Sprache · Stimme · Gehör 2002; 26(1): 21-23
DOI: 10.1055/s-2002-23122
Schwerpunktthema

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Meine Psyche wehrt sich:
sprachlos, stimmlos und was nun . . .?

My Mind Resists: Speechless, Voiceless - What Now?Ute Maria Weisenseel1
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Publication Date:
25 March 2002 (online)

Vor wenigen Jahren traf es mich mit großer Heftigkeit . . .

Ein langer Arbeitstag geht zu Ende. Es ist zwei Stunden vor Mitternacht. Ich will noch ein Telefonat führen, aber - was ist das? Ich kann nicht mehr sprechen! So sehr ich mich auch mühe. Kein einziger kleiner Ton kommt hervor. Ich schlucke krampfhaft und atme panisch. Die Tränen rollen endlos über mein Gesicht. Ich gehe zur Haltestelle, dort werde ich plötzlich gefragt: „Was ist mit Ihnen? Tut Ihnen etwas weh?” Ich habe keine Schmerzen und schüttle nur traurig den Kopf. „Soll ich Ihnen helfen?” Wieder kommt keine Antwort aus mir heraus, trotz extremer Anstrengung. Ich versuche es. Schlucke, atme, schlucke. Es ist nichts zu machen, kein Murmeln, kein Flüstern und schon gar kein Sprechen. Ich quäle mich, einen Ton zu entwickeln, um im Bus einen Fahrschein zu bekommen - nichts. Nur denken kann ich gerade noch. Kurzerhand fingere ich aus meiner Tasche einen Stift und einen Zettel. Dem Busfahrer schreibe ich schnell mein Fahrziel auf. Er ist sehr geduldig und wartet. Das Wechselgeld einsteckend, begebe ich mich auf einen Einzelplatz. Der Bus setzt sich in Bewegung und ich versteh’ die Welt nicht mehr. Meine Stimme ist weg, ohne dass ich dafür eine Erklärung habe. Einfach so - weg. Was ist passiert? Eine Entzündung würde ich doch merken, das tut weh. In meinem Kopf dreht sich alles wie ein Karussell. „Endstation, alles Aussteigen!” ruft der Busfahrer. Ich schrecke auf. Ich habe im Moment jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Trotzdem überprüfe ich meine Lage. Sprechen: nicht möglich. Mit einem kurzen Nicken verabschiede ich mich vom Busfahrer und trotte nach Hause. Angekommen, zwanzig Minuten vor Mitternacht, mein Mann schläft schon. Zum Glück - welche Ironie - muss ich nicht reden. Also nur waschen und ins Bett, morgen ist - wird bestimmt alles wieder gut. Vier Uhr, der neue Morgen ist angebrochen, schwupp heraus aus dem Bett. Im Bad ist mir schwindlig bei dem Versuch, einen Ton zu produzieren. Ich beginne qualvoll und schwer zu atmen. Oh nein, nichts ist wieder gut. Zähneputzen und lange kräftig gurgeln bringt auch keinen Erfolg. Wie viel Zeit vergangen ist, weiß ich nicht. Plötzlich brechen die Tränen hervor und ich weine haltlos. Meine Stimme ist weg, die ich so notwendig zur verbalen Kommunikation in meiner leitenden Funktion brauche.

