpräsenz am Telefon kann man nicht beschreiben wie in einer normalen Praxis mit festen Sprechzeiten, wo dann jemand ans Telefon geht oder sonst der Anrufbeantworter läuft. Unsere Mitarbeiter sind geschult, bereits am Telefon professionell und deeskalierend zu agieren.

S. Schneider: An der Stelle möchte ich unserer Sekretärin ein großes Lob aussprechen. Sie hat u. a. eine klientenzentrierte Zusatzausbildung und darüber hinaus ein besonderes Geschick, den Erstkontakt gut zu gestalten.

PiD: Das zeugt von einem sehr großen Engagement - und ist ja besonders wichtig, weil die ersten Kontakte oft über das Sekretariat laufen.

S. Schneider: Ja, unbedingt!

PiD: Ich möchte noch einmal zurück zu den Rahmenbedingungen kommen. Wie viele Einwohner hat Dortmund?

S. Schneider: So um die 600 000.

PiD: Und Sie sind als einzige Stelle für diese 600 000 zuständig?

J. Ketteler: Wir sind der einzige Fachdienst ambulanter Krisenversorgung mit dem Schwerpunkt Versorgung von Menschen in suizidalen Situationen oder nach traumatisierenden Ereignissen in Dortmund. Und wo wir bei den Zahlen sind, möchte ich eine Entwicklung schildern, die wir beobachten: In den letzten Jahren hat die Nachfrage nach Krisenintervention rasant zugenommen, wir haben eine Steigerung der Anfragen um etwa 50 % gehabt! Ich nenne nur einmal die Zahlen für das Jahr 2002: Die Anzahl der Beratungsfälle stieg im Vergleich zum Vorjahr von 660 auf 756, die Gesamtzahl aller ratsuchenden Personen stieg um 24 % von 1164 auf 1440 Personen. Dabei ging es in 56 % der Beratungen unmittelbar um das Thema Suizid: um einen kürzlich zurückliegenden Suizidversuch, um Suizidgefährdung oder um Suizidalität eines Angehörigen oder Freundes.

PiD: Wie erklären Sie sich das?

J. Ketteler: Ich würde sagen, dass die Belastungen wesentlich zugenommen haben. Die Menschen, die zu uns kommen, kommen mit massiveren Problemen. Es sind zwei Bereiche, die sich hier verdichtet haben: einerseits brüchig erlebte soziale Beziehungen, Konflikte innerhalb der Familie und Vereinsamung, auf der anderen Seite massive sozioökonomische Probleme, Arbeitslosigkeit, und damit verbunden starke finanzielle Probleme. Ja, massive finanzielle Probleme sind deutlich mehr geworden.

PiD: Da ist dann das Krisenzentrum auch so etwas wie ein Seismograph für gesellschaftlichen Strukturwandel. Kann man das sagen?

S. Schneider: Ja, in Bezug auf die letzten Jahre kann man das sicherlich so sagen.

PiD: Die schwächsten Glieder der Gesellschaft zeigen die stärksten „Ausschläge”.

J. Ketteler: Ich würde es noch ein bisschen anders formulieren. Die Schwächsten sind immer noch schwach. Das hat sich, glaube ich, gar nicht so sehr verändert. Es gibt ein Klientel, das mit schon langjährigen psychischen Problemen mit chronifizierter psychischer Erkrankung kommt. Die sind relativ gut im Hilfesystem eingebunden. Was ich in meiner Arbeit festgestellt habe, ist, dass in der so genannten Mittelschicht die Konflikte, die Probleme zugenommen haben, massiver geworden sind. Einmal, wie schon gesagt, sind es die innerfamiliären Konflikte, die zunehmen. Ich denke an Eltern und ihre Probleme mit ihren heranwachsenden Kindern, Jugendliche, die abrutschen, wo sich dissoziale Phänomene in eigentlich ganz stabilen Familien zeigen! Und die Familien haben heute weniger Ressourcen, mit diesen schwierigen Lebensabschnitten umzugehen. Man kann sagen, das Potenzial zur Bewältigung von Veränderungskrisen hat erkennbar abgenommen.

PiD: Sie haben gesagt, Sie haben besonders häufig mit Suizidalität zu tun. Gerade bei chronifizierten psychischen/psychiatrischen Erkrankungen haben wir es ja mit Krisen zu tun, die eine kontinuierliche Betreuung erfordern, also etwas ganz anderes als eine Kurzzeitintervention. Wie steht es mit diesem Klientel?

