Psychiatr Prax 2002; 29(2): 59-60
DOI: 10.1055/s-2002-22043
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Crux mit der Gewalt

The Dilemma of Violence in PsychiatryTilman  Steinert1
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Publication Date:
14 March 2002 (online)

Wer sich mit der Geschichte der Psychiatrie beschäftigt, kann zu dem Eindruck gelangen, dass eine Metamorphose der Gewalt gegen psychische Kranke, die in immer neuen Formen auftaucht, sich wie ein roter Faden durch die Geschichte unseres Fachs zieht, und zwar häufig als negativer Ausgang wohlgemeinter und engagierter reformerischer Bestrebungen. Gewiss, die Psychiatriegeschichte ist viel mehr als das, aber sie ist auch das: folterähnliche Therapiemethoden und therapeutischer Nihilismus im 19. Jahrhundert, im 20. Jahrhundert Großasyle, gewaltsame Behandlung von Kriegsneurotikern, Hungersterben, Zwangssterilisierung der von den sozialpsychiatrischen Außenfürsorgestellen betreuten Personen, Aktion „T 4”, „wilde Euthanasien”, „Strafschocks”, massive personelle und materielle Vernachlässigung der Anstalten bis zur Psychiatrieenquete, um nur einige Schlagworte zu nennen, die jeweils mit einer komplizierten Geschichte verbunden sind, und deren Fortsetzung in die heutige Zeit der Spekulation anheim gestellt werden kann. Warum ist gerade die Geschichte der Psychiatrie so mit Gewalt verknüpft (und nicht etwa die Geschichte der Augenheilkunde)? Die möglichen Antworten auf diese Frage sind nicht ganz trivial und implizieren einige Konsequenzen für psychiatrisches Handeln und die psychiatrische Forschung. Es gibt m. E. drei sich ergänzende Antworten auf diese Frage. Sie umreißen jeweils eine spezifische Herausforderung für das Selbstverständnis der Psychiatrie.

Die erste Antwort ist die Hälfte der Begründung, warum psychiatrisches Handeln auch heute noch zuweilen notwendig mit Gewaltausübung (Zwangsmaßnahmen) verbunden ist: Psychisch Kranke üben, teilweise verursacht durch ihre Krankheit, zuweilen selbst Gewalt aus. Diese Erkenntnis ist weder eine Plattitüde noch unumstritten. Die mit zunehmender Enthospitalisierung in allen Ländern aufgekommene Frage, welche Gefahren von den in die Gemeinde entlassenen Patienten ausgehen könnten, wurde von psychiatrischer Seite erst ignoriert, dann bagatellisiert. Inzwischen ist sie jedoch von der psychiatrisch-epidemiologischen Forschung hinreichend präzise beantwortet worden im Sinne eines moderat erhöhten Gewalttatenrisikos bei bestimmten Krankheitsbildern [1]. Auch der zweite Problembereich, Gewalt in psychiatrischen Institutionen, ist nach Beendigung der auch hier länger dauernden Verleugnungsphase mittlerweile recht gut erforscht. Eine Übersicht gibt meine Arbeit in vorliegendem Heft, die allerdings auch die Grenzen solcher Forschung im Hinblick auf Exaktheit und scheinbare Objektivität von Ergebnissen deutlich macht. Die Vorhersagemöglichkeiten der Forschung werden wesentlich dadurch limitiert, dass Gewalt eben auch ein interaktives Geschehen und nicht nur ein Patientenmerkmal ist.

Der zweite Grund für die Verflechtung von Psychiatrie und Gewalt liegt darin, dass Psychiatrie für die Behandlung derjenigen Organfunktion des Menschen zuständig ist, die das Verhalten steuert. Ansprüchliche, aggressive und noncompliante Patienten/Klienten gelten überall als die Problemgruppe, in der Allgemeinarztpraxis und auf dem Sozialamt ebenso wie in der Psychiatrie. Im Gegensatz zu anderen Disziplinen hat Psychiatrie aber aggressives Verhalten nicht nur als störend zu empfinden, sondern hat zu prüfen, ob es krankhafte Aspekte hat und damit in den Bereich der eigenen Behandlungskompetenz fällt. Mit der Anerkennung dieser Aufgabe - in Kooperation und Abgrenzung mit bzw. zu anderen öffentlichen Einrichtungen - hat die Psychiatrie eher noch Defizite. Behandlungskonzepte für gewalttätiges Verhalten gibt es für die Klinik, kaum jedoch für die Gemeinde. Ganz im Gegensatz zu der methodisch ausgereiften epidemiologischen Forschung gibt es hier erst Anfänge einer Interventionsforschung [2], und die epidemiologischen Daten sind bemerkenswert widersprüchlich: Einerseits kommen Metaanalysen über Prädiktoren von Gewaltdelinquenz recht eindeutig zu dem Ergebnis, dass bei psychisch Kranken ebenso wie bei Gesunden die entscheidenden ungünstigen Prädiktoren Merkmale der Dissozialität sind, während Variablen wie „Psychose” oder klinische Einschätzungen und Verläufe als Prognosefaktor zu vernachlässigen seien [3]. Demgegenüber steht der Befund, dass schizophrene Patienten mit Totschlagsdelikten ganz überwiegend weder pharmakologisch noch sozialpsychiatrisch behandelt wurden [4] [5]. Es ist z. B. nicht hinreichend geklärt, ob Psychopharmaka bei psychisch Kranken in der Gemeinde gewaltpräventiv wirken und ob psychosoziale Interventionen wirksam sind [6]. Hier besteht weiter erheblicher Forschungsbedarf.