Fast mechanisch setze ich mich zur üblichen Zeit in Bewegung, um zur Arbeit zu kommen. Autofahren geht nicht (obwohl das Auto aus der Reparatur wieder zurück ist), dafür bin ich zu sehr aufgewühlt. Ich nehme den Bus und die U-Bahn. Meine Gedanken rasen jetzt kreuz und quer durch meinen Kopf. „Was soll ich eigentlich im Dienst, ich kann ja doch nicht kommunizieren?” Ich schaue aus dem Fenster der U-Bahn und schlucke hastig, um mein mühsames Ringen nach Fassung und mein Betroffensein zu verbergen. Um mich wieder zu fangen. Meine ineinander verkrampften Hände zittern. Endlich aussteigen. Mit schweren trägen Schritten bewege ich mich gen Krankenhaus. Ein ungutes Gefühl befällt mich schon bei dem Gedanken an die Frühbesprechung. Ich kann mich nicht akustisch äußern. Fünf vor sechs, angekommen in meinem Dienstzimmer. Es sieht aus wie immer, Berge von Problemfeldern wollen bearbeitet werden. Ich setze mich an den PC und los geht’s. Plötzlich klingelt das Telefon und die Angst steigt hoch in mir. „Guten Morgen” versuche ich zu sagen, aber kein Ton kommt aus meinem Hals, nicht einmal flüstern ist möglich. Die Anruferin kann mich also nicht hören. „Hallo Frau Weisenseel was ist mit Ihnen los, so antworten Sie doch.” An meinem schnellen Atmen bemerkt sie, dass irgend etwas nicht stimmt. Ich schicke ihr ein Fax. Wenige Minuten später betritt sie mein Büro mit den Worten: „Sie müssen sofort zum HNO-Arzt, mit so etwas ist nicht zu spaßen.” Ich nicke nur und gestikuliere ihr ein ‚Danke für den Rat‘. Es ist acht Uhr, ich muss zur Frühbesprechung bei meiner Vorgesetzten. Wie zu erwarten, bekomme ich keinen einzigen Laut hervor. Dafür ernte ich nur abfällige und gemeine Bemerkungen. Mit solchen Sprüchen kann ich heute gar nicht gut umgehen, mir ist so schon schwermütig genug zumute. Prompt stürme ich nach fünfzehn Minuten aus dem Raum, sekundenschnell bricht es aus mir heraus, Tränen ohne Ende. Die Flucht in mein Zimmer war keine gute Idee, denn die Gängelei meiner Vorgesetzten, die flugs hinter mir her rannte, wird noch heftiger. Als Vertretung müsste ich mich zusammenreißen und nicht „einen auf krank markieren, um vor der Arbeit wegzurennen”. Das ist ja wohl der Gipfel der Gemeinheit, wo ich ohnehin schon täglich 15 - 16 Stunden arbeite. Nachdem ich meine Fassung wieder erkämpft habe, entschließe ich mich, den HNO-Professor zu konsultieren. Er schaut mir sehr gründlich in den Hals. „Also organisch ist da nichts zu finden, ich denke, das ist eher psychisch bedingt. Gibt es Stress mit Ihrer Chefin?[1]” Er hat den berühmten ‚Nagel auf den Kopf getroffen‘ und schon rollen die Tränen erneut. Was ist bloß mit mir los? Das kenne ich überhaupt nicht von mir - so dicht am Wasser! Einen kurzen Augenblick später halte ich einen Krankenschein in der Hand. Mit eindringlichen Worten, die ich nur von Ferne höre: „Eigentlich müssten Sie zum Psychologen, aber erst einmal für die nächsten drei Wochen nur Ruhe, Ruhe, Ruhe, und alles Gute”, verabschiedet sich der Professor von mir. Ich denke so vor mich hin: „Ich bin doch nicht verrückt. Nicht ich muss zum Psychologen, das kommt eher für meine Vorgesetzte infrage, die das alles mit mir inszeniert. Ich will weder zum Psychologen noch zum Psychiater, ich will meine Stimme wieder haben! Ich muss es selbst wieder in Griff bekommen.” Seit mehr als acht Jahren das erste Mal krank geschrieben.

Zitternd gehe ich zu meinem Arbeitsplatz zurück und überlege mir, wie ich meiner cholerischen Chefin beibringen soll, dass ich zu Hause bleiben muss. Ich empfinde es als glückliche Fügung, dass meine Vorgesetzte in einer langen Besprechung ist. Um ihr absolut keinen Angriffspunkt zu geben, schreibe ich ganz akribisch auf, was in den kommenden Tagen dringend zu klären und zu erledigen ist, packe alles in ein Ablagekörbchen und hefte meinen Krankenschein sorgfältig oben auf. Dann verabschiede ich mich im Sekretariat. Auf dem schnellsten Wege will ich nur noch nach Hause.

Es wird Zeit, denn meine Familie weiß von all dem Geschehenen noch nichts. Mein Mann ist ganz besorgt und brüht mir liebevoll gleich einen Kamillentee auf, um schnell zu helfen. Aber leider nützt der Tee auch nicht.