J. Ketteler: Ja, die kommen auch, und wir fühlen uns auch zuständig für sie, das Problem ist, dass wir im Augenblick die Ressource dafür gar nicht haben.

PiD: Heißt das, Sie müssen auch Leute ablehnen?

S. Schneider: Nein, wir lehnen niemanden ab, gerade Menschen mit psychiatrischen Krisen nicht. Aber wir prüfen, wenn Leute über Jahre hinweg immer wieder kommen, ob wir nicht auch andere Ansprechpartner mit einschalten - nicht in dem Sinne, dass wir sie abschieben, sondern dass wir für ein langfristig gutes Unterstützungsangebot sorgen. Natürlich sind wir in der Krisensituation trotzdem immer auch für diese Menschen da.

J. Ketteler: Wir lehnen niemanden ab, das möchte ich noch einmal unterstreichen! Zu uns kann jeder kommen, der von sich sagt: „Ich bin in der Krise” oder bei dem Überweiser sagen: „Der ist in einer Krise oder Notfallsituation.” Wir versuchen in unserer Arbeit erst einmal die Situation offen zu halten, machen keine große Bewertungen, sondern wir sagen erst einmal: „Kommen Sie zu uns und wir klären in einem ersten Gespräch ab: Was ist die Situation?” Daher kommen natürlich auch Menschen in psychiatrischen Krisensituationen. Da versuchen wir dann aber im Rahmen von Vernetzung und Kooperationen die notwendige Weiterverweisung zu organisieren.

PiD: Da ist dann ein großer Teil Ihrer Arbeit das Vermitteln.

J. Ketteler: Ja, auch die Anbindung an das etablierte psychiatrische Versorgungssystem. Da wir ein niederschwelliges Angebot machen, kommen auch Leute hierher, bei denen man eine tief greifende Störung vermuten könnte, die aber eine hohe Hemmschwelle haben, sich Unterstützung zu holen oder noch gar kein Krankheitsbild für sich haben. Was uns dann häufig gelingt, ist, diese Menschen an das Versorgungssystem anzukoppeln, ohne dass es zu Zwangsmaßnahmen kommt. Das ist unsere Stärke, dass wir sehr viel Kompetenz haben, eskalierte Situationen zu deeskalieren, die Menschen ein bisschen „runter zu holen” und dann mit ihnen zu überlegen: „Wo ist jetzt eine gute Anbindung?” Da kommt es nicht so zu diesen eher kritischen Zuweisungen. Das haben auch die Berliner beschrieben: Durch Krisenintervention gibt es nicht weniger Zuweisung in das psychiatrische Versorgungssystem, die Rate geht nicht herunter, aber die Qualität der Zuweisung hat sich verbessert! Wie die Leute in die Psychiatrie gehen, hat sich verändert, und wenn sie anders in die Psychiatrie gehen, dann verläuft auch der Interventionsprozess dort anders.

PiD: Das ist ja interessant, denn das berührt die Frage, auf der Basis welchen Kontraktes man arbeitet: Wie ist die Auftragskonstellation, wie kriegt man ein gutes „Contracting” hin mit den Klienten. Das ist ja ganz entscheidend für die Kooperation und natürlich auch für das Ergebnis. Und Sie sorgen als Vermittler dafür, dass es eine gute Passung zwischen Angebot und Nachfrage, zwischen Auftrag und Auftragsannahme gibt, zwischen den Patienten und den weiter versorgenden Institutionen.