Der dritte Grund für die Verflechtung von Psychiatrie und Gewalt ist die andere Hälfte unserer Legitimation von Zwangsmaßnahmen und zugleich, zumindest im Hinblick auf die Verfehlungen psychiatrisch Tätiger und psychiatrischer Institutionen, der wohl bedeutsamste. Es ist der Umstand, dass psychiatrisches Handeln zuweilen notwendig paternalistische Züge hat und dass psychiatrisches Handeln häufig im vermutlichen oder vermeintlichen Interesse der Betroffenen stattfindet, die ihre Interessen schlecht selbst wahrnehmen können. Dies unterscheidet die Psychiatrie in der Tat von anderen Fachdisziplinen. Die Ausgewogenheit zwischen berechtigter Fürsorge und Respekt vor der Patientenautonomie zu finden, ist ein psychiatrisches Grundproblem und oft unlösbares Dilemma, auf dessen einseitige und nicht ausreichend reflektierte Lösung viele Fehlentwicklungen - von ignoranter Unterversorgung bis Dauerasylierung - zurückgeführt werden können. Aus diesem Grund ist die Ethik in der Psychiatrie mehr als in anderen Disziplinen ein notwendiger und elementarer Bestandteil des therapeutischen Inventars. Genau hier liegt aber noch ein weiteres Defizit der Forschung und Praxis. Bisher wird psychiatrische Ethik im Sinne eines „add on” gehandhabt, auf das man zurückgreift, wenn es schwierig wird. Während die Therapeutik zunehmend nach Evidenzbasierung trachtet, bleibt die Ethik daneben vergleichsweise nebulös und kann zur Glaubenssache deklariert werden. Ob wir bei einem gegen seine Familie rezidivierend gewalttätigen Patienten einen Unterbringungsantrag an das Gericht stellen oder ihn entlassen, bleibt dem persönlichen ethischen Ermessen innerhalb des juristisch gesteckten Rahmens vorbehalten. Sollten wir uns entschließen, ihn überhaupt zu behandeln, gibt es dann (künftig) immer feinere evidenzbasierte Empfehlungen auch für die Auswahl des dritten Neuroleptikums. Das ist ein offensichtliches Missverhältnis. Die psychiatrische Ethik benötigt mehr empirische Fundierung und sollte als operationalisierbarer Bestandteil therapeutischer Entscheidungsalgorithmen handhabbar werden.

Wenn es uns gelingt, unser klinisches Verständnis und unsere Forschungsmethoden in der skizzierten Richtung weiterzuentwickeln, erreichen wir hoffentlich einen zeitgemäßen und fachlich fundierten Stand für den Umgang mit der psychiatrischen „Gewaltfrage”.

Literatur

  • 1 Angermeyer M, Schulze B. Psychisch Kranke - eine Gefahr?.  Psychiat Prax. 1998;  25 211-220
  • 2 Swanson J W, Swartz M S, Borum R. et al . Involuntary out-patient commitment and reduction of violent behaviour uin persons with severe mental illness.  Br J Psychiatry. 2000;  176 324-331
  • 3 Bonta J, Law M, Hanson K. The prediction of criminal and violent recidivism among mentally disordered offenders: a meta-analysis.  Psychol Bull. 1998;  123 123-142
  • 4 Böker W, Häfner H. Gewalttaten Geistesgestörter. Eine psychiatrisch-epidemiologische Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin; 1973
  • 5 Haller R, Kemmler G, Kocsis E. et al . Schizophrenie und Gewalttätigkeit. Ergebnisse einer Gesamterhebung in einem österreichischen Bundesland.  Nervenarzt. 2001;  72 859-866
  • 6 Walsh E, Gilvarry C, Samele C. et al . Reducing violence in severe mental illness: randomised controlled trial of intensive case management compared with standard care.  BMJ. 2001;  323 1093-1098
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