Die ersten zwei Tage meiner Krankschreibung verlaufen wie im Traum. Ich weiß nicht wie viele Male ich mich gefragt habe: „Warum nur?” Um der Ursache auf den Grund zu gehen, beginne ich am dritten Tag die vergangenen acht Monate zu analysieren. In einer Art Brainstorming schreibe ich alle Erlebnisse, die mich sehr berührt oder verletzt haben, auf kleine Zettel.

Es klingelt, - Besuch? Das fehlt mir jetzt gerade. Ich kann mich doch akustisch nicht verständlich machen. Und wieder fliegt die Angst in mir hoch. Oh wie schön, es ist unsere Tochter. Ich gestikuliere ihr, dass meine Stimme weg ist. Unaufhaltsam rollen die Tränen meine Wangen entlang, immer im unpassendsten Moment. Umarmend flüstert sie mir ins Ohr: „Mami sei nicht traurig, irgendwer hat Dir jetzt ein Signal geschickt, dass Du Dir viel, viel Ruhe gönnen musst. Denk nicht an die böse Frau, denk nur an Dich. Du weißt, wie lieb wir Dich haben. Du bist nämlich die beste Mami der Welt.” Mit einem kräftigen Ruck zieht sie die Arbeitszimmertür zu und wir gestalten uns einen gemütlichen Nachmittag. Es ist fast Ende Juni, schon herrlich warm.

Der vierte Tag stürzt mich wieder in eine kleine Krise. Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie so viele Tränen vergossen, wie in den vergangenen Tagen. Aber vielleicht muss das so sein. Tränen haben ja auch eine heilende Wirkung. Also heraus mit ihnen. Als der Tränenstrom versiegt ist, beginne ich erneut, mich mit all dem Horror zu konfrontieren. Alle Geschehnisse kommen noch einmal unter die Lupe und ich arbeite Punkt für Punkt auf. Huch, da ist ja eine Menge zusammengekommen. Ich klebe alle Schnipsel ungeordnet auf ein großes Blatt. Beim Durchlesen überzieht mich eine „Gänsehaut” und es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter, über so viel Entsetzliches, was ich er- und geduldet habe. Ich schüttle oft den Kopf und frage mich: „Was habe ich mir nur alles gefallen lassen müssen - warum? Schweigend habe ich all die rücksichtslosen Demütigungen ertragen und ‚herunter geschluckt‘. Wie war es nur möglich, so unter psychischen Druck zu geraten, bis es mir ‚die Sprache verschlagen hat‘, ohne mich je zu wehren?” An zwei kleinen Beispielen will ich die unendliche seelische Grausamkeit aufzeigen.

Ich arbeite trotz eines heftig rumorenden Nierensteins; muss viel trinken und demzufolge auch häufiger zur Toilette gehen. Das ist meiner Vorgesetzten zu viel und mit sehr ernster schroffer Stimme fliegt mir folgender Satz entgegen: „Sie spinnen wohl, also die Zeit, die Sie auf der Toilette verbringen, die müssen Sie nacharbeiten.” Die Fäkalausdrücke und Vokabular aus dem zoologischen Garten möchte ich an dieser Stelle nicht wiedergeben! Eines Morgens erscheine ich im dunkelblauen Hosenanzug und weißer Bluse. Mir gefällt mein Outfit. Meine Chefin sieht mich und bekommt aus heiterem Himmel einen heftigen Wutausbruch. Vor allen anderen Beschäftigten funkelt und sprüht sie mich mit folgenden Worten an: „Sie sind wohl wahnsinnig geworden! Wie können Sie es wagen, in so einem Aufzug im Dienst zu erscheinen? So etwas steht vielleicht mir zu, aber nicht Ihnen als Vertretung. Sollten Sie es noch einmal wagen, mir mit dieser Art den Rang abzulaufen, schicke ich Sie postwendend nach Hause.” Ich kämpfe um eine Antwort. Das Kontern bleibt mir im Halse stecken, ich bin einfach nur noch sprachlos und schweige.