J. Ketteler: Gerade wenn man Krisentheorien betrachtet, weiß man ja, dass neben der Disposition des Patienten oder Klienten die akute Intervention in der Krise einen großen Einfluss hat auf den Verlauf. Es ist nicht egal, wer da agiert, sondern wer was tut in der Akutsituation. Das wirkt sich auf den weiteren Verlauf aus. Wenn ich eher direktiv oder defizitorientiert schaue, gibt es einen ganz anderen Verlauf, als wenn ich - so wie wir es hier tun - ressourcenorientiert und lösungsorientiert arbeite und versuche, nach Möglichkeit den Betreffenden, auch wenn sie massiv belastet sind, die Verantwortung zu überlassen. Insbesondere hierbei haben unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine sehr hohe Kompetenz: Wir halten die Situation in der Krise offen und bemühen uns, die Verantwortung bei der Person zu belassen. Gleichzeitig müssen wir natürlich das Gefährdungspotenzial abschätzen. Das erfordert von den Therapeuten ein hohes Maß an Erfahrung, an Verantwortung. Aber wenn das gelingt, ist der Prozess der Krisenbewältigung kürzer, und die Betreffenden nutzen auch eher ihre eigenen Ressourcen anstatt zu sagen: „Lieber Gott, ich bin doof, ich lasse mich fallen!” - denn so kommt es zu Drehtüreffekten.

S. Schneider: Das ist sicherlich auch nicht alles. Eine ganz wesentliche Grundvoraussetzung ist, die Person, die in ihrer Krise zu uns kommt, zu würdigen und wirklich ernst zu nehmen, weswegen sie kommt.

PiD: Also eine Anliegenorientierung zu verwirklichen?

S. Schneider: Es geht darum, erst mal ganz genau hinzugucken, was los ist, und dann kann man den Blick auch wirklich gut in die andere Richtung drehen. Für mich ist es das Zentrale, eine gute Beziehung herzustellen, das ist für mich die absolute Grundlage. Dazu gehört für mich, die Person ernst zu nehmen, zuverlässig zu sein und ihr die Unterstützung zu geben, die sie braucht.

PiD: Das scheint mir ein sehr integrativer Anspruch zu sein, der sicher unabhängig von jeder theoretischen Orientierung zu verwirklichen ist. Hier würde mich interessieren, wie Sie Ihre Arbeit konkret inhaltlich beschreiben. Sie, Frau Schneider, haben eine verhaltenstherapeutische Ausbildung und Sie, Herr Ketteler, eine systemische. Arbeiten Sie sehr unterschiedlich? Würde ich das als Beobachter sehen: Aha, da ist die Verhaltenstherapie-Handschrift, da ist die systemische Handschrift, oder würde ich eher Ähnlichkeiten entdecken?

J. Ketteler: Ich würde sagen, Sie würden viele Ähnlichkeiten entdecken. Das hat mit den Rahmenbedingungen zu tun. Man steht vor einem akuten Problem, ist gezwungen, einfach etwas zu machen, und so verbindet man dann auch verschiedene Zugänge und macht etwas Integratives draus. Allein die Rahmenbedingungen verlangen das:

schnelle Erstgespräche am Anfang, Abschätzung des Gefährdungspotenzials, notwendige Diagnostik, Screening: Was ist jetzt angezeigt in der Situation für den Betreffenden, Konzentration auf 5 Gespräche in der Krisenintervention.

Da spielt dann die „Schule” keine wesentliche Rolle mehr.

PiD: Das Vorgehen ist also zumindest anfangs stark durch die Anforderungen der jeweiligen Situation bestimmt?

J. Ketteler: Ja, das wesentliche Element ist, wie schon gesagt, die Beziehungs- und Kontaktgestaltung. Wie kriege ich zu dem Menschen, der in einer akut schwierigen Situation ist, der eine akute traumatische Belastungsreaktion zeigt oder in einem akuten Familienkonflikt steht, in einer Gewaltsituation, wie kriege ich zu dem einen guten Kontakt? Das ist das Erste. Das Zweite, was uns hier verbindet, ist eine starke Lösungsorientierung, also weniger in die Vergangenheit zu schauen, sondern darauf: Was sind die Kompetenzen, was sind die sozialen Ressourcen, die eigenen inneren Ressourcen, die zu aktivieren sind in einer Krisensituation? Der nächste wichtige Schritt besteht in der Erweiterung der Sichtweise. Wir arbeiten darauf hin, dass neue Informationen gewonnen werden. Denn die Krisensituation, die zugespitzte Situation, ist geprägt von Einengung und davon, dass vorhandene Ressourcen nicht mehr wahrgenommen werden.

S. Schneider: Wir haben schon unterschiedliche Sichtweisen, aber gerade das ist hilfreich, weil wir uns häufig über den Beratungsverlauf austauschen. Für mich ist das bereichernd, etwa von meinem systemischen Kollegen vorab Ideen zu bekommen, ganz andere Fragen mitzukriegen usw. Die habe ich zwar inzwischen auch verinnerlicht, aber über den Austausch wird das noch mal geweckt und kann in meine eher kognitiv verhaltenstherapeutische Ausrichtung einfließen.

