Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(44): 2329-2330
DOI: 10.1055/s-2003-43185
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Gynäkologie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Nutzen des bevölkerungsweiten Mammographie-Screening

Wissenschaftlich belegt oder nicht?The benefit of a population based mammography screeningScientifically proven or not?W.-J Stronegger1 , É. Rásky1
  • 1Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Karl-Franzens-Universität Graz
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eingereicht: 31.7.2003

akzeptiert: 11.9.2003

Publication Date:
30 October 2003 (online)

Folgt man der Berichterstattung medizinischer Medien, scheint sich mit dem Erscheinen einer jeden neuen Studie der wissenschaftliche Erkenntnisstand zu manchen Themen nahezu jährlich ins Gegenteil zu verwandeln. Ein Thema, auf welches dieses Phänomen besonders zutrifft, ist der Nutzen des bevölkerungsweiten Mammographie-Screenings. Die Ursachen dafür liegen jedoch weniger in Mängeln der medizinischen Forschungsmethode selbst als vielmehr in mangelhafter Forschungspraxis und inadäquatem Umgang mit Studienergebnissen. Dass durch einen sorgfältigeren und kompetenteren Umgang mit wissenschaftlichen Untersuchungen der zunehmende Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in die medizinische Forschung zu vermeiden wäre, versuchen wir im Folgenden darzulegen. Eine wesentliche Voraussetzung besteht in der Verbesserung der methodischen und epidemiologischen Kompetenz in der medizinischen Ausbildung.

Bevor ein neues Medikament zugelassen wird, muss es durch eine Reihe experimenteller Studien sorgfältig auf seine Wirksamkeit und allfällige Nebenwirkungen überprüft werden. Die abschließende experimentelle Überprüfung erfolgt als so genannte randomisierte klinische Studie, die an freiwillig teilnehmenden Patienten durchgeführt wird. Erst nach Bestehen dieser Prüfung darf das neue Medikament auf den Markt.

Im Bereich der Früherkennung scheinen andere - oder besser: keine vergleichbaren - Sicherheits- und Qualitätsmaßstäbe zu gelten. Ohne Bezugnahme auf experimentelle Überprüfungen werden bevölkerungsweite Screeningprogramme initiiert, deren Wirksamkeit und Nebenwirkungen nur aufgrund von nachträglich durchgeführten Beobachtungsstudien auf die heutige Situation „hochgerechnet” wurden. Keine medizinische Behandlung könnte so ihre Wirksamkeit belegen. Aktuelles Beispiel: Aufgrund zweier vor kurzem publizierter Datenanalysen [1] [2] wird die Wirksamkeit des Mammographie-Screenings bei Frauen im Alter von 50 - 60 Jahren von diversen ärztlichen Fachorgangen als eindeutig erwiesen dargestellt, und sogleich werden z. B. in Österreich bevölkerungsweite Screeningprogramme politisch lanciert.

Die Überprüfung neuer medizinischer Behandlungen durch experimentelle Studien geschieht aber nicht aus wissenschaftlichem Übereifer, sondern ist ein unumgänglicher Teil des Nachweises ihrer Wirksamkeit. Nur eine experimentelle Überprüfung erlaubt, den Nutzen einer Therapie zuverlässig abzuschätzen. Aus nicht-experimentellen Studien (Beobachtungsstudien) kann nicht auf die Tauglichkeit einer medizinischen Maßnahme geschlossen werden. Die kausale Wirkung einer Behandlung bzw. medizinischen Maßnahme ist nur dann eindeutig belegbar, wenn sie auch in experimentellen Studien nachweisbar ist. Dementsprechend sind auch nach den Regeln der Evidence Based Medicine Beobachtungstudien nur dann als Informationsquelle zu beachten, wenn für eine Behandlung überhaupt keine experimentellen Studien von akzeptabler Qualität existieren.

