PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(4): 420-421
DOI: 10.1055/s-2003-45301
Im Dialog
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Brauchen wir noch eine Schule?

Antwort auf den Leserbrief von Klaus Lieberz (PiD 3/03, 313 - 314)Michael  Broda, Wolfgang  Senf
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Publication Date:
05 December 2003 (online)

Im letzten Heft (PiD 3/03) druckten wir eine Replik von Klaus Lieberz auf die von uns in Heft 2/03 veröffentlichten „Denkanstöße” ab. Zunächst danken wir ihm für diese ausführliche Stellungnahme und wünschten uns insgesamt aus dem Kreis unserer LeserInnen mehr Diskussion und Kritik an unseren Positionen.

Gleichzeitig macht uns eine solche Erwiderung nachdenklich, wenn unsere „Denkanstöße für eine Veränderung der psychotherapeutischen Praxis” nahezu ausschließlich als Angriff gegen die Psychotherapierichtlinien erlebt werden und wenn dann als unvermeidliche Folge die Gefahr eines „Wildwuchses” und „Eklektizismus” heraufbeschworen wird. Das ist das konservative Argument gegen jegliche Veränderung und Entwicklung. Die Psychotherapierichtlinien wurden von uns aus Anlass des neu erschienenen Kommentars lediglich als Aufhänger genommen, um eine kritische Betrachtung der psychotherapeutischen Praxis vorzunehmen.

Nach dem Inkrafttreten des PTG sind erfreuliche Veränderungen in der psychotherapeutischen Landschaft zu verzeichnen: Die Implementierung von Psychotherapie in der ambulanten Versorgung scheint dem Stellenwert der Problematik psychischer Erkrankung zwar noch nicht zu entsprechen, jedoch schon näher gekommen zu sein als ohne die gesetzliche Regelung. Die berufspolitischen Grabenkämpfe haben nachgelassen, vor Ort bilden sich gemeinsame kollegiale Supervisionsgruppen, ambulante Qualitätszirkel und Netzwerke. Immer, wenn wir auf Veranstaltungen zu einer besseren Kommunikation zwischen den „Therapieschulen” aufrufen, werden wir von der Wirklichkeit überrascht, die schon längst vielfältige Kontakte in der Praxis unter den Praktikern geschaffen hat. Dennoch erscheint es uns an der Zeit, zu manchen Aspekten dieser Praxis Denkanstöße zu formulieren, um einen Diskurs darüber zu führen, welche Antworten wir auf auftretende Probleme in der psychotherapeutischen Versorgung finden wollen.

In unserer Tätigkeit als Gutachter haben wir Kontakt zu einer Vielzahl von Anrufbeantwortern psychotherapeutischer Praxen. Der Satz: „Es sind zur Zeit leider keine Therapieplätze verfügbar” ist zu einem Standardsatz vieler Praxen geworden. Gerade in der Phase, in der die Kooperation vor Ort die grundsätzlichen berufspolitischen Kämpfe hinter sich gelassen hat, scheint die Beibehaltung des jetzigen Status quo ein versorgungspolitisches Unding. Man könnte natürlich auch den Schluss daraus ziehen, dass wir mehr niedergelassene KollegInnen bräuchten - dem wollen wir uns gar nicht entgegen stellen. Wir wollen aber auch darüber nachdenken, welche Veränderungen in unseren Praxen zu einer besseren und schnelleren Versorgung führen könnten.

Schaffung von Anreizen für Verkürzungen der Dauer von Behandlungen. Die momentane Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass die probatorischen Gespräche mit einem Punktwert ausgestattet sind, der nicht dazu anhält, viele neue Patienten zu sehen, um diesen Behandlungsempfehlungen zu geben. Nicht jede/r PatienIn, die/der sich bei uns meldet, ist mit Fachpsychotherapie am besten versorgt: Psychosomatische Grundversorgung, stationäre Psychotherapie, sozialpsychiatrische Versorgung, Beratungsstellen oder psychiatrische Behandlung stellen Behandlungsmöglichkeiten dar, die von uns in Erstgesprächen angedacht und eingeleitet werden können. Es bedeutet jedoch ein enormes Arbeitsaufkommen, einen Patienten möglicherweise „nur” an eine geeignetere Stelle weiter zu verweisen. Brief an den Einweiser, Telefonate und Überzeugungsarbeit beim Patienten sind Leistungen, die in diesem Zusammenhang kaum honoriert werden. Wo sind die Anreize für eine Behandlung mit weniger Sitzungen als den bewilligten? Wo Anreize für die zeitliche und niederfrequente Flexibilität in der Versorgung? Auch wenn der Autor der Replik hier Zustimmung signalisierte, bleibt offen, wie sich das erreichen ließe. Durch bessere Bezahlung der Kurzzeittherapie, durch eine degressive Honorierung bei Langzeitbehandlungen? Dazu würden uns Anregungen aus der Praxis interessieren. Eine Veränderung der Psychotherapierichtlinien wäre dazu nicht unbedingt nötig - ein Vorschlag, der dies zum Ziel hätte, wäre unseres Erachtens aber auch nicht unseriös.