Mir wird immer deutlicher, dass die Summe aller subtilen Beleidigungen durch meine Vorgesetzte zum Ausbleiben meiner akustischen Fähigkeiten geführt hat. Dabei wird mir aber auch klar, dass ich nicht nur Opfer, sondern auch Dulder (. . . im Sinne von nichts tun!) bin. Ich habe zugelassen, dass mit mir so umgegangen werden konnte. Ich habe geschwiegen, nichts gegen die gemeinen Angriffe getan.

Meine erste Entscheidung festigt sich: Ich muss sofort etwas dagegen tun - nur was und wie, weiß ich noch nicht so genau.

Der fünfte Tag des ‚Verbanntseins‘ mit dieser ‚Sprechlosigkeit‘ nur mit Gestikulieren und Zettel schreiben, das mürbt. Einsam fühle ich mich, allein gelassen mit meiner Aphonie. Ich beende meine Aufzeichnungen, nehme mir eine Fachzeitschrift „Psychologie heute” vor und verkrieche mich in die Lektüre.

Wieder vergehen zwei Tage, an denen nichts Bedeutendes geschieht. Urplötzlich keimt ein herrlicher Gedanke in mir. „Gönn Dir ein traumhaftes Rosenbad.” Vom Balkon hole ich mir fünf himbeerrote Duftwolkenrosenblüten. In der warmen Badewanne schwimmen die samtigroten wohlriechenden Rosenblättchen und ein sanfter Film von duftendem Rosenöl bringt mich auf andere Gedanken. Ich fühle mich leicht wie ein Rosenblatt im Wind und meine Haut gleicht einem Samtteppich. Ich atme tief und genieße - mmmhhh. Einige Augenblicke später gestikuliere ich meinem Mann, wie gut es mir geht. Oh, was war das? Plötzlich bemerke ich, dass ich wieder flüstern kann und stoße ganz leise tiefe Töne aus. Sie entstehen einfach so in meiner Kehle, ich kann das nicht beeinflussen und erschrecke selbst am meisten. Wird das etwa meine neue Stimme sein? Oh nein! Mein Mann findet das ganz lustig und meint scherzhaft: „Dann sing einfach wie Zarah Leander”. Als wir gerade lachen, kommt unsere Tochter und freut sich riesig über den Brummbär-Fortschritt. „Haha, und jetzt kommt die Stelle, wo der Wolf die Kreide frisst, um eine helle Stimme zu bekommen”, meint sie belustigt. Anschließend gehen wir gemeinsam ins Kino. Prima, da muss ich nicht sprechen. Von diesem Zeitpunkt an geht es bergauf mit mir. Ich verwöhne mich jeden Tag mit besonders schönen Dingen und nutze die Zeit für mich selbst, um wieder einen neuen Sinn und zu mir selbst zu finden. Das ist der richtige Weg, denn meine artikulierten Laute verbessern sich deutlich. Der erste Schritt zur Änderung meines Handelns ist, nicht immer nur für andere da zu sein, sondern auch an mich selbst zu denken und etwas Gutes für mich zu tun. Diese Erkenntnis hat lange auf sich warten lassen. Und schon fallen mir gleich noch ein paar weitere Schritte für meinen Veränderungsprozess ein.

Nach genau zwei Wochen und einem Tag ist meine Stimme wieder da, noch etwas zaghaft, aber sie ist da. „Eigentlich könnte ich morgen wieder arbeiten” kommt mir so in den Sinn. Mein Bauch sagt aber streng und betont: „Nein! Die letzten drei Tage gönne Dir noch ausgiebig Zeit für Dich und erspüre Dein Befinden, dann wird alles wieder gut.” Ich höre auf meinen Bauch, denn ich habe den Eindruck, das ist mein zweites Gehirn.

Spazieren gehen verordne ich mir, wie herrlich. Der warme Wind zerrt an mir und bläst mir ein kleines Birkenblatt ins Gesicht. Ich klaube es von der Brille, gehe weiter, atme tief und genieße den traumhaft schönen Frühsommertag.

Inzwischen habe ich meine Arbeitsaufgabe gewechselt und die Traumata überwunden.

1 Der Professor wusste, dass meine Vorgängerin ebenfalls großen Stress mit dieser Vorgesetzten hatte.

Ute Maria Weisenseel





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