Im Falle des Brustkrebs-Screenings existieren mehrere große randomisierte klinische Studien und auch eine Übersichtsarbeit (in diesem Fall ein systematischer Review [3]) einer unabhängigen Forschungseinrichtung (Nordic Cochrane Centre), welche die Ergebnisse der experimentellen Studien zusammenfasst und ihre methodische Qualität beurteilt.

Die beiden neu erschienen Beobachtungsstudien analysieren Sterbedaten aus Schweden [1] und aus den Niederlanden [2]. Bei der Studie von Tabár et al. handelt es sich um eine nicht-experimentelle Studie, welche die Sterblichkeit gescreenter Frauen in den Jahren 1978 - 97 mit jener einer historischen (!) Kontrollgruppe nicht gescreenter Frauen aus den Jahren 1958 - 77 vergleicht. Da die letzteren in früheren Jahrzehnten starben als die gescreenten, muss deren Sterblichkeit erst auf die späteren Verhältnisse „hochgerechnet” werden, was natürlich nur mit verschiedenen „Zusatzannahmen” möglich ist. Systematische Fehler sind dabei kaum zu vermeiden. Ein weiteres Problem dieser Studie, das ebenso schwer nachträglich zu reparieren ist, besteht in der Selbst-Auswahl der Frauen zur Teilnahme an einem Screeningprogramm. Es ist bekannt, dass die Teilnahme an solchen Programmen mit einer grundsätzlich größeren Bereitschaft zur Gesundheitsvorsorge verbunden ist, also vermehrt die gesünderen Frauen gescreent werden. Diese und viele weitere Fehlerquellen treten bei experimentellen randomisierten Studien so gut wie nicht auf. Ihre Qualität und Aussagekraft ist daher unvergleichlich höher als jene von Beobachtungsstudien.

Die zweite Beobachtungsstudie, die Analyse gruppierter Daten (eine „ökologische Beobachtungsstudie”) von H. de Koning [2], stellt den Verlauf der Brustkrebsmortalität in niederländischen Städten dar, in welchen Massen-Screeningprogramme eingeführt wurden. Es wird ein Rückgang in der Brustkrebsmortalität seit dem Start der Programme festgestellt. Die Autoren behaupten, dass dieser Rückgang auf die Einführung der Screeningprogramme zurückzuführen ist. Das könnten sie allerdings auch ohne Bezugnahme auf die verwendeten gruppierten Daten behaupten, denn aus diesen kann nicht auf die Ursache des Trends geschlossen werden. Diesem kann eine ganze Reihe weiterer Faktoren zugrunde liegen. Zeitliche Mortalitätstrends können alle erdenklichen Ursachen haben, in der Regel ist eine Identifizierung einzelner kausaler Faktoren unter den vielen wirksamen Faktoren selbst bei weit besseren Beobachtungsdaten nicht möglich. Z.B. ist auch in Österreich seit 1996 ein leichter Rückgang der Brustkrebssterblichkeit zu beobachten, über deren Ursache man nur spekulieren kann. Massen-Screeningprogramme scheiden als Ursache jedenfalls aus, da es in Österreich bisher nur opportunistisches Screening gab, welches zu einer merklichen Senkung der Sterblichkeit nicht geeignet sein soll. Sogar über den im Vergleich massiven Rückgang der Magenkrebssterblichkeit während der letzten Jahrzehnte gibt es nur (gut begründete) Hypothesen, aber keine eindeutigen Beweise.

Es ist nicht ersichtlich, dass diese beiden neuen Beobachtungsstudien irgendeinen Erkenntnisgewinn zum bestehenden Forschungsstand, der auf einer Reihe von experimentellen Studien beruht, hinzufügen. Sogar wenn es keinerlei experimentelle Studien gäbe, wäre der Aussagewert dieser beiden Studien nur als Grundlage weiterer Forschungsarbeiten verwendbar, aber würde sich niemals zur Begründung irgendeiner praktischen Maßnahme eignen. Eine praktische Umsetzung wäre so verantwortungslos wie die Einführung eines neuen Medikamentes ohne Überprüfung durch eine klinische Studie.