PiD: Ein Verhältnis von wechselseitiger Anregung?

S. Schneider: So sehe ich das.

J. Ketteler: Auch von Auseinandersetzung! Aber es ist sehr anregend, wobei der Austausch eigentlich zu kurz kommt. Wir sind so damit beschäftigt, diese Art der Arbeit zu erhalten und zu strukturieren, auszubauen, dass im Alltag das andere oft zu kurz kommt.

S. Schneider: Es muss einfach viel Zeit und Kapazität für Vernetzungsarbeit aufgewendet werden. Neben der regulären Arbeit heißt das Teilnahme an Projekten und Wahrnehmung von Außenterminen.

PiD: Das ist ein Bereich, den ich noch ein wenig genauer ansprechen möchte. Wie sieht die Kooperation mit anderen psychosozialen Einrichtungen aus?

J. Ketteler: Wir kooperieren mit sehr unterschiedlichen Einrichtungen, aber die Kooperation ist durchaus manchmal schwierig. Ich sehe da ein Handicap in der Außenwahrnehmung von Kriseninterventionseinrichtungen. Sie wurden ja vielfach vor 25 Jahren oder noch früher gegründet, als das psychiatrische Versorgungsnetz noch nicht so dicht war wie heute. Damals wurden Kriseninterventionseinrichtungen oft als institutionalisierte Kritik an dem bestehenden Versorgungssystem angesehen.

PiD: Das war der kritische gemeindepsychiatrische Anspruch?

J. Ketteler: Ja, und das hängt den Einrichtungen heute noch nach. Die Kooperation gerade mit psychiatrischen Bereichen ist oft nicht leicht. Aber sie wird besser! Die Kooperation mit Bereichen wie Allgemeinärzten, Gynäkologen z. B. ist ausgezeichnet. Diese sind im Allgemeinen sehr offene Ansprechpartner, aber auch Krankenhäuser, Intensivstationen, Polizei. Gerade bei der Polizei hat sich im Bereich Opferschutz, im Umgang mit Menschen, die traumatisiert wurden, sehr viel getan.

PiD: Gehen Sie manchmal auch mit Polizisten zusammen los und überbringen Todesnachrichten oder dergleichen?

J. Ketteler: Das ist nicht unsere Aufgabe, das macht eher die Notfallseelsorge.

PiD: Sie haben ausschließlich eine Komm-Struktur!

J. Ketteler: Genau!

PiD: Wie sieht die Kooperation mit niedergelassenen Psychotherapeuten aus? Das ist ja sicher eher eine Gruppe, an die Sie auch weiter verweisen, oder?

J. Ketteler: Oder umgekehrt!

S. Schneider: Da das Psychotherapeutengesetz Krisenintervention nicht als abrechenbare Leistung gegenüber den Krankenkassen vorsieht, besteht hier eine Lücke, die wir mit unser Arbeit schließen - so weit möglich. Wenn Klienten den Wunsch nach einer längerfristig angelegten Psychotherapie äußern oder wir den Eindruck gewinnen, dass ein solches Angebot sinnvoll wäre, erläutern wir die Zugangswege. Umgekehrt wenden sich aber auch immer wieder Personen an uns, die unsere Adresse von den niedergelassenen Kollegen haben.

PiD: Gibt es Wünsche, die Sie an die Verbesserung der Kooperation haben? Wo sehen Sie den größten Bedarf?

S. Schneider: Wenn ich etwas verbessern könnte, dann würde ich in erster Linie die Wartelisten der niedergelassenen Psychotherapeuten verkürzen, um den Klienten den Zugangsweg zur ambulanten Psychotherapie zu erleichtern. Ich weiß natürlich, dass das eine gesundheitspolitische Frage und nicht leicht zu lösen ist.

PiD: Dass es Ihnen leichter wird, jemanden direkt in eine Psychotherapie zu vermitteln und ihn nicht an der Warteliste abprallen zu lassen?

S. Schneider: Genau.

PiD: Noch ein anderer Punkt: Welche Rolle spielen Angehörige in der Krisenintervention?

