Psychother Psychosom Med Psychol 2003; 53(11): 431
DOI: 10.1055/s-2003-43392
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das deutsche Gesundheitswesen braucht eine neue Enquete-Kommission!

Impulse der Hamburger „Versorgungs-Tagung”The German Health Care System Needs a New Commission of Enquiry!The Hamburg Health Care Congress's ProposalsUwe  Koch
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Publication Date:
05 November 2003 (online)

Vom 28. - 30.9.2003 tagte der Kongress „Psychosoziale Versorgung in der Medizin”, zugleich 2. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung in Hamburg. Eingeladen hatten 34 Fachgesellschaften der Medizin, Psychologie, Sozial- und Gesundheitswissenschaften. Etwa 650 Vertreter/innen aller wichtigen Akteure des Gesundheitswesens kamen: Wissenschaft, Versorgungseinrichtungen, Gesundheitspolitik, Kostenträger. Die Tagungsdeklaration fasst zentrale Ergebnisse in einer „Agenda zur Entwicklung der psychosozialen Medizin” zusammen:

Mit den Fortschritten der biotechnologisch orientierten Medizin wächst auch der Bedarf an psychosozialer Versorgung. Humangenetik, Reproduktions-, Transplantationsmedizin usw. werfen neue psychologische, psychotherapeutische und soziologische Fragen auf. Die psychosoziale Medizin muss sich gesellschaftspolitischen Anforderungen aktiv stellen. Denn in wichtigen Segmenten bestehen ausgeprägte Fehl- und Unterversorgungen psychischer Erkrankungen, beispielsweise in Ostdeutschland, in ländlichen Regionen, bei sozial Benachteiligten, Älteren, ausländischen Mitbürgern, Kindern und Jugendlichen. Eine hochwertige psychosoziale Versorgung ist ethisch und sozialpolitisch eine selbstverständliche Pflicht. Doch sie leistet auch wesentliche Beiträge zur Effizienz: Psychosoziale Leistungen verbessern und verbilligen das Gesundheitswesen, ihr Rückbau zieht hohe Folgekosten nach sich, z. B. durch doctor-shopping, Chronifizierung, Rehabilitation oder Arbeitsunfähigkeit. Auch in der somatischen Versorgung beschleunigen psychosoziale Angebote die Heilung, reduzieren Komplikationen und Medikamentierungsbedarf, unterstützen Mitwirkung, Wohlbefinden und Schmerzminderung bei den Patienten. Erhebliche Sparpotenziale liegen somit darin, die psychosoziale Versorgung auszubauen! Ein wichtiges Ziel der nächsten Jahre ist die Integration von unterschiedlichen Disziplinen, Positionen und Berufsgruppen, von Forschung und Versorgung, von psychosozialer und somatischer Medizin. Eine qualifizierte psychosoziale Versorgung erfordert eine verbesserte, vernetzte Aus- und Weiterbildung aller Berufsgruppen. Alle Ärzte und das Pflegepersonal bedürfen solider Kenntnisse in Diagnostik und Psychotherapie. Die neue Approbationsordnung für Ärzte stärkt tendenziell die psychosozialen Fächer. Nun sind die Fakultäten aufgerufen, durch innovative Lehre den Erwerb kommunikativer und psychosozialer Fachkompetenzen effektiv zu unterstützen. Die deutsche Gesundheitspolitik braucht dringend eine fundierte Bestandsaufnahme der psychosozialen Versorgung, vergleichbar der wegweisenden „Psychiatrieenquete” (1975). Unter- und Fehlversorgung müssen analysiert, Verbesserungsvorschläge erarbeitet werden, u. a. zur Frühidentifikation des Behandlungsbedarfs, zur differenziellen Zuweisungssteuerung und zur Behandlungskontinuität. Die erforderlichen komplexen Methoden kann heute die Versorgungsforschung beitragen.

Prof. Dr. Dr. Uwe Koch

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf · Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie

Martinistraße 52 (S 35)

20246 Hamburg

Email: koch@uke.uni-hamburg.de

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