Auflösung der sog. „Schulengebundenheit”. Hier tun wir uns mit dem Kommentar von Herrn Lieberz schwer, dass die Erfahrungen aus dem klinischen Bereich lediglich „zu bedenken” seien. Auch wenn es Mühe macht und nicht ganz so einfach ist, diese Erfahrungen in den ambulanten Bereich zu übertragen - so wie es mancherorts durchaus geschieht - sollten wir über mögliche Realisierungen intensiv nachdenken und das auch ausprobieren - so wie das überall in der Medizin üblich ist. Wenn TherapeutInnen mit ihren Interventionen aus unterschiedlichen Perspektiven zu ähnlichen Wirkergebnissen kommen oder vor ähnlichen Problemen in Therapien stehen, so darf die Frage erlaubt sein, wie viel Wirkvarianz durch das Theoriemodell oder die Schulengebundenheit erklärt wird oder ob wir nicht andere Wirkfaktoren konstatieren müssen, wie Grawe dies seit längerem vorschlägt. Dabei interessiert uns die Frage, wie wir uns es erklären können, dass ein Vertreter einer unterschiedlichen Grundorientierung im praktischen Handeln zu ähnlichen Ergebnissen kommen kann wie wir selbst. Akzeptieren wir dies, so müssen wir unsere Modelle und Theoriegebäude ändern oder erweitern.

Die bescheidene wissenschaftliche Datenlage. Diese besteht zweifelsohne. Auch wenn wir Verfechter einer Evidence based Psychotherapy sind, wird hier möglicherweise das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Unsere empirische Therapieforschung untersucht in der Regel das, was an Theoriemodellen an Lehrstühlen und in Ausbildungsinstituten erarbeitet wird. Ein Interesse an Fragestellungen, die eine Kombination von Verfahren untersuchen, muss erst noch geweckt werden. Warum führen wir keine klinische Forschung durch im Rahmen von Gesamtbehandlungsplänen, die verschiedene therapeutische Interventionen beinhalten? Weil es in den eher schulentreuen Forschungseinrichtungen zu wenige gibt, die für eine solche Fragestellung aufgeschlossen sind. Es wäre spannend zu überprüfen, wie viele solche Anträge in dem neuen Förderungsschwerpunkt des Bundesministeriums gestellt werden. Die Versorgungspraxis ist viel heterogener und eklektischer als die Ausbildungsinstitute dies erlauben. Vielleicht können diese (empirischen) Befunde die Forschung stimulieren. Die Forderung nach empirischer Absicherung darf unseres Erachtens kein Hemmschuh für die Generierung von Ideen und Versuchen sein. Die Empirie hat die Aufgabe, solche Hypothesen zu überprüfen, jedoch nicht, sie aufzustellen.

Herausnahme bestimmter Patientengruppen aus der Richtlinienpsychotherapie. Hier bemängelt Lieberz das Fehlen von Vorschlägen, bestimmte Patientengruppen, wie PTB oder chronisch körperlich kranke PatientInnen, nicht innerhalb der Richtlinienpsychotherapie behandeln zu lassen. Auch wenn nicht klar wird, wie eine solche Versorgung (und durch wen) geleistet werden könnte, so hängen wir noch der naiven Vorstellung an, dass sich die Richtlinien an den vorhandenen Realitäten orientieren könnten und nicht umgekehrt. Durch verbesserte (übrigens schulenübergreifende) Behandlungsansätze kann traumatisierten PatientInnen schnell und nachhaltig geholfen werden. Dies führt zu einer erhöhten Nachfrage. Die Etablierung neuer Behandlungskonzepte bei chronisch körperlich Kranken führt hier ebenfalls zu einer erhöhten Nachfrage. Und diese Gruppen sollen anders versorgt werden, nur weil die Psychotherapierichtlinien solche Fälle nicht vorsehen? Dies ist für uns schwer nachvollziehbar, handelt es sich bei der zweiten Gruppe wohl um einen zukünftigen Schwerpunkt innerhalb der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Die Datenlage in diesen Feldern ist übrigens mehr als überzeugend.

„Gleichmacherei” bei Bewilligungsschritten. Auch wenn es sich hierbei um einen untergeordneten Punkt handelt, so war klar, dass zumindest von analytischer Seite keine Zustimmung zu erwarten war. Dabei kann die Länge von Behandlungszeiten doch wahrlich kein Diskussionstabu sein. Das Argument der Differenzierung in den Therapieangeboten beinhaltet doch nicht eine wirklich ausreichende Begründung dafür, warum Herr Müller, wenn er sich bei der Suche nach einem Therapieplatz im Branchenbuch eine Zeile nach oben oder unten begibt, ein 5-faches an Behandlungskontingent absolvieren kann oder muss - je nachdem, an welchen Vertreter welcher Schule er gerät. Vielleicht wäre es sinnvoller zu überlegen, welche PatientInnen erfahrungsgemäß mit den Langzeitkontingenten der VT und TP nicht ausreichend versorgt zu sein scheinen und welche PatientInnen im Rahmen weit kürzerer Therapiedauern sehr wohl nachhaltige Verbesserungen erfahren. Vielleicht gelänge ja eine konsensfähige Differenzierung nach Störungsbild, Diagnose oder Interaktionsverhalten. Dies könnte zu Überlegungen führen, bei denen die Patientenversorgung stärker im Mittelpunkt steht als die Besitzstände der Ausbildungsinstitute.

Insgesamt wollen wir zur Diskussion anregen und danken Herrn Lieberz nochmals ausdrücklich für seinen Beitrag, der uns diese klärende Antwort erst ermöglichte.

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