S. Schneider: Es gibt viele Klienten, die Angehörige mitbringen, so dass wir dann Gespräche mit mindestens zwei Klienten führen. Es gibt auch die Situation, in der ich den Klienten frage, ob es Sinn macht, Angehörige mit einzubinden, aber die Entscheidung überlasse ich auf jeden Fall ihm oder ihr. Angehörige sind einerseits häufig wichtige soziale Ressourcen und können der Unterstützung oder Entlastung dienen, andererseits sind sie oftmals in das Krisengeschehen involviert und sind hilfreich bei der Klärung.

PiD: Wie steht es mit Jugendlichen?

J. Ketteler: Wir verstehen uns nicht als Kriseninterventionseinrichtung für Kinder. Bei Jugendlichen gibt es eine schwimmende Grenze. Wir haben für uns die Grenze so gezogen, dass wir sagen: Wer ab 18 zu uns kommt, ist bei uns richtig, sonst sind sie besser in der Erziehungsberatung oder der Akutsprechstunde aufgehoben. Wir haben natürlich auch aus diesem Bereich Anfragen, und wenn jüngere Klienten zu uns finden, beziehen wir in der Regel die Eltern mit ein, führen Familiengespräche usw.

PiD: Meine letzte Frage bezieht sich auf Selbsthilfe - und zwar für Klienten und auch für Therapeuten. Bieten Sie etwas an, koordinieren Sie Selbsthilfestrukturen, kooperieren sie mit Selbsthilfegruppen?

S. Schneider: In unserer Einrichtung haben wir keine Selbsthilfegruppen. Aber wir kooperieren eng mit der Dachorganisation der Selbsthilfegruppen in Dortmund, wir vermitteln unsere Klienten häufig in entsprechende Gruppen bzw. geben Ihnen die Anregung, sich an die Dachorganisation zu wenden.

PiD: Und wie sieht es mit Selbsthilfe, „Self-Care” für Sie aus? Wie werden Sie selbst mit den Themen fertig, mit denen Sie täglich konfrontiert werden?

S. Schneider: Wir haben ein sehr gutes Team von Therapeuten und Mitarbeitern Die gegenseitige Unterstützung ist sehr gut. Ich weiß ganz genau, dass ich in einer schwierigen Situation zu jedem meiner Kollegen kommen kann, um mich auszutauschen und mir Hilfe zu holen oder Freiraum zu schaffen. Darauf kann ich jederzeit vertrauen, und dieses Wissen macht schwierige Situationen deutlich leichter.

J. Ketteler: Das hat auch damit zu tun, wie die Arbeit hier innerhalb des Teams strukturiert ist, also wie Self-Care im Alltag funktioniert. In diesem Zusammenhang möchte ich unseren „Raum der Katharsis” erwähnen. Wir haben einen Sozialraum, in dem bestimmte Regeln herrschen, da darf man sein, wie man im Augenblick ist, da wird unzensiert geredet, und man kann sich spontan und schnell die Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen holen. Dieser Raum ist ein ganz wesentliches Element therapeutischer Selbsthilfe für uns, ein Raum, wo man in Alltagssprache die Dinge loswerden kann, und es gibt jemanden, der zuhört. Dann gibt es natürlich die Supervision, auch wenn diese leider sehr begrenzt ist. Und was wir noch versuchen aufrechtzuerhalten: eine bestimmte Feierkultur. Es gibt über das Jahr bestimmte Rituale, die das Team pflegt.

PiD: Es scheint jedenfalls gut zu funktionieren: Sie wirken beide nicht wie kurz vor dem Burn-out.

J. Ketteler: Nein, dabei mache ich das mittlerweile schon 12 Jahre! Aber es braucht den Ausgleich. Man kann nicht ständig Krisenintervention machen, gnadenlos nur der Helfer sein, ohne etwas für sich zu tun. Das funktioniert nicht! Wir sind sehr oft auch mit sehr hohen Erwartungen konfrontiert und manchmal muss man Menschen auch enttäuschen und die eigenen Grenzen nicht nur selbst anerkennen, sondern auch anderen deutlich machen. Grenzziehung ist ein ganz wichtiger Aspekt.

PiD: Das Thema Grenze ist ein guter Punkt, dieses Gespräch abzuschließen. Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen für dieses interessante Interview.

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