Gesundheitswesen 2002; 64(4): 183-184
DOI: 10.1055/s-2002-25206
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gesundheit in der Region

Health in the RegionJ. G. Gostomzyk
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Publication Date:
19 April 2002 (online)

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zur gemeinsamen wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) heiße ich Sie als Präsident der DGSMP herzlich willkommen.

Das Thema der Tagung lautet „Gesundheit in der Region”. Der Begriff Region ist in Bezug zur europäischen Union zu sehen, wobei Region der geografische, wirtschaftliche, kulturelle und ethnische Raum ist, mit dem sich Menschen in ihrer Lebensart identifizieren, den sie prägen, d. h. auch gesundheitsfördernd gestalten, und umgekehrt der Raum, der Menschen prägt und ihnen auch die Chance zur Entwicklung ihrer Gesundheit geben soll. Diese Aussage umfasst aber nur einen Teilaspekt des Themas. Die Voraussetzungen für Gesundheit, vor allem die ökonomischen Bedingungen, sind mit dem globalisierten Finanzmarkt und einer sich global entwickelnden Ökonomie als isolierte regionale Entwicklungen nicht mehr denkbar. Hier liegt eine Chance, Gesundheit als gemeinsames und einigendes Ziel einer globalen Gemeinschaft zu definieren, nicht nur als Traumbild, sondern als Instrument der Konfliktbewältigung und - bei aller kulturellen Pluralität - der Identitätsbildung.

Im Eifer hatten die Befürworter der globalen Entwicklung Proteste ignoriert und sich über die ökonomischen und die religiös-kulturellen Konflikte in der Welt hinweggetäuscht, ihr Traumbild von einem Global Village stand für die Illusion vom ewigen Frieden in einer Welt, in der alle miteinander reden, sich verstehen, gemeinsame Sache machen. Dieses Bild ist seit dem 11. September 2001 zerstört. Am Ende der Idee von Global Village steht nun der globale Schurke und die Fronten zwischen Gut und Böse haben nur sehr bedingt auch eine geografische Dimension. Aus der anonymen Gewalt erwächst Angst vor allem Fremden, was das Zusammenleben der Menschen in der Welt und auch in der Region erschwert.

Die WHO und andere haben Frieden als essenzielle Determinante von Gesundheit eingeordnet. Es ist schwer vorhersehbar, welche Auswirkungen der dramatische Terror in den USA für uns Europäer haben wird. Müssen wir u. a. auch über Vorstellungen zur Entwicklung der Bedingungen für Gesundheit neu nachdenken? Oder können wir den eingeschlagenen Weg weitergehen? Laut Beschluss der Konferenzen von Maastricht und Luxemburg sollten die Bedingungen für öffentliche Gesundheit in den Ländern der EU untereinander angeglichen werden und der EUGH hatte mit seinen Urteilen deutlich gemacht, dass bei der Freizügigkeit von Menschen und Dienstleistungen auch die Bedingungen für die individuelle Gesundheit transparent und für den Bürger überall in der EU erreichbar zu organisieren sind. Diese Aufträge richten sich in erster Linie an die Politik, aber sie betreffen auch die Kernfrage der Sozialmedizin, das gesundheitliche Wohlergehen des Individuums, ohne zu übersehen, dass Menschen immer auch in und mit der Gesellschaft leben.

Vor wenigen Tagen ging in Nürnberg der erste europäische Juristentag zu Ende mit dem Ergebnis, dass der Weg zu einem gemeinsamen europäischen Rechtsraum äußerst mühselig sei, und die Bundesministerin für Justiz beschrieb ihn als „bürokratischen Hindernislauf”. Analoges trifft derzeit auch für die gesundheitliche Versorgung mit verschiedenartigen nationalen Regelungen, mit zentralen oder dezentralen Organisationsformen und unterschiedlicher Leistungsfähigkeit in den einzelnen Ländern zu. Zudem besteht zwischen den Mitgliedsländern der Gemeinschaft der Vorbehalt, dass von außen grenzüberschreitend Leistungen beansprucht werden, die das eigene Budget belasten bei gleichzeitiger Bereitschaft, günstige Angebote in umgekehrter Richtung in Anspruch zu nehmen. Die Problematik dürfte sich bei der geplanten Osterweiterung der EU noch verschärfen. Ist europaweit öffentlich organisierte Solidarität ein tragfähiges Prinzip für die Absicherung des Krankheitsrisikos? Die Mehrheit der Deutschen jedenfalls, so das Ergebnis einer neuen WZB-Umfrage, befürwortet auch für die Zukunft die GKV-Lösung, also eine gesetzlich solidarisch organisierte Krankenversicherung. Andere Vorschläge kommen allerdings aus der neoliberalen Ecke. Es liegt im Interesse zukünftiger Versorgungssicherheit im Krankheitsfall, unabhängig von ideologischen Präferenzen, ein gesellschaftlich konsensfähiges Gleichgewicht zwischen Solidarität und Eigenverantwortung zu finden und zu erhalten.