Es ist nicht ganz zu übersehen, dass ein Großteil der zusammenfassenden Darstellungen, welche einen großen Nutzen des Screenings behaupten, von Personen publiziert wird, die in Screeningprogramme mehr oder weniger direkt involviert sind, während die meisten negativen Analysen von unabhängigen Forschungseinrichtungen wie der Cochrane Collaboration stammen. Und es ist des weiteren auffällig, dass die Autoren der Arbeiten, welche einen Nutzen behaupten, darunter auch die Autoren der beiden beschriebenen Beobachtungsstudien, nicht einmal den aktuellen Stand der Forschung berücksichtigen. Denn es fehlen in den Arbeiten relevante Zitierungen von randomisierte Studien zum Mammographie-Screening.

Es ist aus methodischer Sicht nichts gegen eine Propagierung des Mammographiescreenings einzuwenden, wenn es einen Nachweis der Wirksamkeit auf dem gleichen Niveau gibt, welches bei jedem Medikament üblich ist. Die bisherigen experimentellen Studien (vgl. [3]) konnten insgesamt gesehen eine höchstens minimale Reduktion der Brustkrebssterblichkeit des regelmäßigen Screenings belegen - und von einigen Autoren wurde sogar eine Erhöhung der Gesamtsterblichkeit beschrieben. Dies ist der heutige Stand der Forschung, und nur eine gute experimentelle Studie kann ihn bestätigen oder widerlegen, niemals eine noch so große Anzahl von Beobachtungsstudien. Dieselbe Auffassung vertritt eine Arbeitsgruppe der International Agency for Research on Cancer (IARC) indem sie schreibt, dass „observational studies based on individual screening history, no matter how well designed and conducted, should not be regarded as providing evidence of an effect of screening.” (in: [4]).

Es ist an der Zeit, dass auch in der Früherkennung die gleichen Qualitätsstandards und ethischen Maßstäbe zur Anwendung kommen, die sich in der Patientenbehandlung seit vielen Jahren als Selbstverständlichkeit durchgesetzt haben. Da sich diese Maßnahmen nicht wie bei Therapien nur auf Patienten beziehen, sondern auch gesunde Personen betreffen, wäre darüber hinaus die Forderung noch höherer Standards zu diskutieren. Die experimentelle Überprüfung präventivmedizinischer Maßnahmen, insbesondere des Massenscreenings, ist kein wissenschaftlicher Luxus, sondern ein Mindeststandard im Sinne der Gesundheit der Patienten und der Bevölkerung.

Autorenerklärung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen Verbindungen mit einer Firma haben, deren Produkt in dem Beitrag eine wichtige Rolle spielt (oder mit einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt).

Literatur

  • 1 Tabár L. et al . Mammography service screening and mortality in breast cancer patients: 20-year follow-up before and after introduction of screening. .  Lancet. 2003;  361 1405-1410
  • 2 Otto S J. et al . Initiation of population-based mammography screening in Dutch municipalities and effect on breast-cancer mortality: a systemic review. .  Lancet. 2003;  361 1411-1417
  • 3 Olsen O, Goetzsche  P C. Cochrane review on screening for breast cancer with mammography. .  Lancet. 2001;  358 1340-1342, , http://image.thelancet.com/lancet/extra/fullreport.pdf
  • 4 Vainio H, Bianchini F. (eds.) Breast Cancer Screening. International Agency for Research on Cancer (IARC) Handbooks of Cancer Prevention. Lyon: IARC Press 2002 7: 91

ao. Univ.-Prof. Dr. W.-J. Stronegger
ao. Univ.-Prof. Dr. Éva Rásky

Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Karl-Franzens-Universität Graz

A-8010 Graz

Universitätsstraße 6/I

Email: willibald.stronegger@uni-graz.at

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