Unter diesen Rahmenbedingungen stellt sich für den EU-Bürger die Frage, was er zu erwarten und wie er sich denn zu verhalten habe als „europäischer Patient”. Bisher ist noch von keinem europäischen Gipfel ein moderner Moses herabgestiegen mit den Gesetzestafeln über verbindliche Rechte und Pflichten dieses Patienten, sei er als Selbständiger, als Arbeitnehmer, als Tourist oder als Rentner außerhalb seiner Heimatregion von Krankheit betroffen. Die Suche nach einer Antwort ist eine europäische Herausforderung auch an uns Sozialmediziner, neben unserem Versorgungsauftrag in der Region. Deshalb ist die Frage zu stellen, auch an die DGSMP, wann gibt es den ersten Sozialmediziner-Tag in Europa? Wer ergreift die Initiative? Zudem sollten wir möglichst bald via Internet ein europäisches Netzwerk „Sozialmedizin” knüpfen als ständiges Diskussionsforum für Fragen der sozialmedizinischen Versorgung, der Forschung und Lehre sowie der Fort- und Weiterbildung und vor allem zur Förderung von Vertrauensbildung und Freundschaft untereinander.

Mitterand, ein bedeutender Förderer im europäischen Einigungsprozess, vertrat die Meinung, Europa beginnt in den Rathäusern. Auf dem Gebiet der Gesundheit entspricht dies dem Gemeindebezug, wie ihn auch die WHO vertritt. Der kommunale Bezug hat in Deutschland mit einem kommunalen öffentlichen Gesundheitsdienst, mit den Betriebskrankenkassen, den AOKs und den kommunalen Krankenanstalten durchaus Tradition, er muss aber für die europäische Herausforderung weiterentwickelt werden.

Die Sozialmediziner in den Medizinischen Diensten der Kranken- und Rentenversicherung, der Arbeitsverwaltung und im ÖGD können jeweils in ihrem Aufgabenbereich durch Synchronisation der Versicherungsansprüche, der Entgeltsysteme, der Diagnoseschlüssel, der Behandlungsqualität, der Gutachtenerstellung usw. wichtige Beiträge dazu leisten, dass der „europäische Patient” in Zukunft die präventiven, therapeutischen oder rehabilitativen Angebote auch in einer Region, die nicht seine herkömmliche ist, im Bedarfsfall problemlos nutzen kann. Die Sozialmedizin kann damit einen bürgernahen Beitrag zur Entwicklung der Freizügigkeit in Europa leisten.

Auch für die Verwirklichung gesundheitlicher Zielsetzungen beginnt also der Weg nach Europa in den Rathäusern, d. h. auch in den Regionen. Für jeden Weg ist der erste Schritt der wichtigste, weil er die Richtung vorgibt. In unserem Körperschafts- und Verbändestaat gilt es auf dem Weg nach Europa noch stärker die Erkenntnis durchzusetzen, dass für diesen ersten Schritt wissenschaftlich fundierte epidemiologische Analyse und Gesundheitsberichterstattung unverzichtbar sind. Auch die Regionen sollten bei ihrer Bedarfs- und Entwicklungsplanung im Gesundheitsbereich wissenschaftliche Expertise als „lobbyfestes” Instrument nutzen, um Unter- und Überversorgung zu vermeiden.

Gestatten Sie mir noch einen kurzen Rückblick zum Tagungsort Bielefeld aus DGSMP-Perspektive. 1989 hat in der Universität Bielefeld unter Teilnahme der DGSMP eine der entscheidenden Konferenzen stattgefunden, die schließlich zu einem 10-jährigen Förderschwerpunkt Public Health/Gesundheitswissenschaften in Deutschland geführt haben und zur Gründung der ersten und bisher einzigen Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Im Jahr 1990 war die DGSMP mit ihrer wissenschaftlichen Jahrestagung Gast in dieser Stadt und hat nach intensiven Diskussionen mit Kollegen aus der DDR die Weichen gestellt für den Beitrag der DGSMP im Einigungsprozess. Für den Bielefelder Beitrag sind stellvertretend und herausragend die Namen Badura, Hurrelmann und Laaser zu nennen und mit ihnen eng verbunden im nordrhein-westfälischen Forschungsverbund Herr Siegrist aus Düsseldorf, den wir heute, im Rückblick auf sein Tun, noch besonders ehren wollen.

Es bleibt mir noch die angenehme Pflicht, im Namen des Vorstandes und aller Mitglieder der DGSMP Herrn Brand, als Tagungsleiter, Leiter des Landesinstituts für den ÖGD in Nordrhein-Westfalen (LöGD), seinen Mitarbeitern, den Mitgliedern des lokalen und des wissenschaftlichen Organisationskomitees Dank zu sagen für die Mühe und die Belastung, die sie mit der Vorbereitung und der Durchführung unserer Tagung auf sich genommen haben, und für den Eifer und die Umsicht, mit der sie sich dieser Aufgabe gestellt haben.

Unserer gemeinsamen Jahrestagung wünsche ich einen guten Verlauf.

Prof. Dr. J. G. Gostomzyk, Präsident der DGSMP

Hoher Weg 8

86152 Augsburg

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